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Kurzgeschichten

 

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Kuss & Gut

6 Kurzgeschichten

Text Copyright © 2021 Regina Mars

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Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

 

Ramen am Rhein

 

»Das war's«, seufze ich und lasse meine Stirn auf den schmierigen Tresen sinken. Schaler Biergeruch dringt in meine Nasenlöcher. Zuckerkörner und abgebrochene Cocktailschirmchen drücken sich in meine Haut. Dieser Tresen ist wirklich äußerst schmierig. »Ich hab's schon wieder verbockt. Und er war … Er ist so ein Traumtyp! Hast du ihn gesehen?«

»Ließ sich nicht vermeiden«, brummt Kyo, der Besitzer des schmierigen Tresens. Sonnenstrahlen dringen durch die Fenster der Bar und bringen seine tiefschwarzen Haare zum Aufleuchten. Ich suche in seinem Gesicht nach Mitleid. Vergebens. »Was beschwerst du dich? Er ist doch mit dir nach Hause gekommen, wenn ich recht gesehen habe.«

»Ja, schon. Er meinte sogar, ich wäre ganz nett.« Ich räuspere mich. Zucker bröckelt von meiner Wange. »Aber es gibt ein Problem. Ich … Sag mal, hast du einen Lappen? Das ist ja ekelhaft.«

Kyo verdreht die Augen und wirft mir einen feuchten Aufnehmer hin. Mit aller Kraft schrubbe ich den Tresen, während ich überlege, ob ich die Geschichte irgendwie so drehen kann, dass ich nicht wie ein totaler Volltrottel dastehe. Kann ich nicht.

Zögernd sehe ich zu Kyo auf, der soeben ein frisches Fass an den Zapfhahn anschließt. Wir sind allein in seiner Bar. Er macht erst in einer Stunde auf und die Stühle liegen noch umgedreht auf den Bambustischen. Die gigantischen Voodoostatuen könnte er auch mal wieder abstauben. Scheint aber nicht so wichtig zu sein. »Kyos Tikitempel« ist jedes Wochenende voll, was nicht zuletzt an Kyo selbst liegt. Unauffällig beobachte ich seine freien Arme. Tattoos schlängeln sich über pralle Muskeln und als er sich streckt, sehe ich mehrere Zentimeter Sixpack aus seinem Shirt herausblitzen. Schnell schaue ich wieder weg. Mein bester Freund muss mich wirklich nicht dabei erwischen, wie ich ihn anstarre.

»Jetzt rück raus damit.« Er reibt sich die Augen. »So früh am Morgen habe ich keine Zeit für dein Rumgedruckse.«

»Es ist Nachmittag«, murmele ich. »Später Nachmittag. Nicht meine Schuld, dass du gerade erst aufgestanden bist.«

»Du doch auch.« Ein spitzer Eckzahn blitzt, als er mir zugrinst.

»Hab halt Nachtschicht.« Inzwischen ist der Tresen blitzblank und der Lappen abscheulich. Ich halte inne. »Ich habe ihm Blödsinn erzählt.«

»Was, du? Hast du wieder so getan als wärst du ein Feuerwehrmann?« Ein heiseres Lachen. »So wie letztes Jahr? Dass der Kerl dir das geglaubt hat, fasse ich immer noch nicht.«

»Ich wollte nicht … Ich bin so langweilig. Feuerwehrmann klingt halt interessanter als Krankenpfleger. Echt, ich schäme mich ja dafür und ich schwöre mir jedes Mal, dass ich damit aufhöre, aber … irgendwie rutscht mir dauernd sowas raus. Letzte Woche hatte ich so einen süßen Patienten und ich hab ihm«, ich traue mich kaum, aufzusehen, »erzählt, dass ich Feuer spucken kann.«

Kyo lacht noch lauter. »Was, wie ein Drache?«

»Nein, wie ein Feuerspucker. Ich hab gesagt, ich würde auf Mittelaltermärkten auftreten.«

»Und, hat er einen Beweis verlangt?«

»Ne. Eh egal, seine Freundin ist im nächsten Moment ins Zimmer gekommen.« Ich kratze mir die Nase. Für mich ist die Wahrheit eine vereiste Fahrbahn und ich durchbreche oft genug die Leitplanken. Nicht aus Bosheit, sondern weil ich einfach der ödeste Mensch der Welt bin. »Der Typ gestern, der …«

»Was hast du ihm erzählt?« Kyo lehnt die Arme auf die Bar und sieht mich interessiert an. Seine Mandelaugen blitzen. Er ist Halbjapaner, was die folgende Beichte noch schlimmer macht.

»Ich habe ihm erzählt, dass ich am Wochenende nach Kyoto fliege.«

»Warum das denn?«

»Er war … Der war schon überall! Echt, überall! Lagos, Mali, Vancouver, Havanna … Ich bin schon gar nicht mehr mitgekommen, so viel hat er erzählt. Er ist so ein richtiger Traveller. Und Schriftsteller.« Mein Herz hüpft. »Er schreibt Bücher! Und einen Blog hat er auch und er ist so interessant und er weiß so viel.«

»Das wieder.« Kyo schaut, als hätte er ein Glas saure Gurken inhaliert. »Einmal Sex und schon bist du verliebt.«

Kein Wunder, so selten, wie ich Sex habe. Aber das sage ich nicht. Schon gar nicht vor Kyo, der täglich eine neue Eroberung abschleppt. Würdevoll stelle ich den ersten Stuhl auf den Boden.

