Herzerkrankungen sind die häufigste Todesursache bei Frauen. Wenn aber medizinische Forschung nur mit männlichen Probanden stattfindet, müssen Frauen alarmiert sein. Denn die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind zu groß, um sie einfach zu übertragen. Die Folge sind falsche Therapien, ratlose Ärzte und frustrierte Patientinnen. Die renommierte Medizinerin Angela Maas klärt über die Besonderheiten des weiblichen Körpers auf, spricht über Risikofaktoren wie Menopause und Brustkrebs – und sie weiß, was Frauen tun können, um ihre Gesundheit zu erhalten.
Prof. Dr. Angela Maas ist international anerkannte Expertin für weibliche Kardiologie, Autorin zahlreicher Bücher und sie leitet ein Zentrum für mikrovaskuläre Koronarerkrankungen speziell für Frauen mit Patientinnen aus aller Welt. Ihr Ziel ist es, geschlechtergerechte Medizin in der Praxis zu verankern und Frauen – Patientinnen und Ärztinnen – durch dieses Wissen zu empowern.
Prof. Dr. Angela Maas
DAS
WEIBLICHE
HERZ
Wie Frauenherzen schlagen
und was sie gesund hält
Übersetzung aus dem Niederländischen von
Simone Schroth
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2019 by Angela Maas
Original title Hart voor vrouwen
First published in 2019 by De Arbeiderspers, Amsterdam
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Anita Krätzer, Hamburg
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Einband-/Umschlagmotiv: © adehoidar /shutterstock.com
Illustrationen im Innenteil: Gijs Klunder
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-9832-8
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Ein Frauenherz ist im Verhältnis zum Männerherz oft etwas kleiner.
Aletta H. Jacobs (De vrouw. Haar bouw en haar inwendige organen, 1899)
Während meiner Ausbildung zur Kardiologin lernte ich Mitte der Achtzigerjahre, dass weibliche Herzpatienten unbequeme Zeitgenossinnen sind. Sie haben seltsame Beschwerden, Belastungs-EKGs zeigen merkwürdige Ergebnisse, und bei Herzkatheteruntersuchungen kann man oft nichts feststellen. Also viel Gekreisch um nichts. Ich behielt die Sache im Auge, und das erst recht, seit die Nachbarin meiner Eltern mit 59 Jahren einen Herzinfarkt erlitten hatte. Sie war starke Raucherin und musste eine Ballondilatation vornehmen lassen.
Immer häufiger sah ich Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Herzpatienten, doch wir suchten die Ursache dieses Phänomens vor allem in der Psyche. Wenn Frauen mit den geltenden männlichen Maßstäben nicht zu messen waren, mussten sie eben einen Psychiater aufsuchen.
Glücklicherweise hat sich inzwischen viel verändert. Die vergangenen 30 Jahre haben uns einen wahren Schatz an Informationen über weibliche Herzpatienten beschert. Es gibt wichtige Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der Arterienverkalkung und der Alterung des Herzmuskels. Je genauer man hinschaut, desto mehr Unterschiede werden erkennbar. Als Konsequenz ist ein anderer Ansatz bei der Diagnose und der Behandlung notwendig.
Auch Frauen untereinander unterscheiden sich; die eine ist einem höheren Risiko ausgesetzt als die andere. Wir können diese Differenzierung immer besser und genauer vornehmen. Beispielsweise wissen wir inzwischen, dass ein hoher Blutdruck während der Schwangerschaft einen Risikofaktor für spätere Herz-Kreislauf-Erkrankungen darstellt. Viele Beschwerden, die wir früher als atypisch eingeordnet haben, haben sich für bestimmte Herzprobleme als gerade typisch erwiesen. Wir sind mit Riesenschritten vorangekommen, aber am Ziel sind wir noch nicht.
In der täglichen Praxis finden die neu erworbenen Erkenntnisse noch nicht ausreichend Anwendung. Das löst bei den betroffenen Frauen große Frustration aus und kann zu einer falschen Therapie und zur Geldverschwendung führen.
