für Patrizia

 

Das Buch ist erstmals
2001 im Eichborn Verlag erschienen.

 

Neuauflage 2021

© 2021 Nagel & Kimche
in der MG Medien Verlags GmbH, Zürich · München
Herstellung: JournalMedia GmbH, München
ISBN 978-3-312-01202-2
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Nagel & Kimche E-Book

Wilfried Meichtry

Du und ich –
ewig eins


Das Schicksal der
Geschwister von Werra

 

VORWORT
ZUR NEUAUFLAGE


Vielleicht ist Karl May schuld. Als Schüler habe ich meine Nase sehr tief in seine abenteuerlichen Schmöker gesteckt. Seite an Seite bin ich mit Winnetou und Old Shatterhand durch den Wilden Westen geritten und war beeindruckt von ihrem selbstlosen Kampf für das Gute auf dieser Welt. Abenteuerbücher und Heldengeschichten waren der Lesestoff meiner Kindheit und Jugend. Schade war nur, dass mein wirkliches Leben zwischen Familie, Schulhaus, Kirche und Fussballplatz auf keine Art und Weise mit meinem abenteuerlichen Lesestoff mithalten konnte. Früh schon war mir deshalb klar: Ich musste mein Leben so einrichten, dass mir möglichst viel Zeit zum Lesen blieb.

Als ich zum ersten Mal von Franz von Werra hörte, keimte neue Hoffnung auf. Obwohl er wie ich aus dem verschlafenen Walliser Städtchen Leuk stammte, hatte der jüngste Spross einer alten Walliser Adelsfamilie ein überaus abenteuerliches Leben geführt. Ein tollkühner Flieger sei er gewesen, erzählten die älteren Leute und verwiesen mich auf den Spielfilm »Einer kam durch«, der die verwegene Fluchtgeschichte Franz von Werras erzählte. Als ich den Film, in dem der junge deutsche Schauspieler Hardy Krüger den Jagdflieger Franz von Werra verkörpert, zum ersten Mal sah, war ich so begeistert, dass ich mehr über diesen Abenteurer wissen musste. Leider aber kam ich nicht sehr weit. Die Geschichte sei sehr heikel, munkelte man in Leuk. Franz von Werra sei zusammen mit seiner Schwester Emma als kleines Kind nach Deutschland verkauft worden und später ein Star in Hitlers Luftwaffe geworden.

Franz von Werra rückte von Neuem in mein Bewusstsein, als ich viele Jahre später seine achtzigjährige Schwester Emma persönlich kennenlernte. Noch einmal sah ich mir deshalb »Einer kam durch« an und war erstaunt zu sehen, dass der englische Spielfilm sehr unpolitisch war und die Geschichte eines Mannes auf der Flucht erzählte. Als mir Emma von Werra bald darauf Bruchstücke aus dem Leben ihres Bruders erzählte, begann eine langjährige und abenteuerliche Recherche, die mich vom Wallis nach Deutschland und über England in die USA und nach Kanada führte. Ich stöberte in Archiven, interviewte Familienmitglieder, Jugendfreunde und Jagdfliegerkameraden und tauchte immer tiefer in eine längst versunkene Welt ein, die ich Stück um Stück zu rekonstruieren hoffte.

Auf dieser Reise verlagerte sich mein Interesse von der Heldensaga des »Escape Artist« Franz von Werra immer mehr auf die bewegende und bislang unbekannte Beziehungsgeschichte der Geschwister. Das stille und schwierige Leben der Emma von Werra, die ein Leben lang im Schatten ihres berühmten Bruders stand, wühlte mich auf und ließ mich an einen Satz von Philip Roth denken: »Geschichte«, sagte der große amerikanische Romancier einst in einem Interview, »stürzt zu einem ins Wohnzimmer wie ein verrücktes Pferd. Man ist vollkommen hilflos.«

Burgdorf & Leuk, Januar 2021

Wilfried Meichtry

 

Dieses Buch ist kein Roman.
Die hier erzählte Geschichte beruht auf verbürgten
Ereignissen. Alle Personen sind belegt,
ihre Namen sind unverändert, und bei den Text- und Bild-
dokumenten handelt es sich fast ausschließlich
um bislang unveröffentlichte Originale.

