1.
Sonntag, 7. März, vormittags
Es war offenbar wirklich ein ungeschriebenes Gesetz, dass unangenehme Dinge immer dann passierten, wenn man am wenigsten etwas dagegen unternehmen konnte, oder rasche Maßnahmen zu ihrer Abhilfe am teuersten kamen. Und je unangenehmer diese Dinge waren, je unvorhergesehener sie einen trafen, desto stärker war das Gefühl, dem Geschehen hilflos ausgesetzt zu sein.
Daran musste Palinski denken, als sein treuer, uralter PC ausgerechnet am ersten Sonntag im März seinen Geist aufgab. Kurz vor Mittag, um 11.23 Uhr, um ganz genau zu sein.
Damit kein Missverständnis entsteht, nicht der Computer des Instituts für Krimiliteranalogie, dem Palinski vorstand, war total im Eimer und dadurch möglicherweise auch die wertvolle Datenbank CAI (Crimes and Ideas). Nein, diese moderne Anlage war in alle Richtungen hin mehrfach abgesichert und wurde ständig auf dem aktuellen technischen Stand gehalten. Darauf achtete Florian, der über die Anlage wachte wie seinerzeit Zerberus am Tor zur Unterwelt.
Florian Nowotny, ein Virtuose der Datenbank, war seit rund zweieinhalb Jahren Palinskis Assistent. Der karenzierte Polizist studierte nebenbei Jus und würde wohl noch vier Semester bis zu seinem Magister benötigen.
Das gute Stück, um das es an diesem Sonntag ging, war Palinskis privater, acht Jahre alter PC, auf dem er bisher seine persönliche Korrespondenz erledigt hatte und, exakt hier war das eigentliche Problem, auf dem seine Manuskripte abgespeichert waren. Er war ja inzwischen unter anderem auch ein durchaus respektierter Autor von Kriminalromanen. Zwei davon waren bereits erschienen, den dritten mit dem Titel ›Zum Morden verurteilt‹ hatte er eben erst fertiggestellt.
Und genau da lag der Hund begraben.
In dem überschäumenden Glücksgefühl, es endlich geschafft zu haben, und der nachfolgenden postnatalen Depression, die ihn immer wieder überfiel, nachdem er einen Roman beendet hatte, hatte er gestern Abend völlig vergessen, eine externe Sicherungskopie des fertigen Manuskripts zu erstellen. Falls sich also bewahrheiten sollte, dass die Festplatte im Arsch war, dann … aber daran wollte Palinski gar nicht denken. Mehr als vier Monate vergebens gearbeitet, und obendrein umsonst, und der ganze schöne Roman wäre einfach weg. Futsch, unwiederbringlich dahin. Der Gedanke allein war schon zum Heulen.
Ausgerechnet an diesem Wochenende war Florian, sein Mann für solche Probleme, nicht greifbar. Er war mit seiner Freundin Inez zum Skilaufen irgendwo in Tirol und wurde erst morgen Abend wieder in der Stadt erwartet.
Da seine Tochter Tina in London und sein Sohn Harry in Konstanz waren, fiel Palinski niemand ein, den er privat um Rat hätte fragen können. Es war wie verhext.
Millionen junger Menschen wuchsen mit dem Computer auf und kannten sich dementsprechend hervorragend aus. Mindestens eine weitere Million ärgerte den Rest der Community, indem ständig neue Viren, Würmer, Trojaner oder ähnliche Ärgernisse auf den Rechner geschickt wurden. Bei dieser gewaltigen Menge an Fachleuten müsste Palinski eigentlich mindestens eine Person in seinem Bekanntenkreis haben, die ihm bei seinem Problem helfen konnte. Hatte er aber nicht. Oder er wusste zumindest nichts davon.