»Na und?«, murmele ich.

»Man kann auch Sex haben, ohne gleich sein Herz zu verschenken.« Kyo taucht auf der anderen Seite des Tisches auf, packt mit einer Hand ein Stuhlbein und stellt das Ding auf den Boden.

»Du kannst das. Ich nicht.« Ich seufze. »Na, jedenfalls wollte ich mich interessanter machen. Hat auch geklappt. Er will meine Fotos checken und ich … soll ihm Restaurants empfehlen und so. Jetzt muss ich nach Kyoto.«

»Oh nein.« Kyo grunzt leise. »Wie kommst du überhaupt auf Kyoto?«

»Och, ich habe zufällig in deine Richtung geschaut, als du gerade deine Cocktailnummer für diese Studenten abgezogen hast. Angeber.« Ich muss doch lächeln, obwohl der wunderbare Reiseschriftsteller bald herausfinden wird, dass ich ein Hochstapler bin.

»Wer, ich?« Kyo wirft den nächsten Stuhl zwei Meter hoch in die Luft, fängt ihn hinter seinem Rücken wieder auf und schaut unschuldig.

»Mit drei Cocktailshakern gleichzeitig jonglieren könnte man schon als Angeben bezeichnen«, sage ich. »Und ich kann nicht nach Kyoto fliegen. Mein Konto ist jetzt schon überzogen.«

»Sag ihm halt die Wahrheit.«

»Aber dann weiß er doch, dass ich ein Langweiler bin!«

»Bist du nicht.«

»Ach, echt?«

»Ne, du bist total seltsam.«

»Oh. Danke.« Ich ramme den letzten Stuhl auf den Boden und verfehle meinen Zeh nur knapp. »Ich habe schon überlegt, die Fotos zu faken, aber ich weiß nicht, wie.«

»Photoshop.«

»Kann ich nicht.«

»Tja, dann …« Kyo hält inne und legt den Kopf schief. Eine Hand ans Kinn gestützt steht er da wie ein halbjapanischer griechischer Gott. In Motorradhose und schwarzem Achselshirt, auf dem der Name einer Band prangt, die ich nicht kenne, weil ich zu uncool dafür bin. Ich wünschte, ich wäre Kyo. Dann hätte der Traveller mich auch so genommen. Ich meine, selbst Kyos Finger sind tätowiert! Mit einem davon zeigt er auf mich. »Ich habe die Lösung für dein Problem.«

»Was, echt?«

»Ja, du Pfeife. Du kommst einfach mit nach Düsseldorf.«

»Nach … Düsseldorf.« Ich sehe ihn zweifelnd an. »Was soll das bringen?«

»In Düsseldorf wohnen über 6000 Japaner.« Er verschränkt die Arme. »Es gibt ein richtiges japanisches Viertel. Mit Ramen-Shops und japanischen Supermärkten und Buchläden. Und die haben original japanische Ladenschilder und Waren. Wir machen einfach ein paar Fotos von dir davor und zwei, auf denen du Sushi isst und die Täuschung ist perfekt.«

Ich blinzele. »Das ist … eine Möglichkeit.« Ich blinzele erneut. »Das ist genial! Du bist ein Genie, Kyo! Woher weißt du sowas?«

»Ich bin da aufgewachsen.«

»Ach was.« Damit habe ich nicht gerechnet. Ich nenne ihn meinen besten Freund, aber eigentlich weiß ich nicht viel über seine Vergangenheit. Immer, wenn ich ihn nach seiner Kindheit gefragt habe, ist er elegant ausgewichen, also spreche ich das Thema nicht mehr an. »Deshalb hattest du am Anfang also diesen abscheulichen Dialekt.«

»Pass auf was du sagst, sonst nehme ich dich nicht mit.« Er schnaubt. »Und mein Dialekt war sau-charmant. Haben mir mehrere Kerle gesagt.«

»Sicher.« Scheint, als wäre ich nicht der Einzige, der aus Liebe lügt.

Am Anfang, als Kyo noch seinen grauenvollen Dialekt hatte, habe ich ihm ab und zu in der Bar geholfen. Keine Ahnung, wie wir Freunde geworden sind. Ich weiß nur, wie es anfing: Meine Kolleginnen hatten mich in diese Bar geschleppt, weil sie den Barbesitzer, also ihn, süß fanden. Und irgendwie sind Kyo und ich ins Gespräch gekommen. Na ja, »irgendwie« … Ich habe mich ganz stilvoll besoffen, mein gesamtes Leben vor ihm ausgebreitet und dann vor seine Bar gekotzt. Stilvoll, selbstverständlich.