Der Erzähler dieser Geschichte ist kein klassischer Erzähler.
Sein einziges Bemühen ist die möglichst
originalgetreue Abbildung einer vergangenen Welt.
In diesem Sinne ist er jeder Fiktion geradezu spinnefeind.

Der wirkliche Phantast dieser Geschichte
ist die Realität.

 

Prolog

Mit zwölf Jahren kam ich ins Altersheim.

»Der Bub kriegt zweihundert Franken und freies Essen«, sagte der Heimleiter zu meinem Vater, und als die beiden Männer ihre Abmachung mit einem Handschlag bekräftigten, wusste ich, dass man mir in der Schule schon bald »Stallbub« nachrufen würde. Das Schlimmste war die Mittagszeit, die ich mit über fünfzig alten und gebrechlichen Menschen in diesem großen und immer leicht muffelnden Speisesaal verbringen musste. Ich weiß nicht, wie ich den Sommer auf dem Gutsbetrieb des Altersheims überstanden hätte, wenn nicht eines Tages Gentinetta mein Tischnachbar geworden wäre. Der alte Mann erinnerte sich an meinen Großvater, den ich kaum und er sehr gut gekannt hatte, und erzählte von früher. Für die Leute im Dorf war Gentinetta ein komischer Kauz. Immer trug er irgendwelche Bücher mit sich herum und sprach davon, Leuk, das Wallis und die Schweiz eines Tages für immer zu verlassen. Für mich stellte der alte Mann die Rettung dar. Mit seinen Geschichten eröffnete er mir jeden Mittag neue Welten, die zu meiner Zuflucht wurden, wenn meine Tollpatschigkeit den Stallmeister zur Weißglut trieb oder ich ganze Nachmittage auf den endlos weiten Kartoffel- oder Maisfeldern von der Sonne geröstet wurde.

Bei einem dieser Mittagessen fragte Gentinetta, ob ich wisse, dass das Altersheim früher das Schloss eines Barons war. Ich hatte keine Ahnung und glaubte ihm erst, als er mir das auf dem Eingangsportal eingeschnitzte Familienwappen mit den schwerttragenden Adlern zeigte und erzählte, dass die Kapelle einst der Ballsaal des Schlosses war und der Baron hier rauschende Feste gab. Als er mich auch noch zu einem großen steinernen Löwen führte, der früher im Schlosshof gestanden hatte und nun unter einer dicken Staubschicht verborgen in einer dunklen Ecke des Kellers lag, war ich sehr beeindruckt. Wie mochte es wohl gewesen sein, damals, als in diesem Haus noch vornehme Herrschaften ein- und ausgingen? Gentinetta begann zu erzählen: Der letzte Schlossherr, der mit seiner Familie hier residierte, war Baron Leo von Werra, der im Jahre 1912 auf einen Schlag seinen gesamten Besitz verlor. Um wieder zu Geld zu kommen, tat dieser Baron dann etwas sehr Schlimmes: Er verkaufte seine beiden jüngsten Kinder, Emma und Franz, für dreißigtausend Franken nach Deutschland!

Ich war entsetzt. Ein Vater, der seine eigenen Kinder verkauft! Das war schrecklich. Ich hatte nicht gewusst, dass es Väter gab, die ihren Kindern so etwas antun konnten. Emma und Franz taten mir leid. Ich wollte mehr über sie wissen. Gentinetta erinnerte sich nur, dass Franz von Werra im Zweiten Weltkrieg ein berühmter Flieger wurde. Als ich ihn nach dem verkauften Mädchen fragte, erzählte er, Emma von Werra habe Deutschland nach ihrer Pensionierung verlassen und wohne seither in Leuk. Offenbar war sie vor einigen Jahren – kurz nach ihrer Rückkehr in die Schweiz – oft ins Altersheim gekommen und hatte ganze Nachmittage in Gedanken versunken im Garten gesessen. Als Gentinetta die Frau eines Tages ansprach und nach ihrem Bruder fragte, holte er sich eine unmissverständliche Abfuhr. Damit hatte er gerechnet. Er wusste ja, dass Emma von Werra mit niemandem über ihren Bruder sprach, auch nicht nach dem Film, der ihn berühmt gemacht hatte.