Resigniert gestand er sich daher ein, dass ihm nur die Wahl blieb, sich entweder bis morgen zu gedulden oder im Telefonbuch einen dieser sündteuren Spezialisten ausfindig zu machen, die sich für den Gegenwert eines Hightech-Mountainbikes bereit erklärten, ausnahmsweise am Sonntag einen Blick auf das Problem zu werfen. Natürlich ohne eine Garantie dafür zu geben, dass das Ganze positiv ausging.
Palinski war unentschlossen. Wie meistens, wenn er den Rat Wilmas brauchte, war sie gerade nicht erreichbar. Sie befand sich auf einem Seminar ihrer Grünen Freunde am Semmering, das sicher nicht vor dem Abend zu Ende war. Na bitte, dann würde er eben bei Mamma Maria auf eine Lasagne verde und ein Glas Barolo vorbeischauen und sich während des Essens überlegen, wie es weitergehen sollte.
Als er die Institutstüre hinter sich versperrte, hörte er zwei Menschen die Stiege im Haus herunterkommen. Und sah sie gleich darauf.
Es war das junge Pärchen, das vergangene Woche in die Wohnung über seinem Büro eingezogen war. Die neuen … Nachbarn halt. Wie sollte man Menschen sonst nennen, die über einem wohnten? Oberbarn?
*
Während Palinski in seinem Büro auf Stiege 4 des Hauses Döblinger Hauptstraße 15–17 den Schock über den plötzlichen und dennoch zu erwarten gewesenen Tod seines PCs zu bewältigen versuchte, verließ die 71-jährige Pensionistin Hermine Wurminzer mit ihrem dreijährigen Rauhaardackel Drafi ihre Wohnung auf Stiege 3 im zweiten Stock, um das liebe Tier Gassi zu führen. Dabei summte sie gut gelaunt die Melodie ihres Lieblingsschlagers ›Marmor, Stein und Eisen bricht‹ vor sich hin.
Statt jedoch den Aufzug zu besteigen und nach unten ins Erdgeschoss zu fahren, schleppte sich die alte Dame mühsam die beiden Stockwerke zum Dachboden hinauf. Später sollte sie auf Befragen angeben, keine andere Chance gehabt zu haben, da Drafi winselnd und immer wieder bellend nach oben gezogen und sie quasi zum Hinaufgehen gezwungen hatte.
Das um 1900 gebaute Zinshaus mit seinen vier Stiegen verfügte über ebenso viele Waschküchen, also Räume, in welchen die Bewohner ihre Wäsche schrubben, kochen und danach spülen konnten. Im Gegensatz zur landläufigen Erwartung und allgemeinen Übung befanden sich diese Waschküchen im Hause 15–17 nicht im Erdgeschoss oder im Keller, sondern auf dem Dachboden.
Ein Zeichen für die praktische Intelligenz des Bauherrn, der berücksichtigt hatte, dass nasse Wäsche immer schwerer war als trockene und dass es sich nach unten leichter schleppen ließ als in die Gegenrichtung.
Inzwischen hatte sich Drafi losgerissen und war nach oben gestürmt. Hermine brauchte natürlich etwas länger, bis sie endlich schwer atmend am Dachboden anlangte und sich zum Verschnaufen auf dem Sessel in der Waschküche niederlassen wollte. Doch der war bereits besetzt, wie Frau Wurminzer auf den ersten Blick erkennen musste. Gleich darauf begann sie, gellend um Hilfe zu rufen.