Danach hatte ich so ein schlechtes Gewissen, dass ich ihm am nächsten Tag beim Aufbau geholfen habe. Damals lief die Bar noch nicht gut und er konnte es sich nicht leisten, jemanden einzustellen. Jetzt, wo die Bar ein voller Erfolg ist, helfe ich trotzdem noch ab und zu aus. Irgendwie beruhigt es mich. Und Kyo kennt mich, wie ich wirklich bin. Muss er ja. Ich habe ihm damals alles erzählt, von meiner Einschulung (bei der meine Schultüte explodiert ist, weil die Zweiliterflasche Cola darin die Hitze nicht vertragen hat) bis Ostern 2014 (als mein Ex mich um 300 Euro angepumpt hat, um mit seinem Neuen in den Urlaub fahren zu können).

»Was ist jetzt?«, fragt er in inzwischen perfektem Hamburgisch. »Kommst du mit nach Düsseldorf? Ich fahre morgen eh, dann kann ich dich auch mitnehmen.«

»Mit dem Motorrad?«

»Ne, dem Auto.«

»Oh, gut.« Ich bin so langweilig. »Und was machst du in Düsseldorf? Familie besuchen?«

»Nein.« Sein Gesicht verschließt sich wie eine Auster. »Hab was zu erledigen. Unwichtig.«

Ich verkneife mir weitere Fragen und beschließe, spontan zu sein. »Ich bin dabei. Danke, Kyo.« Ich lächle. Er lächelt ebenfalls, allerdings liegt etwas Scharfkantiges in seinen Mundwinkeln.

»Oh, ich mache das nicht umsonst.«

»Kein Problem, wenn du warten kannst. Montag wird mein Gehalt …«

»Ich kann nicht warten.« Er beugt sich über den leeren Tisch, so weit, dass ich ihn riechen kann. Frisch geduscht, mit einer leichten Minznote. »Wenn ich dich mitnehme, lässt du mich endlich ran.«

»Äh, was?«, stottere ich.

Lauernd sieht er mich an. »Du weißt schon, was ich meine, oder?«

»Ja … klar.« Dieser Arsch. Er macht immer wieder so dumme Anspielungen. Als ob er das wirklich wollte. Aber so naiv bin ich auch nicht. Ich entscheide mich, mitzuspielen. »Ja, okay. Aber beschwer dich nicht, wenn es den Trip nicht wert war.«

»Oh, das wird es sein.« Selbst die Art, wie er seine Augenbraue hebt, ist cool. Mir kommen leise Zweifel. Er meint das doch nicht ernst, oder? Nein. Nein, garantiert nicht. Was soll Kyo denn mit mir?

»Super. Das sind ja … gute Neuigkeiten.« Ich räuspere mich und versuche, nicht rot zu werden. Vergeblich. »Dann bis morgen.«

Ich flüchte. So ein Mistkerl. Ständig verarscht er mich. Aber es ist wirklich nett von ihm, mich mitzunehmen. Vielleicht wird das ja doch noch was mit dem Traveller. Wenn die Fotos gut werden.

 

 

Kyo besteht darauf, dass wir während der Fahrt das Album von einem Kumpel von ihm hören. Natürlich hat er Freunde in Bands. Fünf Stunden Speedmetal, davon eine Stunde Stau. Aber ich habe trotzdem Spaß. Und Kyo lässt sich sogar überreden, mein Lieblingsspiel mitzuspielen: Nummernschildraten.

»MG MUSS Murksingen-Grotzingholz heißen«, behaupte ich noch, als sein Jeep sich durch den Düsseldorfer Stadtverkehr schlängelt. Da wir zu einer unmenschlichen Zeit losgefahren sind, ist es gerade erst Mittag. Sommerliche Stadtluft weht durch die offenen Fenster herein.

»Unwahrscheinlich.« Eine Frau mit Kinderwagen bleibt mitten auf der Kreuzung stehen, um auf ihr Handy zu schauen. Kyo hupt. »Muttis Garagenpuff ist viel besser.«

»Muttis Garagenpuff ist nicht mal ein ordentlicher Ortsname.«

»Es gibt ein Dorf, das Ficken heißt.«

»Ja, aber …« Mir fällt nichts mehr ein.

»Dieses Dorf erinnert mich an etwas.« Er wackelt mit den Augenbrauen. »Etwas, das gleich geschieht. Kannst du dir vorstellen, was?«

»Ha, ha.« Er macht immer noch dämliche Andeutungen. Ich hoffe, das hört bald auf. Nicht, dass ich … Also, dass ich grundsätzlich etwas dagegen hätte, wenn er es ernst meinen würde. Also eigentlich hätte ich nichts dagegen, es ist nur … Beste Freunde habe ich noch weniger als willige Sexpartner. Ich kann es mir nicht leisten, den einzigen, den ich habe, zu verlieren. Kyo hat nämlich recht: Ich verliebe mich viel zu schnell. In fast jeden, mit dem ich je geschlafen habe. Und sehr viele, mit denen ich es nicht getan habe. Wenn ich auf einmal einen Kerl wie ihn im Bett hätte … Ich meine, ich wüsste nicht, wie ich verhindern sollte, dass ich ihm total verfalle. Ich werfe ihm einen unauffälligen Seitenblick zu, den er sofort bemerkt.

»Gleich da«, sagt er und biegt in eine Seitenstraße ein. »Mach dich bereit.«

»Wofür?«, frage ich misstrauisch.