Glücklicherweise sind Patientinnen heute viel mündiger als früher. Sie fordern klare Antworten auf ihre Fragen und lassen sich nicht mehr einfach abspeisen. Weibliche Herzpatienten sind zu gut informierten Gesprächspartnerinnen geworden.
In diesem Buch habe ich versucht, in einer allgemein verständlichen Sprache und mit vielen Beispielen aus der täglichen Praxis zu erklären, wo wir mit unserer heutigen Kenntnis des weiblichen Herzens stehen. Damit hoffe ich, einen sinnvollen Beitrag zur Herzensangelegenheit meiner beruflichen Laufbahn geliefert zu haben: zu einer besseren kardiologischen Versorgung von Frauen.
Vor beinahe 250 Jahren beschrieb ein englischer Internist namens William Heberden zum ersten Mal Beschwerden im Zusammenhang mit Schmerzen in der Brust. Er bezeichnete sie als »Angina Pectoris« [1] und stellte fest, dass diese Beschwerden vor allem bei Männern über 50 auftraten. Das stimmte auch, denn im 18. Jahrhundert wurden die meisten Frauen nicht älter als 40: Sie starben oft jung im Wochenbett, lange bevor sie Krankheiten an den Herzkranzgefäßen aufweisen konnten.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Kardiologie vor allem für und durch Männer zu einem eigenständigen Spezialgebiet entwickelt. In vielen Studien wurde die Teilnahme von Frauen als nicht relevant betrachtet, und an diesem Standpunkt hielt man bis zum Beginn dieses Jahrhunderts fest. [2] Die Gesundheitsfürsorge für Frauen konzentrierte sich lange Zeit auf den bikini approach: Die Aufmerksamkeit galt vornehmlich Krankheiten der weiblichen Brust und der Fortpflanzungsorgane.
Gleichzeitig kam aber auch der Frau eine wichtige Bedeutung zu, und zwar als Lebensgefährtin und Pflegerin männlicher Patienten. Im Jahr 1960 organisierte man im amerikanischen Portland eine Konferenz, in deren Rahmen Frauen den optimalen Umgang mit dem Herzinfarkt ihres Mannes erlernen konnten. Manchmal warf ein solches Ereignis die Frauen emotional aus der Bahn, obwohl ihre psychische Unterstützung für die Genesung ihrer Ehepartner doch gerade wichtig war. Die Vorstellung, Frauen trügen eine Mitschuld an den Herzinfarkten ihrer Männer, hielt sich bis weit in die Siebzigerjahre. Für Frauen gab es damals Kurse, in denen sie lernten, so gesund wie möglich zu kochen und ihre Männer nicht übermäßig mit Tätigkeiten im Haushalt zu belasten. Männer hatten schließlich bereits im Beruf viel Stress und trugen eine große Verantwortung. In verschiedenen Fachzeitschriften wie dem führenden British Medical Journal wurde die Frage aufgeworfen, ob Frauen möglicherweise zu viel von ihren Männern gefordert hatten und der Herzinfarkt eine Folge davon war. [3]
Auch die Niederländische Herzstiftung stellte in einer Kampagne von 1975 die Frau in den Mittelpunkt: nicht als Patientin, sondern als Pflegerin ihres Mannes und als diejenige, die zu Hause dafür zuständig war, dass gesund eingekauft und verantwortungsbewusst gekocht wurde. Dass Frauen selbst einen Herzinfarkt erleiden konnten, war damals noch kein Thema. Man ging allgemein davon aus, Frauen würden durch ihre Östrogene vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt werden. Damit ist die Kombination von Erkrankungen der Herzkranzgefäße, Schlaganfällen und Herzversagen gemeint. Daraus schloss man, dass Östrogene womöglich auch Männer, die einen Herzinfarkt erlitten hatten, vor neuen Herzproblemen schützen könnten. So entstand das Coronary Drug Project: eine Studie mit mehr als 8.000 Männern, die nach einem Herzinfarkt entweder Östrogene oder ein Placebo (Tabletten ohne Wirkstoffe) erhielten. [4] Diese Untersuchung stellte man allerdings nach anderthalb Jahren vorzeitig ein, da die Sterblichkeit in der Männergruppe, die Östrogene einnahm, höher lag als in der Placebogruppe. Es hatte sich also herausgestellt, dass sich Östrogene nicht für die Behandlung von Männern mit Herzbeschwerden eigneten. Zugleich lieferte das Scheitern der Studie ein erstes Anzeichen dafür, dass die Sache mit den Frauen und den Östrogenen möglicherweise komplexer war als bisher angenommen.