Film? Welcher Film? Ich konnte kaum glauben, was Gentinetta erzählte: Ende der fünfziger Jahre war ein Spielfilm über die Kriegserlebnisse von Franz von Werra ins Kino gekommen, der dazu führte, dass man sich in Leuk wieder an die verkauften Kinder erinnerte. Die Familie von Werra verweigerte damals jede Auskunft und meldete sich selbst dann nicht zu Wort, als immer nur vom deutschen Fliegerass Franz von Werra die Rede war und man mit keinem Wort auf seine Schweizer Herkunft einging. Gentinetta hoffte, dass der Film eines Tages auch nach Leuk komme. Er könne es schon verstehen, räumte der alte Mann ein, dass die Behörden, die sich bislang gegen eine öffentliche Vorführung gestellt hatten, diesem Franz von Werra sehr kritisch gegenüberstanden. Schließlich war es kein Ruhmesblatt für Leuk, dass sein berühmtester Sohn für Hitler in den Krieg gezogen war.

Als der lange Sommer 1977 endlich zu Ende ging, hatte ich nicht nur mein erstes selbstverdientes Geld in der Tasche, sondern auch eine Geschichte im Kopf. Ich wollte wissen, an wen Franz von Werra verkauft worden war,
was er erlebt und ob er seinen Vater gehasst hatte. Ins Altersheim allerdings wollte ich kein zweites Mal; erst recht nicht, als ich erfuhr, dass Gentinetta krank geworden war und sein Zimmer nicht mehr verlassen konnte.

In den folgenden Jahren wurde die Kirche von Leuk renoviert. Das ganze Dorf war auf den Beinen, als die Wiedereinsegnung mit einem dreitägigen Fest begangen wurde. Als besondere Attraktion sollte dabei der Film über Franz von Werra gezeigt werden. Eine halbe Stunde vor Beginn saß ich bereits im alten Speisesaal des Restaurants »Krone«, der notdürftig in einen Kinosaal verwandelt worden war. Plötzlich – der Saal war inzwischen zum Bersten voll – richteten sich die Augen aller auf eine vornehme ältere Frau mit hochgestecktem weißem Haar, die allein den schummrigen Saal betrat und auf einem reservierten Stuhl in der ersten Reihe Platz nahm.

»Das ist die Schwester! Emma von Werra!«, flüsterte neben mir eine Frau.

»Sie ist mit ihrem Bruder nach Deutschland verkauft worden.«

Kurz darauf wurde das Licht ausgemacht, und ein alter Projektor begann zu surren. »Einer kam durch« war mein erstes Kinoerlebnis. Von diesem Tag an gab es für mich nicht mehr nur zwei, sondern drei Helden: Odysseus, Old Shatterhand und Franz von Werra.

Nach der Vorführung wollte ich die alten Leuker, die sitzen geblieben waren und Wein bestellten, nach meinem neuen Helden ausfragen. Leider aber kam ich nicht sehr weit. Die Männer diskutierten heftig. Eine Bassstimme empörte sich darüber, dass dieser Film über einen Leuker, der Nazi geworden sei und im Auftrag von Hitler viele Menschen umgebracht habe, ausgerechnet bei einem Kirchenfest lief. Ihr hielt eine leicht heisere Stimme entgegen, dass man diesen Franz von Werra nicht in einen Topf mit den großen Nazi-Verbrechern werfen dürfe. Ein Held auf der falschen Seite sei er gewesen und hätte gewiss längst ein Denkmal auf dem Leuker Rathausplatz, wenn er als Kind nicht nach Deutschland, sondern nach Frankreich oder England verkauft worden wäre und auf der anderen Seite, der Seite der Alliierten, gekämpft hätte. Irgendwann verließ ich den lärmigen Saal. Ich wollte allein sein mit meinem neuen Helden, allein mit meinem Stolz, dass dieser Franz von Werra, der die Welt gesehen und so viel erlebt hatte, einer von uns gewesen war.