»Für Little Tokyo, mitten in Deutschland.«

Ach so. Ich sehe, was er meint. Auf einmal sind überall japanische Schriftzeichen. Auf den abscheulichen deutschen Nachkriegsbauten prangen Ladenschilder in Kanji. Die Fußgänger sind plötzlich schwarz- statt braunhaarig und viel besser gekleidet. Beim Anblick der Ramen-Läden, die an uns vorbeiziehen, bekomme ich Appetit.

»Essen wir nachher da? Oder da?«

»Hm? Ja.« Mit einem Mal klingt Kyo abwesend. Sein Gesicht, eben noch fröhlich bis lüstern, wird zu einer Maske. »Ja, können wir.«

»Super.« Ich hänge mich fast aus dem Fenster. »Können wir da auch hin? Und da? Ist das ein Buchladen? Kann ich noch was für meine Mutter kaufen? Wie viel Zeit haben wir?«

»Bis morgen früh. Ich muss nur zwischendurch kurz weg.«

»Okay«, sage ich, obwohl ich fragen will, was zur Hölle er hier zu erledigen hat. Stattdessen stelle ich mir eine wilde Yakuza-Story vor, mit ihm in der Hauptrolle. Geht es um einen Drogendeal? Gold? Orchideenschmuggel? Vielleicht … Ich schlucke. Vielleicht wohnt hier eine alte Liebe? Vielleicht sein erster Freund, mit dem es hochdramatisch in die Brüche ging, weil … Keine Ahnung. Weil die Düsseldorfer Yakuza sich einmischten? Oder gibt's die nur in Japan? Wieso habe ich überhaupt behauptet, dass ich nach Japan will? Ich weiß nichts über Japan! Obwohl ich mir gerade vorstellen kann, dort zu sein. Es ist wirklich eine andere Welt hier. Ich kann es kaum erwarten, sie zu erkunden.

Kyo parkt ein paar Straßen weiter und einen Moment lang ist es sehr still im Wagen. Er schaut durch die Windschutzscheibe, als würde er nichts um sich herum mitbekommen. Ich lege eine Hand auf seine Schulter. In einem Wimpernschlag ist er wieder da. Seine dunklen Augen durchbohren mich förmlich.

»Bereit?«, fragt er. Warum ist seine Stimme jetzt so rau?

»Und wie.« Ich grinse. Als Erstes will ich in diese Bäckerei. Da gab es Matcha-Brötchen, soweit ich das im Vorbeifahren erkennen konnte, und die wollte ich immer schon probieren. Keine Ahnung warum, ich hasse Matcha, aber …

Kyos Finger streifen meine Wange und ich werde zurück in die Realität katapultiert. Auf einmal rast mein Puls. Er schaut mich immer noch so an. So, wie ein Löwe, der im hohen Gras lauert.

»Du klingst, als könntest du es kaum erwarten«, schnurrt er.

Scheiße. Ich glaube, er redet nicht über die Matcha-Brötchen. Ich glaube er … Hat er das ernst gemeint? Dass er mich vernaschen will? Schockstarr glotze ich ihn an. Er zwinkert mir zu und steigt aus dem Wagen. Ich folge ihm wie in Trance. Er holt unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum und schlendert den Bürgersteig entlang. Kyo wirkt vollkommen gelassen. Ich schwitze, was nicht an der sommerlichen Hitze liegt. Okay, auch, aber …

»Fuck«, flüstere ich, so leise, dass er es nicht hören kann.

Ich muss ihm sofort klarmachen, was es für unsere Freundschaft bedeutet, wenn wir zusammen in die Kiste steigen. Das Ende nämlich. Ich muss das unterbinden, sofort. Aber mein Blick verfängt sich in seinem Gang, der Art, wie er die breiten Schultern hält, dem Schwung seines Nackens und die Worte bleiben mir im Hals stecken. Mist.

Das mehrstöckige Haus, das wir betreten, ist so schlicht wie grau. Es ist angenehm kühl auf der Treppe, was leider nicht gegen meinen beschleunigten Puls hilft. Jetzt ist Kyos Hintern auch noch genau auf Augenhöhe. Wie viele Treppen müssen wir hochsteigen? Das ist ja unerträglich. Unerträglich geil. Ich schlucke.

Dann wird mir klar, dass er mich wieder verarscht und meine Schultern sinken. Erleichterung und Enttäuschung mischen sich in meiner Brust. Die letzten Stufen krieche ich förmlich hinter ihm her. Kyo, der Trottel. Immer muss er dumme Witze reißen und ahnt nicht, was er damit anrichtet … Etwas sticht in meiner Brust. Seltsam. Wie in Trance höre ich, dass er die Tür aufschließt.

»Wem gehört die Bude eigentlich?«, frage ich und versuche, normal zu klingen.

»Einem Freund von mir. Ist sein Zweitwohnsitz.« Wie sich die Haare in Kyos Nacken legen ist wirklich verdammt verführerisch. Meine Finger jucken vor wildem Verlangen, über den Kragen seines Shirts zu streichen und die heiße Haut darunter zu erkunden. Dämlich.

»Sein Zweitwohnsitz? Wie reich ist denn dein Freu…«

Kyo wirft die Tür hinter uns zu, packte meine Handgelenke und drängt mich gegen die Wand. Auf einmal schlägt sein Atem in mein Gesicht. Mein Rücken presst sich an die kühle Wand. Tiefschwarze Augen glühen vor mir auf und die Worte sterben in meiner Kehle.