Erst im Jahr 1991 wurden Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen zum Gegenstand medizinischen Interesses. Im renommierten New England Journal of Medicine erschienen mehrere Artikel, die die These vertraten, Frauen mit Herzbeschwerden würden weniger gut untersucht und behandelt als Männer. [5, 6] Die damalige Direktorin der amerikanischen National Institutes of Health, Bernadine Healy, regte daraufhin an, Frauen sollten lieber wie Männer auftreten, damit man sie ernst nehme. Sie bezeichnete das als »Yentl-Syndrom«, eine Anspielung auf eine Geschichte von Isaac Bashevis Singer [7], in der sich eine junge Jüdin als Mann verkleidet, um die Talmudschule besuchen zu können. Healy gehörte zu den Pionieren bei der Untersuchung der wichtigsten Ursachen von Krankheit und Sterblichkeit von Frauen nach den Wechseljahren, die im Rahmen der Women’s Health Initiative stattfand. Sie umfasste groß angelegte Untersuchungen zu Osteoporose (Knochenschwund), Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verschiedenen Krebsformen wie Brustkrebs bei Frauen.
1996 begann die Women’s Ischemic Syndrome Evaluation-Studie, durch die wir viel über die Mechanismen von Herzbeschwerden bei Frauen mittleren Alters gelernt haben. [8] Diese zu Beginn der Neunzigerjahre durchgeführten Untersuchungen führten zu einer höheren Beteiligung von Frauen an Studien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wenngleich die Aufmerksamkeit nach einiger Zeit wieder nachließ. [2] Offensichtlich ist es notwendig, Herz- und Gefäßkrankheiten bei Frauen immer wieder die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Im Jahr 1991 erschien auch das erste Buch über Herzkrankheiten bei Frauen, verfasst von der Internistin und Kardiologin Marianne Legato, der amerikanischen Begründerin der genderspezifischen Medizin. [9] Mit ihrer Publikation wollte Legato endgültig die falsche Wahrnehmung entkräften, Herz-Kreislauf-Erkrankungen beträfen nur Männer, und Frauen mit entsprechenden Beschwerden seien »hysterisch«. Schon damals ließ sich deutlich erkennen, dass Frauen im Durchschnitt später im Leben als Männer einen Herzinfarkt erleiden, die Sterblichkeit bei ihnen jedoch höher ist. Hier war Marianne Legato ihrer Zeit weit voraus.
Einige weitere große amerikanische Pionierinnen, die für die Frauenkardiologie viel geleistet haben, sind Professor Nanette Wenger (Emory University, Atlanta) und Professor C. Noel Bairey Merz (Direktorin des Barbra Streisand Women’s Heart Center, Los Angeles). Beide hatten großen Einfluss auf die Durchführung wichtiger Untersuchungsprojekte und die Entwicklung von Richtlinien in der kardiologischen Behandlung von Frauen. Herz- und Gefäßkrankheiten wurden zunächst als »Männerproblem« angesehen, doch seit Beginn dieses Jahrhunderts stehen sie auf dem ersten Platz in der weltweiten Rangliste der Todesursachen bei Frauen.