Elf Jahre später war ich Dorfschullehrer in Leuk und sah Emma von Werra oft in den alten, verwinkelten Gassen unseres Städtchens. Dabei erinnerte ich mich jedes Mal an den alten Gentinetta und die Fragen meiner Kindheit. Dass ich schließlich vor ihrer Haustüre stand, hatte einen einfachen Grund: Franz von Werra faszinierte mich immer noch, hatte selbst für den Sechsundzwanzigjährigen, der ich mittlerweile war, noch etwas Heroisches. Der Held meiner Kindertage verkörperte alles das, was ich nicht war. Franz von Werra war der kühne Abenteurer, ich der verbeamtete Dorflehrer; er hatte Leuk schon früh verlassen, ich saß fest in diesem zwischen zwei Bergketten eingeklemmten Ort der Ereignislosigkeit und erzählte meinen Schülern von Dingen, die ich selbst nur aus Büchern kannte. Alles dürfe ich Emma fragen, sagte meine Großmutter, nur nicht, wie sie und ihr Bruder nach Deutschland gekommen waren und zu Hitler gestanden hatten.

Als sich die schwere Eichentür öffnete, stand eine alte, weißhaarige und vornehm gekleidete Frau vor mir. Ich stellte mich vor, sagte, dass ich mich für die Geschichte von Franz von Werra interessiere und spürte, wie mich zwei blaue Augen zu mustern begannen. Eine ganze Weile standen wir da und redeten. Meine Hoffnung, dass Emma von Werra ausgerechnet mir die Lebensgeschichte ihres Bruders erzählen würde, erschien mir plötzlich wahnwitzig und absurd. Ich rechnete damit, wie Gentinetta und viele andere vor mir, abgewiesen zu werden. Um so überraschter war ich, als sie mich in ihre Wohnung bat und in eine kleine Stube mit knarrendem Parkettboden führte.

»Was für ein schöner Zufall«, lächelte sie und deutete auf das Porträt eines jungen Mannes an der Wand, »dass Sie gerade jetzt kommen. Mein Bruder ist mir in diesen Tagen ganz besonders nah, denn in einer Woche jährt sich sein Todestag zum fünfzigsten Mal.«

Die alte Frau bot mir auf einem Sofa Platz an. Ich wurde richtig zittrig vor Neugier. Emma schien meine Ungeduld zu bemerken. Nachdem sie aus einem Nebenzimmer eine alte Ledermappe geholt und auf den Stubentisch gelegt hatte, schmunzelte sie und meinte, sie wolle erst noch Tee kochen. Die Zeit des Wartens verbrachte ich damit, mich in der mit antiken Möbeln ausgestatteten Stube umzusehen. Dabei entdeckte ich auf einer alten Kommode eine Reihe von Fotografien. Eine der Aufnahmen zeigte einen herrschaftlichen Landsitz, der mir sehr bekannt vorkam.

Ich hatte sie oft gesehen, diese trutzigen Türmchen, war einen Sommer lang jeden Mittag durch das schwere Eingangsportal in einen langen düsteren Flur getreten, der zum Speisesaal und zu Gentinetta führte. Wie recht er gehabt hatte, der alte Mann, als er sagte, das Schloss sei durch den Umbau in ein Altersheim völlig verschandelt worden. Ich wollte mich gerade einem anderen Bild zuwenden, da hörte ich, wie Emma die Küche verließ. Mit zwei schnellen Schritten kehrte ich an meinen Platz zurück und sah zu, wie die alte Frau Porzellan in die Stube trug und mit ihren von der Gicht verkrümmten Fingern Tee servierte. Als auch sie sich hingesetzt hatte, begann sie, von ihrem Bruder zu erzählen. Schon als Kind habe Franz davon geträumt, Flieger zu werden, und sei 1935 in die Luftwaffe eingetreten. Im Krieg wurde er dann sehr schnell bekannt, und schon nach dem ersten Kriegswinter konnte man sein Bild in vielen Zeitungen und Magazinen sehen. Ein Fliegerleben, schrieb er seiner Schwester, ist mehr als tausend Leben wert.