Er verarscht dich nur, versucht die Stimme der Vernunft, mir zuzurufen, aber es ist zu spät. Mein Herz legt ein Schlagzeugsolo hin und mein Brustkorb wird eng. Kyos Unterleib kommt näher. Noch bevor er mich berührt, ist alles Blut in meinem Körper in meinen Schwanz geschossen. Im Kopf ist jedenfalls nichts mehr, was sich am Verlust meines Sprachvermögens zeigt.

»Guh …«, stammele ich, was immer das heißen soll.

»Weiter?« Ein wölfisches Grinsen erscheint.

Ich kann Kyo riechen. Frischer, köstlicher Sommerschweiß und die Ledersitze seines Jeeps. Und dieser Pfefferminzgeruch, wo immer der herkommt. Ist es sein Shampoo?

»Weiter?«, wiederholt er und ich nicke, ohne dass ich es will. Okay, ich will es, aber … Da war irgendein Grund, der dagegen sprach, er fällt mir nur nicht mehr ein. Kyos Augen nähern sich. Seine Lippen sind nur noch Millimeter von meinen entfernt, als er wieder anhält. Sein Atem befeuchtet meine Lippen. Mein Magen schlägt Purzelbäume und ich glaube, ich bin kurz davor, meine Hose zu sprengen.

»Kyo, du Vollarsch …«, flüstere ich.

Meine Hände werden aufwärts geleitet, bis er sie über meinem Kopf festhält. Mit seinem ganzen Körper pinnt er mich an der Wand fest. Ich schmelze.

»Weiter?«, fragt der Mistkerl wieder.

»Trottel«, krächze ich und küsse ihn.

Einen Wimpernschlag später bin ich im Paradies. Ja, es fühlt sich an, wie aufwärts in den Himmel zu stürzen. Seine Zunge drängt in meinen Mund und umschlingt meine. Ich lasse mich auf den Tanz ein. Die Zunge ist eh das Einzige, was ich noch bewegen kann. Verdammt, der Mistkerl ist stark. Durch feurigen Nebel schreit mein Hirn mir zu, dass ich gerade Kyo küsse. Ausgerechnet Kyo. Ein leises Geräusch entkommt seinem Mund. Ein wohliges Knurren. Ich spüre eine Bewegung, da, wo mein Harter fast die Hose durchstößt. Kyo wächst. Lange. Als die Beule in seiner Jeans langsam über meine reibt, keuche ich. Er unterbricht den Kuss und sieht mich wieder an. Verdammt.

»Kyo, wenn du jetzt … jetzt lachst und sagst, das wäre alles nur ein Witz, dann … dann …« Ich weiß nicht weiter.

Er blinzelt. Aber seine Überraschung verfliegt schnell. »Was machst du dann?«

»Hab ich vergessen. Aber es wird furchtbar. Schrecklich.« Das letzte Wort löst sich in einem Stöhnen auf.

»Dann gehe ich lieber kein Risiko ein«, sagt er und sinkt auf die Knie. Ich starre auf die Wand gegenüber. Sehr hübsch. Weiß mit zarten blauen Streifen. Super … Ich höre meinen Reißverschluss ratschen und dann spüre ich warmen Atem auf meinem Schwanz. Und dann …

»Kyo«, flüstere ich, als sein Mund mich verschlingt.

Er braucht ungefähr drei Minuten, um mich zum Höhepunkt zu bringen. Drei Minuten, in denen ich verzweifelt auf die Wand starre und versuche, mich zu konzentrieren, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, für immer zwischen seinen Lippen zu versinken und dem Bedürfnis, sofort zu kommen, bevor er sagt, dass das doch nur ein Witz ist, den er wirklich verdammt weit treibt. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und senke den Blick und das ist mein Verhängnis. Kyos selig geschlossene Lider, die nasse Zunge, die immer wieder aufblitzt, die tätowierte Hand auf meiner Hüfte … Ich greife in seine Haare und gebe auf. Die Welle schlägt über mir zusammen und reißt mich mit. Ich dränge nach vorne, weiter in ihn hinein, in die heiße Enge und dann schießt es aus mir heraus. Ich sehe keinen einzigen Tropfen. Als Kyo mich von unten angrinst und mir die Zunge herausstreckt, ist sie blitzsauber.

Schwer atmend sinke ich zu Boden. Kyo steht auf. Ja, seine Erektion ist genau vor meiner Nase. Durch die enge Jeans kann ich die Kuppe erkennen. Ich rechne damit, dass er seinen Reißverschluss öffnet und erwartet, dass ich mich revanchiere. Ich will mich revanchieren. Aber er dreht sich um und schlendert aus meinem Blickfeld.

»Wo willst du zuerst hin?«, ruft er mir aus dem anliegenden Zimmer zu.

»Was, äh … Wo … Bäckerei?« Meine Lenden kribbeln immer noch. Äußerst angenehm. »Ja, Bäckerei.«

»Ist gut.«

Ich rappele mich auf und stolpere ihm hinterher.