*
Ehe Palinski etwas sagen konnte, hatte der junge Mann die Initiative ergriffen. »Hi«, meinte er und deutete auf das Mädchen neben ihm, »das ist Maja Angeli und ich bin Jan Kröger. Wir sind die Neuen von …«, er deutete nach oben. »Ich hoffe, unser Einzug hat Sie nicht allzu sehr belästigt.«
»Mario Palinski«, stellte sich der Leiter des Instituts für Krimiliteranalogie vor. »Freut mich. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl hier. Und bis auf das grässliche ›Brrrrrrr‹ eines Schlagbohrers gestern Mittag habe ich eigentlich gar nichts mitbekommen.« Er lachte. »Dieses ›Brrrrr‹ hat es allerdings in sich gehabt, mein Herz ist fast stehen geblieben.«
Die beiden machten ein leicht betretenes Gesicht, sie kannten Palinskis Hang zu derlei Übertreibungen noch nicht. Als sie ihn jedoch lächelnd mit dem von ihnen aus gesehen linken Auge zwinkern sahen, entspannten sie sich wieder.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, wollte die junge Frau wissen. »Etwas, das mich vom ersten Moment an interessiert hat, seit ich das Haus betreten habe.«
»Nur zu«, ermunterte Palinski sie, »ich habe keine Geheimnisse.«
»Mich würde interessieren, worum es sich bei Krimiliteranalogie eigentlich handelt«, erkundigte sich Maja. »Ich habe diesen Begriff nie zuvor gehört. Und in meinem Fremdwörter-Duden ist er leider nicht zu finden.«
Die Frage imponierte Palinski. Seit er das Institut vor nunmehr über drei Jahren gegründet hatte, hatte er in seiner Funktion als Leiter mit mehreren Hundert Menschen zu tun gehabt. Alte und junge, gescheite und dumme, gebildete und ungebildete. Und dazu vielleicht auch ein paar wirklich Intelligente, die sich etwas darunter vorstellen konnten.
Aber nur ganz wenige hatten den Mut gehabt zu fragen, was unter der Wortschöpfung Krimiliteranalogie eigentlich zu verstehen war. Lieber hatten sie aus Angst, sich durch ihre Unwissenheit möglicherweise zu blamieren, den Mund gehalten und waren im Status der Ignoranz verharrt.
So viel Offenheit verdiente auf jeden Fall Anerkennung.
»Das ist eine lange Geschichte«, winkte er Maja gegenüber ab. »Wenn Sie und Jan etwas Zeit haben«, er deutete auf den Eingang zum Institut, »dann erzähle ich Ihnen das Ganze bei einem exquisiten Cappuccino.«
Er drehte sich um und öffnete die Türe. Maja blickte Jan fragend an, doch der hatte seine Antwort bereits mit einem ersten Schritt hin zum Eingang, also zum Kaffee mit der geschäumten Milch obendrauf, deutlich gemacht.
Eine Viertelstunde später wussten die beiden Neuen, welche Bewandtnis es mit der Krimiliteranalogie hatte und bewiesen mit ihren Fragen und Kommentaren, dass sie verstanden, welche Ziele damit verfolgt wurden.
Palinski fand die beiden Studenten, sie aus Salzburg, er aus der Steiermark, die sich in Wien gefunden hatten, sehr sympathisch und freute sich, mit den höchstens halb so alten jungen Menschen eine gute Gesprächsbasis gefunden zu haben.
Inzwischen hatte Maja ein Foto entdeckt, das Palinski mit Max und Moritz zeigte, seinen beiden Hunden. »Ach, Sie haben Haustiere«, freute sie sich, doch Palinski musste relativieren.
»Ja und nein«, meinte er kryptisch. »Ja, die beiden gehören mir, sind aber seit fast zwei Jahren nicht mehr in Wien, sondern im Waldviertel am Bauernhof vom Onkel Alois zu Hause. Da geht es ihnen viel besser als hier in der Großstadt. Und ich besuche sie zweimal im Monat.«
Manchmal gingen ihm die Hunde schon ab, aber »das war auf jeden Fall die beste Lösung für uns alle.«
Majas Blick ließ den Schluss zu, dass sie aus Prinzip nicht dieser Meinung war. Sie reduzierte ihren Protest gegen Palinskis Einstellung auf ein leicht trotzig klingendes »Wir bekommen nächste Woche einen kleinen schwarzen Kater« und ein unausgesprochenes »Und der kommt mir nicht aufs Land. Nie.«
»Dass es so etwas auch noch gibt«, wunderte sich Jan inzwischen über Palinskis Problem-PC. »Ich habe gedacht, so alte Stücke sind nur noch im Museum zu besichtigen.«
Jetzt war es am Hausherrn, leicht beleidigt zu sein. Wie der junge Dutter1 von seinem treuen Kastl sprach, war schlimm. Allerdings …
»Wissen Sie vielleicht jemanden, der sich mit Computern gut auskennt?« Palinski hatte die Frage an niemanden speziell gerichtet, sie ungezielt einfach so in den Raum gestellt. Um der latenten Angst um sein jüngstes Werk ein wenig Luft zu verschaffen.