Als man sich im Jahr 1991 für das weibliche Herz zu interessieren begann, war ich seit drei Jahren Kardiologin und bekam immer größere Schwierigkeiten mit weiblichen Patienten, die wissen wollten, was ihnen fehlte und warum ich ihre Fragen nicht beantworten konnte. Ich kannte die Antworten einfach nicht. Während der Ausbildung hatte ich gelernt, dass herzkranke Frauen unter seltsamen Beschwerden litten und dass die Ergebnisse ihrer Elektrokardiogramme (EKGs), Belastungs-EKGs und Herzkatheteruntersuchungen nicht stimmten. Für die damalige Zeit lässt sich das noch verstehen, aber es ist nicht akzeptabel, dass dies immer noch der Fall ist: Wir verwenden weiterhin standardmäßig die männliche Messlatte für Frauen, doch Frauen sind keine kleinen Männer. Die vergangenen Jahrzehnte haben uns gelehrt, dass die Muster der Arterienverkalkung und der Alterung des Herzmuskels bei Männern und Frauen jeweils andere sind. Darum müssen wir für eine korrekte Diagnose unterschiedliche Herangehensweisen wählen und auch bei der Behandlung entsprechende Entscheidungen treffen. Ich bin im Jahr 1991 gewissermaßen auf diesen fahrenden Zug aufgesprungen, der uns zu einer besseren kardiologischen Versorgung von Frauen bringen soll, und seitdem hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen.
In der Medizin verstehen wir unter Geschlechtsunterschieden die rein biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die die Folge unterschiedlicher, genetisch bedingter Geschlechtshormone sind und bei vielen Krankheiten zu Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Betroffenen führen. Auf dem Gebiet der Herz-Kreislauf-Erkrankungen zeigt sich dies unter anderem in den sich unterscheidenden Mustern des Alterungsprozesses des Herzmuskels und der (Herzkranz-)Gefäße von Männern und Frauen. [10, 11] Beim Begriff »Gender« hingegen geht es um das Verhalten des Individuums in seiner oder ihrer Umgebung, was ihm einen persönlicheren und stärker soziokulturell bestimmten Charakter verleiht. [12] Geschlecht bezeichnet also vor allem biologische Unterschiede und Gender Unterschiede im Verhalten. Außerdem erhält der Begriff der Geschlechterrolle immer größere Aufmerksamkeit. Dabei liegt die Betonung auf der Dominanz der weiblichen oder männlichen Charaktereigenschaften einer Person. So wissen wir, dass Patienten (männliche und weibliche), die in jungen Jahren (unter 55) einen Herzinfarkt erlitten haben, einem größeren Risiko ausgesetzt sind, einen zweiten Infarkt zu bekommen, wenn sie Eigenschaften aufweisen, die häufiger bei Frauen auftreten, beispielsweise eine Neigung zu Angst und Unruhe. [13]
Die Begriffe »Geschlecht« und »Gender« sind manchmal schwer voneinander zu trennen, werden häufig zu Unrecht synonym verwendet und verändern sich im Laufe der Zeit im Verhältnis zu den Lebensphasen, der Ausbildung, den persönlichen Beziehungen und der Umgebung. Beispielsweise sehen wir, dass die globale Verstädterung in den vergangenen Jahrzehnten Auswirkungen auf unser genetisches Material und auf unser Verhalten hat. Mehr Stress, mehr Lärm, mehr Luftverschmutzung, ein anstrengendes Leben mit mehr Multitasking usw. – all das führt mit den Jahren in der Bevölkerung zu einem höheren Risiko, Herz- und Gefäßkrankheiten zu entwickeln. Die explosive Ausbreitung der sozialen Medien hat dies noch verstärkt. Die Folgen zeigen sich in einer Verschlechterung unseres Lebensstils und in einer Zunahme der Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen: zum Beispiel Übergewicht, wenig Bewegung und ein zu hoher Blutdruck. Die steigende Stressbelastung führt bei Frauen immer häufiger zu einem anderen Typ des Herzinfarkts, als wir ihn von früher kennen (siehe Kapitel 7). Armut und sozialökonmomischer Status sind ebenfalls sehr bedeutsam für den Gesundheitszustand und für auftretende Krankheiten. [14] Aus diesem Grund ist wirtschaftliche Selbstständigkeit gerade auch für Frauen eine wichtige Voraussetzung für ein möglichst gesundes Älterwerden.