Zwei Tage nach unserer ersten Begegnung saß ich ihr wieder gegenüber. Ich hatte Kuchen mitgebracht und viele Fragen. Emma freute sich und zeigte mir weitere Fotos und einen Ordner mit alten Zeitungsartikeln. Ihre Offenheit ermutigte mich zur Frage, wie sie und ihr Bruder nach Deutschland gekommen waren. Die achtzigjährige Frau zuckte zusammen, erschien mir plötzlich blass. Sie stand auf, stützte sich auf einen Stuhl und sagte:

»Reden wir vom Flieger Franz von Werra, und lassen wir sein Privatleben aus dem Spiel.«

»Es würde mich aber sehr interessieren«, hielt ich entgegen, »wie Ihr Bruder als Mensch war, wie er aufwuchs und was er dachte?«

Die alte Frau reagierte gereizt. Sie richtete sich auf, biss sich auf die Unterlippe, sagte dann barsch:

»Das Privatleben meines verstorbenen Bruders geht niemanden etwas an.«

Wir saßen uns schweigend gegenüber, und ich beschloss, sie nach ihrem eigenen Leben in Deutschland zu fragen. Als sie mich mit einem noch viel eindringlicheren Blick ansah, wusste ich, dass ich schon wieder das Falsche gesagt hatte.

»Ich muss Sie bitten, bei Ihren Fragen meine Person vollständig aus dem Spiel zu lassen.«

»Aber warum denn?«

»Weil ich möchte, dass wir von meinem Bruder sprechen und nicht
von mir.«

Ich war sprachlos.

»Mein Leben«, sagte sie schließlich knapp – und half mir damit aus meiner Verlegenheit –, »war ganz einfach nicht interessant genug, um darüber zu reden.«

»Wie Sie meinen«, gab ich mich geschlagen.

In den folgenden Wochen und Monaten besuchte ich Emma von Werra noch einige Male und lernte auch zwei ihrer älteren Geschwister – ihre Schwester Marthe und ihren Bruder Hans – kennen. Ich hielt mich bei unseren Treffen, obwohl es mir schwerfiel, immer streng an die von ihr aufgestellten Regeln und beschränkte mich bei meinen Fragen auf den Erwachsenen Franz von Werra. Daneben begann ich zu dieser Zeit mit eigenen Nachforschungen, über die ich die alte Frau regelmäßig informierte.

Als ich im Walliser Staatsarchiv auf ein Dokument stieß, das belegte, dass die beiden Kinder im Oktober 1915 – Emma war fast vier Jahre, Franz fünfzehn Monate alt – vom deutschen Ehepaar Oswald und Louisa Carl-von Haber adoptiert wurden, wagte ich allerdings nicht, ihr von meinem Fund zu erzählen. Genau so erging es mir, als ich auf einen Artikel stieß, den die Schriftstellerin Corinna Bille im Jahre 1960 geschrieben hatte:

Franz von Werra.

Was für ein Schicksal! Ohne gefragt zu werden, wurde er mit seiner Schwester außer Landes gebracht, wurde in die Fremde verkauft, wie die Leute in Leuk sagen, kam in eine süddeutsche Adelsfamilie nach Beuron und war nicht glücklich bei seinen Adoptiveltern. Im Alter von zehn Jahren riss er von zu Hause aus, schlug sich bis nach Hamburg durch, versteckte sich auf einem Schiff und kam als blinder Passagier bis nach New Orleans. Als Sechsundzwanzigjähriger wird er als Pilot der deutschen Luftwaffe über England abgeschossen, kommt in Kriegsgefangenschaft und versucht drei Mal aus den Gefangenenlagern auszubrechen. Die ersten beiden Versuche in England misslingen. Auf dem Gefangenentransport in ein kanadisches Lager springt er aus einem fahrenden Zug und rettet sich über den St. Lorenzstrom in die damals noch neutralen USA, wo er fürs erste politisches Asyl erhält. Die Porträts aus dieser Zeit zeigen ihn strahlend, verschlagen lächelnd, und man hat den Eindruck, als würde er sich über seine Streiche köstlich amüsieren. Sein Draufgängertum, sein spitzbübischer Humor und sein Abenteuerdrang (die Wirklichkeit genügte ihm nie) machten aus Franz von Werra eine Mischung von Held und Schelm. Selbst die Engländer waren beeindruckt. Sie haben Franz von Werra ein Buch und einen Film gewidmet.