»Ja«, antworteten seine beiden Gäste nahezu unisono und zielten damit auf sich selbst bzw. den jeweils anderen ab. Und daraufhin wurde der bis dahin schöne Tag nahezu genial. Auf einen fast nur angedeuteten Hinweis Palinskis auf sein Problem hin machten sich die beiden wie zwei hochkarätige Chirurgen über den alten, zumindest scheintoten PC her.
Nach der raschen und gleichsam gründlichen Erstuntersuchung folgte prompt die Diagnose: »Kastl total im Eimer, an Altersschwäche eingegangen.« Aber dadurch waren die beiden Spezialisten anscheinend nicht aus der Ruhe zu bringen.
Das alles wirkte äußerst professionell und machte Palinski echt Hoffnung. Maja überlegte halblaut, ob nicht Benny vielleicht … was, konnte er nicht verstehen, da sich plötzlich die Türglocke am Ausgang zur Stiege 3 meldete. Draußen stand Herr Mayerbeer, ein Mieter aus dem dritten Stock, und war sehr aufgeregt.
»Herr Palinski, I bitt Ihna«, brach es aus ihm heraus, »bei uns in da Woschkuchl sitzt da Herr Lesonic von da Zwarer-Stiagn und is tot. Die Frau Wurminzer hod eam entdeckt und is si sicher, doss a umbrocht wurn is. Wos soi ma denn jetzt mochn, Herr Palinski? Sie kenann si do aus mit soiche Sochn. Ned woar?«
*
Inspektor Markus Heidenreich, der stellvertretende Leiter der Kriminalpolizei am Kommissariat Döbling, hatte gerade das imposante Gebäude auf der Hohen Warte verlassen wollen, als ihn der Anruf erreichte.
»Hallo, Markus«, meldete sich Palinski, »ich fürchte, ich muss deine Sonntagsruhe stören, wir haben hier im Haus wahrscheinlich einen Mord oder zumindest einen Totschlag vorliegen.« Er holte hörbar Luft. »Aussehen lässt der Täter oder die Täterin es allerdings wie einen besonders törichten Suizid oder einen ebensolchen Unfall. Was es zumindest theoretisch sogar sein könnte. Obwohl ich das nicht glaube. Wie auch immer, kannst du dringend hierherkommen? Stiege 3, Dachgeschoss, die Adresse kennst du ja.«
Nachdem das erledigt war, wandte sich Palinski dem Tatort zu. Oder zumindest dem Fundort der Leiche. Worum es sich bei der kleinen Waschkuchl wirklich handelte, das würde erst die Untersuchung der Spezialisten von der Spurensicherung zeigen.
In dem kleinen Raum unterm Dach stank es widerlich nach kaltem Rauch, zusätzlich noch nach kaltem Schweiß. Alles in allem eine wahrhaft teuflische Mischung, echt zum Abgewöhnen.
Karl Lesonic war jedoch nicht nur hier im Hause bekannt wie … Pardon, inzwischen musste man ja korrekterweise bekannt gewesen sagen. Also, der Mann war nicht nur ein Wiener Original gewesen, sondern darüber hinaus eine Galionsfigur der sich auch in diesem Lande immer mehr zuspitzenden Auseinandersetzung zwischen Rauchern und Nichtrauchern.