Auf die Wohnung bin ich nicht vorbereitet. Ein Palast erstreckt sich vor uns. Drei gigantische Fenster lassen das Mittagslicht auf ein Meer aus weißem Teppichboden fallen, in dem sich spärlich verteilte Designermöbel erheben. In der Wand ist ein Kamin eingebaut und über unseren Köpfen glitzern nicht zwei, sondern drei Kronleuchter.

»Sieht aus wie ein Edelpuff«, sage ich, ohne nachzudenken. »Oder die Bude von einem Mafioso.«

»Meinst du?« Kyo wirft seinen Rucksack auf den Boden und er versinkt halb im Teppich.

»Ja, schon. Siehst du den Film nicht schon vor dir? Ein Drogenboss verstrickt sich immer weiter in düstere Machenschaften und am Ende gibt es eine Schießerei zwischen drei verfeindeten Familien und das Blut spritzt in Strömen, trifft die Wände und versickert im Teppich, während draußen eine einzige weiße Taube vorbeifliegt.« Ich schaudere.

»Das würde Klaus-Dieter gefallen.«

»Erschossen zu werden?«

»Ne, aber deine Story. Er ist Regisseur.«

»Aha. Und woher kennst du den?«

Kyo zuckt mit den Achseln. Toll. Die Yakuza-Story kommt mir wieder in den Sinn. Obwohl ein Kerl namens »Klaus-Dieter« da irgendwie fehl am Platze ist. Aber wer weiß, ob Kyo mir die Wahrheit sagt? Ob er in Gefahr ist? Hoffentlich nicht. Kälte dringt in meine Glieder. Kyo hat sich nicht mit irgendwem angelegt, oder? Vielleicht wollte er kein Schutzgeld für seine Bar bezahlen und nun muss er mit dem Boss eines internationalen Verbrecherrings verhandeln, oder …

»Kommst du?«, fragt er und ich schrecke zusammen. »Schmeiß deinen Kram ins Schlafzimmer und wir gehen zu deiner Bäckerei.«

»Ja, gut.« Ich räuspere mich. »Willst du gar nicht …« Ich versuche, nicht auf die Ausbuchtung in seiner Jeans zu schauen. Sie ist schon kleiner geworden. »Soll ich gar nicht … auch …«

Ein kleines Lächeln entsteht auf seinem Gesicht. »Nein. Das spare ich mir auf.«

»Auch das noch.« Warum rede ich immer, ohne nachzudenken?

»Was?«

»Ich meine … Jetzt werde ich den ganzen Tag daran denken«, stammele ich.

Er nickt zufrieden. »Gut.«

 

 

Die Matcha-Brötchen sind so fies wie erwartet, aber die mit Curry sind köstlich. Und von denen mit Vanillefüllung hole ich gleich noch zwei. Am liebsten würde ich alles probieren, was der Laden hergibt, jedes runde, gerollte und dreieckige, jedes mit Marone oder Melone gefüllte Brötchen. Ich tobe durch die Auslage und raube jedem den letzten Nerv mit meinen Fragen. Aber ich kann nicht anders.

»Weißt du«, sage ich, als wir an einem der kleinen Tische sitzen. »Mir fällt gerade auf, dass das mein erster Urlaub seit drei Jahren ist. Sonst besuche ich immer nur meine Eltern. Mann, bin ich froh, dass du mich mitgenommen hast.« Wieder siegt die Neugier. »Kommst du oft her?«

»Einmal im Jahr.« Kyo sieht aus dem Fenster. Eine Gruppe eleganter junger Japanerinnen läuft vorbei. Ihre Prada-Handtaschen schwingen an langen Riemen von ihren Schultern.

»Warum?«

Erneutes Achselzucken. »Soll ich ein Foto von dir machen? Für deinen Traveller-Typen?«

»Oh, ja.« Mist, den hatte ich kurzzeitig vergessen.

Kyo zückt sein Handy und schafft es, ein Foto von mir mit dem Curry-Brötchen zu schießen, das wirklich nach Japan-Urlaub aussieht. Ich halte meinen Kopf so, dass ich das viel zu deutsche »Täglich frisch«-Schild über der Theke verdecke.

»Brillant«, mampfe ich. »Du bist echt ein Genie. Was essen … Was machen wir als Nächstes?«

Er lehnt sich zurück und dreht sein Gesicht in die Sonne. »Wie wär's mit dem Tempel? Der sollte ein paar gute Fotos hergeben.«

»Es gibt einen Tempel?«

Das scheint Kyo weniger zu beeindrucken als mich. »Klar. Früher war ich da jede Woche.«

»Mit deinen Eltern?«, frage ich. Irgendwann muss er doch ein wenig von damals erzählen.

»Mit meiner Mutter«, sagt er widerwillig. »Bist du fertig?«

»Gleich. Wo war dein Vater?«

Er sieht auf die Tischplatte.

»Kyo, komm schon. Ich hab dir mein gesamtes Leben erzählt, als wir uns das erste Mal getroffen haben.«

»Ja, ich erinnere mich. Danach hast du mir vor die Tür gekotzt.«

»Ja, aber davor habe ich dir erzählt, wie ich versucht habe, mir selbst ein Tattoo mit Fiete Keltenhusens Namen zu stechen.«

»Ja, sehr spannend.« Er verzieht das Gesicht. Was hat er?