In die Fremde verkauft! Nach Beuron? Ob es doch stimmte? Konnte es sein, dass das deutsche Ehepaar die Kinder offiziell zwar adoptiert, inoffiziell aber dem Baron von Werra abgekauft hatte? Was sollte ich mit der Aussage »Franz war nicht glücklich bei seinen Adoptiveltern« und »riss von zu Hause aus« anfangen? Und was hatte es zu bedeuten, dass Emma sich beharrlich weigerte, mir von seiner Kindheit und Jugend zu erzählen?

Nach zwei Monaten wusste ich alles über Franz von Werras militärische Laufbahn, so gut wie nichts aber über sein Privatleben, seinen Charakter, seine Einstellung zum Nationalsozialismus oder über sein Verhältnis zur Schweiz. Als Emma sich zu wiederholen begann, entschloss ich mich, meine Taktik zu ändern. Ich konnte nicht nur auf Zeit spielen und geduldig warten, bis mir die alte Frau vielleicht eines fernen Tages ihr Vertrauen schenkte. Da ich wusste, dass sie am meisten mit noch unbekannten Details aus dem Leben ihres Bruders zu beeindrucken war, gab ich mir alle Mühe, sie mit neuen Informationen zu versorgen. Als es mir gelang, ehemalige Fliegerkameraden ihres Bruders aufzustöbern, reagierte sie erst etwas verstört und konnte ihre Anspannung nicht verbergen, als ich ihr einige Antwortbriefe vorzulesen begann. In meiner Soldatenzeit habe ich nie mehr solch einen Offizier getroffen, schrieb mir H. W., der ehemalige Bordwart von Franz von Werra, sei es als Vorgesetzter, als Sportler oder als Kamerad. Als ich später von seiner Flucht aus Kanada hörte, dachte ich mir gleich, das bringt nur der fertig. Dass Franz Schweizer war, hab ich allerdings nicht gewusst. Ein anderer, J. M., beschrieb Franz von Werra als vorbildlichen Offizier, der bei der Truppe sehr beliebt war, weil er offen, ehrlich und schlicht in seinem Wesen war. Die Erleichterung stand Emma im Gesicht geschrieben. Einen einzigen Brief erwähnte ich nicht, um sie nicht unnötig aufzuregen. H. E., ein ehemaliger Vorgesetzter, ließ mich wissen, dass dieser von Werra als Offizier viel zu unernst, ja geradezu selbstsüchtig war und vor nichts Respekt hatte. Nicht vorenthalten konnte und wollte ich Emma aber jenen Abschnitt, den ich in den Tagebüchern von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels fand:

7. Mai 1941. Mittwoch.

Abends Luftwaffenbesuch. Oberst Schmidt, Major Schumacher und Hauptmann von Werra, eben frisch von Canada und USA zurückgekehrt. Er erzählt uns bis nachts um 2 Uhr seine abenteuerliche Flucht aus England, Canada und USA. Eine ganz tolle Geschichte, die man nur wiedergeben kann, wenn man ein Buch darüber schreibt. Ein spannender hinreißender Abend. Dieser Junge von 26 Jahren ist ein wahrer Held. Man kann nur Bewunderung für ihn haben.Welche Söhne besitzt heute wieder unser Volk. Sie sind der großen Zeit würdig.

Emma war sichtlich beeindruckt und sagte, dass sich dieser Tagebucheintrag erstaunlich exakt mit den Erzählungen ihres Bruders decke. Kurz nach seiner Rückkehr aus Amerika sei er damals zu Goebbels bestellt worden und habe ihr den Propagandaminister als einen interessanten Gesprächspartner geschildert, mit dem er sich am besten und am persönlichsten von allen hohen Persönlichkeiten des Reiches habe unterhalten können. Da mir der Augenblick günstig schien, entschloss ich mich dazu, die alte Frau nach den Beziehungen ihres Bruders zu Adolf Hitler und Hermann Göring zu fragen. Hitler habe er nur einmal kurz getroffen, antwortete sie. Mit Göring jedoch, dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe, sei er nach seiner gelungenen Flucht oft zusammen gewesen.