In den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts stellten Infektionskrankheiten weltweit die häufigste Todesursache dar. Heutzutage nehmen hoher Blutdruck, Herzinfarkte und Schlaganfälle den ersten Platz ein. Indem wir in unserem Gesundheitssystem Geschlechts- und Gender-Unterschiede stärker beachten, können wir uns zielgerichteter auf den einzelnen Menschen mit seinen Gesundheitsproblemen konzentrieren. Die Gefahr der heutigen medizinischen Ausrichtung liegt darin, dass wir die Menschen zu stark als einheitliche Masse betrachten und in einem Übermaß an protokollierender Medizin versanden, die häufig zur Geldverschwendung führt und außerdem inadäquat und überflüssig ist. Patienten (seien sie männlich oder weiblich) finden sich darin dementsprechend auch nicht wieder. Ein Gesundheitswesen, in dem der Gender-Aspekt Berücksichtigung findet, kann die Kardiologie erheblich zielgerichteter und kostengünstiger machen.
2009 startete Professor Londa Schiebinger, Dozentin für Wissenschaftsgeschichte an der Stanford University, die Plattform »Gendered Innovations«. [15] Damit wollte sie eine weltweite Bewegung begründen, über die das Thema »Geschlecht und Gender« in alle Bereiche der Wissenschaft und Technik integriert werden sollte, um auf diese Weise sowohl für Männer als auch für Frauen eine höhere Lebensqualität zu erreichen. – Eine neue Denkweise, damit Wissen und Innovation so adäquat wie möglich entwickelt und ein fester Bestandteil von Wissenschaft und Gesellschaft werden konnten. Im Bereich der Medizin hob sie die Kardiologie als aussagekräftiges Beispiel dafür heraus, dass Geschlechts- und Gender-Unterschieden eine wesentliche Bedeutung zukommt. [16]
2013 widmete sich die Europäische Kommission dem Thema »gendered innovations«: in einem Bericht, der einen Leitfaden für die Berücksichtigung von Geschlechts- und Gender-Aspekten in allen wissenschaftlichen Forschungsgebieten vorsieht, finanziert durch die EU. Im Rahmen mehrerer internationaler Projekte habe ich in den vergangenen Jahren an der Entwicklung umfassenderer Kenntnisse über das weibliche Herz mitgearbeitet. Auf nationaler Ebene hat die Frauenorganisation WomenInc zusammen mit der multidisziplinären Arbeitsgruppe »Alliantie Gender & Gezondheid« 2015 eine Kenntnisagenda zu den Lücken in der Versorgung von Frauen verfasst. Als Folge davon wurden vom Niederländischen Ministerium für Volksgesundheit zusätzliche Forschungsgelder zur Verfügung gestellt, wobei der eindeutige Schwerpunkt bei den Herz- und Gefäßkrankheiten von Frauen lag. Dabei handelt es sich nicht um eine positive Diskriminierung, sondern um eine Aufholmaßnahme angesichts der bisher zurückgebliebenen Kenntnis über weibliche Herzpatienten. [17]