»Ich mein ja nur.« Ich sehe mein Brötchen an. »Du musst mir nichts erzählen, es ist nur … Ich finde das halt spannend.«

»Was findest du bitte nicht spannend?« Er schüttelt den Kopf. »Dir geht ja einer ab, wenn man dir nur ein Curry-Brötchen hinhält.«

»Wart mal, bis du mich mit einem Windbeutel erlebst.«

Er lacht und die Sonne verfängt sich in seinen Eckzähnen. »Das mag ich an dir. Du kannst dich für den dümmsten Scheiß begeistern. Wie für den Zapfhahn damals.« Er mag etwas an mir? Das wusste ich gar nicht.

»Aber das war auch toll.« Ich versuche, nicht zu schmollen. »Ich hatte vorher noch nie ein Fass angeschlossen.«

»Ich hab's gemerkt.« Kyo erhebt sich.

Ich beeile mich, ihm zu folgen. Noch im Laufen lecke ich mir die letzten Reste Vanille von den Fingern.

»Damals ging es mir nicht gut.« Ich höre seine Stimme kaum über dem Klingeln der Ladenglocke, als wir die Bäckerei verlassen. Die Sommerhitze trifft uns wie eine unsichtbare Wand. »Die Bar lief beschissen, alle haben mir gesagt, dass es ein Fehler war, mich selbständig zu machen und ich hab nachts nicht mehr geschlafen, weil ich so viel Schiss hatte, dass das schiefgeht.«

»Ach, echt? Davon habe ich gar nichts gemerkt.«

»Hab auch versucht, mir nichts anmerken zu lassen.« Er reibt seinen Nacken. »Aber ich war am Ende. Und dann kamst du und hast mich aufgemuntert. Jedes Mal, wenn du dich wieder für irgendeinen Blödsinn begeistert hast, ging's mir besser.«

»Oh.« Mein Kopf fühlt sich an wie ein Dampfkochtopf und das kommt nicht vom Sommer. »Gern geschehen. Ich hatte auch Spaß«, füge ich hinzu, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Das hat er mir noch nie erzählt.

»Das habe ich gemerkt.« Wir gehen die Immermannstraße hinunter. Kyo fängt sich misstrauische Blicke von mehreren Männern ein und interessierte von einer Gruppe deutscher Mädels mit Manga-Shirts. Er atmet tief ein. »Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er ist gestorben, als ich noch ein Baby war. Krebs.«

Ich stolpere. Wo kommt das jetzt her? »Oh. Das tut mir leid.«

Er zuckt mit den Achseln. Ich will ihn mehr fragen, aber er deutet über die Straße. »Gehen wir in den Buchladen und machen noch ein paar Fotos für deinen blöden Backpacker.«

»Er ist nicht blöd«, sage ich und will eigentlich, dass er sich mir weiter öffnet. Verwundert merke ich, dass mein Herzschlag noch heftiger stolpert als bei dem Blowjob vorhin.

»Ein Angeber war das.« Kyo verzieht den Mund. »Der hat dich doch nur zugelabert. Ich war hier und ich war da und überall ist es besser.« Er schnaubt leise. Was hat er? »Ein Wunder, dass du überhaupt zu Wort gekommen bist, um ihm diesen Japan-Schwachsinn vorzulügen.«

»Bin ich aber«, sage ich, wenig schlagfertig. In Wahrheit war ich so geschockt, als der Traveller kurz geschwiegen hat, dass ich irgendwas von Kyoto gefaselt habe, bevor ich kapiert habe, was ich tue. Und dann hat der Traveller mich mitgenommen, beziehungsweise habe ich ihn mitgenommen, weil er nicht in Hamburg wohnt und sich kein Hotelzimmer leisten konnte und dann hatten wir halt Sex und ich habe mich verliebt. Wie immer. Um ehrlich zu sein, kann ich mich an den Sex kaum erinnern. Ich war ziemlich blau.

Wir verbringen einen großartigen Nachmittag. Ich wirbele durch den Buchladen und kaufe einen Stapel japanischer Fantasyromane, die ich nicht lesen kann. Ich schlage Kyo vor, dass er sie mir heute Abend vorliest, aber er sagt, er hätte etwas Besseres mit mir vor. Ich stolpere daraufhin über einen Bücherstapel und kaufe aus schlechtem Gewissen noch mehr. Na, egal. Schön sehen die Cover allemal aus. Ganz anders als deutsche. Viel dramatischer und künstlerischer.

 

 

Der Tempel ist wunderschön. Etwas außerhalb gelegen, aber es lohnt sich. Majestätisch steht er auf einem Hügel, als würde er aus dem knallgrünen Rasen wachsen. Das gebogene Dach wirkt, als könnte man darauf direkt in den Himmel rutschen.

Ich schreibe dort einen Wunsch-Brief und werfe ihn in einen hölzernen Briefkasten, was ich sonst nur aus kitschigen Romantik-Anime kenne. Ich entschließe mich, mir Glück mit dem Traveller zu wünschen. Fast hätte ich geschrieben, dass ich wünsche, Kyo würde mir mehr von seiner Familie erzählen. Aber er könnte mir versehentlich über die Schulter schauen und den Zettel lesen, also kann ich mir auch nicht wünschen, dass sein krummer Deal mit dem Yakuza-Boss gutgeht.