Der Feldmarschall sei sehr stolz auf die Leistung seines jungen Fliegers gewesen und habe ihn des Öfteren bei offiziellen Empfängen präsentiert und auch zu Festen in seine Villa eingeladen. Franz habe den »Dicken«, wie Göring unter vorgehaltener Hand genannt worden sei, aber nicht gemocht, sondern für eingebildet und aufgeblasen gehalten, weil ihm nichts wichtiger war, als sich mit Gold, Brillanten und Kunstschätzen zu umgeben. Sie erinnere sich, schloss Emma, dass ihr Bruder immer mit dem »Dicken« habe essen müssen.

Ich hatte auf die richtige Karte gesetzt. Als ich ihr einige Wochen später Fotografien ihres Bruders schenkte, die sie bislang nicht gekannt hatte, freute sie sich wie ein kleines Kind, strahlte und betrachtete jede Aufnahme mit und ohne Vergrößerungsglas. Diese Bilder, sagte sie, seien für sie wie ein Gruß von Franz. Bei meinem nächsten Besuch zeigte mir Emma einen Ordner voller Briefe, die sie und ihr Bruder sich geschrieben hatten. Sie wolle mir einen Brief von Franz vorlesen, sagte sie, der zu den neuen Fotos passe:

Fliegerleutnant!!!

Jesau, 14. November 1938

Geliebtes Schwesterchen!

Stell Dir vor: Ich bin jetzt Leutnant! Wenn ich vorbeikomme, präsentiert der Posten sein Gewehr und die silberne Offizierskordel an der Mütze bewirkt, dass nicht nur alle Soldaten einem stramm grüßen, sondern auch alle Zivilisten im Vorbeigehen schön artig »Heil Hitler« sagen. Meine erste Amtshandlung als frischgebackener Leutnant war, dass ich am Sonnabend zu einem großen Ball nach Königsberg mitgenommen wurde. Frack war für alle vorgeschrieben. Da ich selbst noch keinen Uniformfrack habe, wurde er mir von einem Kameraden geliehen und mit dem Kommandeur und dessen Gattin fuhr ich im Wagen hin. Es war mein erster richtiger Ball, und zum ersten Mal hatte ich einen Frack an. Wenn ich Zeit hatte und wenn gerade niemand hersah, so stellte ich mich vor einen der großen Spiegel im großen Festsaal und bewunderte die ungewohnte Pracht, die mir wirklich dekorativer zu Leibe stand als die schwarze Startmonteurskombination. Ein Fliegeruniformfrack ist wirklich ein Gedicht. Breite silberne Aluminiumbiesen an der Hose, dicke silberne Fangschnüre um die rechte Achsel. Ein Frack ohne Schwalbenschwänze, weiße Weste und Frackhemd mit hohem Kragen und weißer Schleife. Auf der Brust glitzert das Flugzeugführerabzeichen. Der Ball selbst war berauschend schön: Die Damen in Abendkleidern mit Schleppen und gewagtem Dekolletee; ob sie alt oder jung waren, sie waren alle so nett zu mir, als sähen sie mir meine neue Würde an den Augen an. Ich tanzte so viel, dass mir am Morgen die Füße schmerzten und jedes Mal, wenn ein Herr oder eine Dame: »Herr Leutnant« zu mir sagten, wurde ich, glaube ich, rot wie ein Schuljunge, der beim ersten Rauchversuch ertappt wurde.

Zwei Wochen später war Emma von Werra tot. Schlaganfall. Ein schöner Tod, sagten die Leute in Leuk. Ich besuchte die Trauerfeier und mischte mich unter die Gäste, kam dabei mit einem alten Pfarrer ins Gespräch, der mir erzählte, dass er seine Cousine Emma vergeblich darum gebeten habe, ihr Leben aufzuschreiben. Jetzt sei alles zu spät, und mit ihrem Tod sei auch ihre Geschichte für immer verloren. Als ich mich kurz darauf verabschiedete, war der Mann – ich erinnere mich an sein hohlwangiges Gesicht und seine dunklen Augen – immer noch in Gedanken versunken: »Ist es nicht komisch, dieses Leben?«, schüttelte er den Kopf. »Wir haben heute einen Menschen beerdigt, den niemand wirklich gekannt hat.«

Erstes Buch


»Die kleine Emmy begriff sofort,
dass eine sehr vorteilhafte Wendung in ihrem
Leben einzutreten begann.«

Louisa Carl-von Haber (1915)

 

1

Emma war dreieinhalb Jahre alt und Franz zehn Monate, als ihr Vater folgenden Brief an das Oberste Vatikanische Gericht in Rom schrieb:

Leuk, den 15. Mai 1915

Hochwürdigste und Ehrwürdigste geistliche Herren!