Männer und Frauen unterscheiden sich nicht nur biologisch, sondern auch darin, wie sie Gesundheit und bestimmte Krankheitsrisiken wahrnehmen. In unserer Gesellschaft wird es immer wichtiger, Unterschiede in Bezug auf ethnische Herkunft und Kultur zu berücksichtigen. Beispielsweise leiden Menschen mit dunkler Hautfarbe häufiger und bereits in jüngerem Alter an einem hohen Blutdruck und reagieren anders auf verschiedene Arten von blutdrucksenkenden Medikamenten. Auch das Geschlecht des ärztlichen Fachpersonals beeinflusst die Art und Weise, wie Ratsuchende behandelt werden. [18] Untersuchungen von Patienten mit Herzinsuffizienz haben ergeben, dass sich weibliche Ärzte genauer an die geltenden Richtlinien halten als männliche. [19] Vor Kurzem erhobene Daten aus Florida zeigen, dass Frauen mit einem Herzinfarkt weniger Komplikationen erleiden und eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben, wenn sie von einer Ärztin statt von einem Arzt behandelt werden. [20]
Empathie und Tatkraft sind wichtig, doch diese Eigenschaften sind auch bei Ärztinnen nicht immer selbstverständlich. Das kann von der Person sowie von ihrer jeweiligen Stimmung und Arbeitsbelastung abhängen und von Tag zu Tag variieren. In medizinischen Fachbereichen, die noch stark von Männern dominiert werden, zum Beispiel in der Kardiologie, findet bereits in einer sehr frühen Phase eine Auswahl statt, weil sich bestimmte Ärzte von der dortigen Berufskultur angezogen fühlen. Weibliche Kardiologen interessieren sich nicht automatisch besonders für die Problematik weiblicher Patienten. Auf Kongressen und Symposien, auf denen weibliche Patienten im Mittelpunkt stehen, bilden Ärztinnen, Kardiologinnen und weibliche Pflegekräfte allerdings die überwiegende Mehrheit. Gute Kenntnisse über Kardiologie für Frauen sind aber kein Frauenthema, sondern sollten für alle qualifizierten Kardiologen, Pflegekräfte und Hausärzte wichtig sein – egal ob männlich oder weiblich. [21]
Die Diskussion innerhalb der Kardiologie über Geschlechts- und Gender-Unterschiede hat sich während der vergangenen Jahrzehnte langsam im Ton verändert. Neue bildgebende Verfahren und neue Möglichkeiten bei Herzkatheteruntersuchungen und Computertomografien haben dabei eine große Rolle gespielt. Zu Anfang wurde kritisiert, dass Frauen zu Unrecht diskriminiert werden würden; heute wissen wir, dass wir sogar Unterschiede machen müssen, weil es wichtige und grundlegende Geschlechts- und Gender-Unterschiede gibt. [8, 22] Lange Zeit war immer der männliche Patient die Messlatte, die man an Frauen anlegte. Inzwischen kennt man ein eindeutig weibliches Muster der Adernverkalkung, das man in der Diagnostik und Behandlung beachten muss. Der einfache Zugang zu neuen Erkenntnissen über das Internet macht aktuelles Wissen für alle verfügbar, und die Emanzipation der weiblichen Patienten scheint sich schneller vollzogen zu haben als die der Kardiologen.