Oder trifft er doch eine alte Liebe? Will er … diese erloschene Liebe vielleicht wieder entfachen? Aber warum hätte er mich dann mitgenommen? Bin ich nur der Ersatzspieler? Die Notlösung, falls das nichts wird? Kann es sein, dass ich den Abend ohne ihn verbringen werde, wenn es mit dem Ex gut läuft? Oder noch schlimmer: Was, wenn ich im Flur warten muss, während die beiden sich im Bett vergnügen? Oder erwartet er einen Dreier? Das habe ich noch nie probiert, aber … Ich versuche krampfhaft, mein Gedankenkarussell anzuhalten. Leider klappt es nicht.

Seite an Seite verlassen wir das Tempelgelände und stehen wieder auf der Straße. Die grelle Mittagssonne ist längst zu einer milden, wärmenden Nachmittagssonne geworden. Ihr orangegoldenes Licht tanzt in Kyos Haaren.

»So.« Er seufzt. Tief, so, als würde er sich auf einen harten Kampf vorbereiten. »Ich geh dann mal. Du kommst hier klar, oder?«

Ein Eiszapfen durchbohrt meinen Magen. Warum ist er plötzlich so bleich? Er muss etwas Gefährliches vorhaben. Etwas sehr Gefährliches. Ich habe noch nie etwas Gefährliches getan, aber das ist jetzt egal. Ich kann ihn nicht alleine ins Verderben gehen lassen.

»Ich komme mit«, sage ich todesmutig und versuche, nicht zu zittern. »Du musst das nicht allein tun, Kyo. Was immer es ist.«

Er schaut mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. »Auf gar keinen Fall«, sagt er.

»D-du kannst mich n-nicht aufhalten.« Ich balle meine Hände zu zwei schwitzigen Fäusten und hebe das Kinn.

»Verächtlich« ist eine grobe Untertreibung für den Blick, den er mir schenkt. »Du bleibst hier. Das ist ein Befehl.«

»Ich lasse mir nichts befehlen.«

»Hierbleiben!«, bellt er und ich zucke zurück.

»Okay«, stammele ich.

Kyo schüttelt den Kopf, dreht sich um und droht, hinter der nächsten Straßenecke zu verschwinden. Ich pralle fast mit einem biertrinkenden Geschäftsmann zusammen, als ich ihm hinterher stolpere.

»Kyo!«

Er reibt sich genervt über den Nasenrücken. »Was?«

»Du musst keine Angst haben. Ich bin bei dir.«

»Du hast keine Ahnung, wo ich hingehe.«

»Nein«, gebe ich zu. »Sollte ich Angst haben?«

»Ja!«

Mist, ich hab's gewusst. Er hat sich mit Schutzgelderpressern angelegt. »W-warum?«

»Weil ich dir den Arsch versohle, wenn du mich weiter verfolgst.«

»Da steh ich drauf«, lüge ich. Na gut, es ist keine hundertprozentige Lüge. Ich stelle es mir ziemlich heiß vor, falls er seine Drohung heute Abend wahr machen sollte.

»Du dämliche Nervensäge.« Er beschleunigt seine Schritte. Ich folge. Zum Glück sind seine Beine nicht viel länger als meine. Allerdings ist er sportlicher. Nachdem wir einige Straßen im Eilschritt zurückgelegt haben, keuche ich. Kyo scheint sich zu erinnern, dass er zu cool ist, um vor mir wegzulaufen, na ja, wegzugehen und wird langsamer.

»Idiotisch«, knurrt er.

»Ja.« Ich lege meine Hand auf seine Schulter. Mein Daumen berührt nackte Haut und einen Moment lang erinnere ich mich an den Blowjob heute Mittag. Ich schlucke. »Kyo, was immer es ist, du kannst mit mir reden. Ich … ich glaube, ich weiß, was passiert ist.«

»Tust du das?« Er sieht mich misstrauisch an.

»Vielleicht. Eventuell.« Ich räuspere mich. »Ich sehe ja gleich, ob ich recht habe.«

»Dreh. Um.« Er schaut mich an, was wohl nicht ganz die Wirkung hat, die es haben soll. Ich versinke in seinen dunklen Augen. Mist. Na ja, wir werden gleich Sex haben, also warum nicht schon mal mit dem idiotischen Verlieben anfangen?

»Ich komme mit.«

»Ja, na gut!« Er wirft die Hände in die Luft. Ausnahmsweise wirkt Kyo so kindisch wie ich. Es steht ihm besser. »Aber beschwer dich nicht, falls du dich zu Tode langweilst!«

Zu Tode langweilst? Ich hatte eher damit gerechnet, zu Tode geschossen zu werden. Oder zu Tode erstochen, am liebsten mit einem Katana, falls das möglich ist. Dann wäre mein Tod immerhin interessanter als mein Leben.

Obwohl er aufgegeben hat, bleibe ich ihm dicht auf den Fersen. Man weiß ja nie. Kyo ist alles zuzutrauen, selbst, plötzlich auf einen fahrenden Laster aufzuspringen oder so.