Ich sehe mich gezwungen, mit einer Klage vor das höchste Vatikanische Gericht zu treten, weil ich mit meiner Sache vor den Schweizerischen Zivilgerichten kein Gehör finde. Es handelt sich um einen sehr schweren Fall und die hohen Gerichtsherren werden nach dem Studium der eingesandten Akten zur Überzeugung kommen, dass ich und meine Familie Opfer eines perfiden Verbrechens geworden sind.

Was ist geschehen? Vor fünf Jahren wurde ich mit gefälschter Schrift in Konkurs gestürzt, daraufhin total ausgeraubt, aus meinem Schloss vertrieben und schließlich mit Frau und Kindern auf die Straße geworfen. Ein anderer ebenso großer Skandal ist der, dass die angerufenen Gerichte gegen dieses Verbrechen nicht nur nicht eingeschritten sind, sondern sogar noch die Verbrecher geschützt haben. Solche Vorkommnisse sind eine Schande für das Wallis, eine Schande für die Schweiz.

Verhängnisvoll für mich und meine Familie war, dass sich bei diesem schändlichen Überfall so viele angesehene, politische Persönlichkeiten und Gerichtsherren beteiligt haben, die sich mit all ihren Kollega, Freunden und Bekannten wie ein Block gegen mich gestellt haben, als ich mein Recht suchte und die Schuldigen vor Gericht ziehen wollte. Durch die Gerichte aber ging die Parole: Unsere lieben Freunde und Kollega, mögen sie schuldig und strafbar sein oder nicht, wir dürfen sie um keinen Preis fallen lassen. Trotz aller meiner Einsprachen, Beschwerden und Strafklagen waren die angerufenen Gerichte nicht dazu zu bringen, eine richtige Untersuchung zu machen. Sie wollten nicht sehen und sie wollten nicht hören. Das lässt ersehen, in welch furchtbare Korruption, ich sage Korruption, unsere Gerichtsbehörden verfallen sind. Wenn Sie die Akten studieren, werden Sie sehen, hochwürdigste Richter, dass wir im Wallis eine Mafia haben, denn Personen gewisser Kreise dürfen ungestraft tun, wofür andere zur Verantwortung gezogen werden.

Ein offenes Wort sei mir erlaubt. Ich vertraue darauf, dass Sie sich meines Falles annehmen und das Kirchenrecht ohne Rückhalt zur Anwendung kommt, denn dasselbe steht sicher höher als jedes Zivilgericht. Wenn sich die höchste kirchliche Gerichtsbehörde aber weigert auf meine Klage einzutreten, so versündigen sich die angerufenen hohen geistlichen Gerichtsherren schwer, weil sie von der Lehre der Kirche abweichen und einer schwer geprüften Familie nicht Hilfe leisten. Nur der Herr Gott im Himmel weiß, welchen Kummer und welche Leiden dieser Überfall über meine Familie und mich gebracht hat und welche Demütigungen und Erniedrigungen wir über uns ergehen lassen mussten! Und was für eine Zukunft steht meinen Kindern bevor? Bettelkinder, die für ihre Lebenszeit entehrt sind, weil ihr Vater seinen gesamten Besitz verloren hat. Bald sind es fünf Jahre, in denen ich um Recht und Gerechtigkeit gekämpft habe. Längst wohnen andere in unseren Häusern, längst bebauen andere unsere Felder.Wir aber, meine Frau und ich, können unsere Kinder nicht mehr ernähren.

Wollen Sie, hochwürdigste und ehrwürdigste geistliche Herren, die Versicherung meiner größten Hochachtung und vollsten Ergebenheit genehmigen.

Baron Leo von Werra