Männer berichten, Frauen interpretieren: Kommunikationsstile unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern und bestimmen in hohem Maße, wie Ärzte die Beschwerden von Patienten beurteilen. Vor allem für Frauen ist das ein Nachteil, denn sie wenden mehr Zeit für die Erläuterung ihrer Beschwerden auf. Dabei neigen sie dazu, verschiedene Ereignisse detaillierter zu beschreiben, und färben das Gesagte mit mehr Emotionen. Dadurch riskieren sie, dass der Arzt abgelenkt wird, weil Mediziner lernen, nach harten Fakten zu suchen, um die richtige Diagnose zu stellen. Wenn die Beschwerden dann nicht richtig in das erlernte Muster passen, entstehen rasch Missverständnisse, und ernste Symptome können als Jammern oder Anstellerei abgetan werden. In ihrem Buch Hartschade (»Herzschäden«) beschreibt Hella de Jonge dies meisterhaft. [23]
Frauen führen Ärzte manchmal auch in die Irre, indem sie Beschwerden selbst interpretieren und Zusammenhänge herstellen, die es überhaupt nicht gibt. Häufig genannte Themen wie Stress und Hektik stellen zu einfache Erklärungen für schwierig zu interpretierende Herzbeschwerden dar. Gleichzeitig bergen in unserer Gesellschaft stressbedingte Beschwerden durchaus ein wachsendes Herz-Kreislauf-Risiko. Informationen über diese möglichen Fallstricke in der Diagnostik muss jeder Arzt über gute (Pflicht-)Ausbildungsmodule in der Frauenkardiologie erhalten. Und Frauen tun gut daran, ihre Beschwerden im Sprechzimmer so sachlich wie möglich darzustellen, denn dann wird man ihnen auch aufmerksamer zuhören. Frauen mit nicht gut analysierten Herzbeschwerden fühlen sich von Ärzten häufig belächelt. Ein solches Verhalten sagt allerdings mehr über die Einstellung des Arztes aus als über die Besucherinnen seiner Sprechstunde. Seit ich mich ausschließlich mit weiblichen Herzpatienten befasse, also seit dem Jahr 2003, habe ich viele schreckliche Beispiele dafür gesehen, dass Frauen jahrelang von Pontius zu Pilatus geschickt und manchmal sogar ausgelacht wurden, weil Kardiologen ihre Beschwerden nicht einordnen konnten. Das fällt unter schlechte Behandlung und ist nicht akzeptabel.
Die 51-jährige Marieke leidet schon seit sechs Jahren unter Beschwerden wie Müdigkeit, Energielosigkeit, Schlafproblemen, Schwindel, Kopfschmerzen, der Neigung zu schwitzen, Schmerzen, die in den Kiefer und zwischen die Schulterblätter ausstrahlen, sowie Atemnot bei der geringsten Anstrengung. Sie findet Staubsaugen mühsam und kann ohne Unterstützung nicht mehr Fahrrad fahren. Als junges Mädchen hatte sie häufig Migräne, was sich inzwischen gebessert hat. Ihre Schwangerschaften verliefen nicht einfach; zweimal hatte sie eine Schwangerschaftsvergiftung und dazwischen drei spontane Fehlgeburten. Sie trägt eine Mirena-Spirale und hat keine Regelblutungen mehr.
Die Situation in der Familie: Der Vater musste sich mit 56 einer Ballondilatation unterziehen, Mutter und Schwester leiden unter sehr hohem Blutdruck.
Marieke hat inzwischen zwei Kardiologen und einen Lungenfacharzt aufgesucht. Sie hat mehrere Belastungs-EKGs, eine Herzkatheteruntersuchung und verschiedene Tests beim Lungenfacharzt hinter sich. Die sind ohne Ergebnis geblieben, auch wenn sich in ihrem EKG Auffälligkeiten zeigten. Weil sie ihrer Arbeit nicht mehr gewachsen war, wurde Marieke wegen Burn-out krankgeschrieben. Ihr Hausarzt sieht die Ursache vor allem in den Wechseljahren; er hält Mariekes Probleme für psychisch.
Bei unserer ersten Begegnung in der Sprechstunde erschrecke ich über Mariekes Blutdruck: 165/100 mmHg, und das bei mehreren Messungen. Viel höher als ein normaler Blutdruck, der bei 125/80 liegt. Sie selbst betrachtet Stress als die Ursache, wegen all der Aufregungen in den vergangenen Jahren. Ich bin anderer Ansicht, und nach einer Beratung entscheiden wir uns für eine Behandlung ihrer Blutdruckprobleme mit zwei verschiedenen Arten von Arzneimitteln: einem niedrig dosierten Betablocker zur Senkung des Blutdrucks und Verlangsamung des Pulsschlags und einem Angiotensin-II-Antagonisten, der über die Nieren seine Wirkung entfaltet. Es dauert einige Monate, aber dann stellen wir fest, dass die Beschwerden mit dem Sinken des Blutdrucks langsam verschwinden und Mariekes Lebensenergie zurückkehrt. Manchmal kann es so einfach sein!