Lesonic, der sich immer wieder stolz dazu bekannt hatte, an keinem Tag der letzten 55 Jahre weniger als mindestens 40 filterlose Zigaretten gepofelt zu haben, der im Wachzustand seinen Raucherhusten nie länger als höchstens zehn Minuten unterbrochen und sich angeblich jede Nacht den Wecker gestellt hatte, um eingeplante Rauchpausen ja nicht zu versäumen, war die Inkarnation des ›Schlimmen Rauchers‹ schlechthin gewesen.
Dieser zweifelhafte Ruf und der damit verbundene ›Ruhm‹ hatten den streitbaren, relativ eloquenten Mann mit zunehmender Intensität der Auseinandersetzung um das Passivrauchen und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Konsequenzen innerhalb der letzten beiden Jahre in die vorderste Reihe heimischer Medienstars katapultiert.
Mit einem Wort: Der Lesonic Karl war nicht irgendwer gewesen, nein, also wirklich nicht. Nach Ansicht gar nicht so weniger Traditionalisten war er vielmehr einer der letzten Kämpfer für die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen gewesen, zumindest des rauchenden.
Aus der Sicht dieser militanten Gesundheitsapostel dagegen war er ein Umweltverpester ersten Ranges. Je nach Perspektive war er entweder einer der letzten Individualisten im Kampf gegen die Gleichmacherei oder einer der unverantwortlichsten Idioten unter der Sonne.
Jedenfalls war der Tote ein Mann gewesen, der die Leute polarisiert, niemanden kaltgelassen und jeden gezwungen hatte, Position zu beziehen.
Und dieser Mann war jetzt tot. Hing mit halb eingeschlagenem Schädel auf dem unbequemen Stuhl, den irgendjemand vor vielen Jahren einmal hier heraufgebracht und anschließend vergessen hatte. Wie so viele andere Dinge, die nach der Erfindung der Waschmaschine in diesem zum Abstellraum mutierten Kammerl Aufnahme gefunden hatten.
Palinskis pseudophilosophische Gedanken wurden durch das unerbittliche Rütteln seines Handys in der Hosentasche abgelenkt.
Es war Jan Kröger, der ihn wieder zu seinen eigenen Problemen zurückführte.
»Ein Freund von mir hat einen drei Jahre alten, aber mangels Benützung fast noch neuwertigen Tower übrig.« Der junge Mann ließ eine technische Spezifikation folgen, die Palinski nichts sagte, außer dass er sie nicht wirklich verstand, die jedoch sehr bedeutend klang. »Der wäre gut für Sie geeignet«, versicherte Jan, »und wir könnten das Ding in 15 Minuten hier haben.« Allerdings: »Hartmut möchte 80 Euro dafür«. Das klang mehr als fair für Palinski und er wollte gerade Zustimmung signalisieren, da kam es noch weitaus besser. »Ich habe ihn auf 50 heruntergehandelt. Geht das in Ordnung?«
Und wie das in Ordnung ging, das war Musik in Palinskis Ohren und ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit überfiel ihn. Daran konnte selbst der traurige Anblick Lesonics nichts ändern.
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Lange hatte Österreich aus Sicht der Raucher als Insel der Seligen gegolten. Die immer strikteren Einschränkungen, denen die vom blauen Dunst Abhängigen in den USA, dem viel gepriesenen ›Land of the Free‹, mit der Zeit ausgesetzt waren, wurden zunächst sogar von einer konzilianten Mehrheit der Nichtraucher in diesem Lande milde belächelt.
In Europa war die erste Phase, der Anspruch der Arbeitnehmer auf einen rauchfreien Arbeitsplatz, noch relativ wenig umstritten gewesen. Als Nächstes waren die öffentlichen Gebäude und Plätze per Gesetz zu rauchfreien Zonen erklärt und die Raucher somit immer mehr in die Defensive gedrängt worden.
Bereits diese Maßnahmen hatten zu einer teilweise immer absurderen Diskussion darüber geführt, ob es sich beim Qualmen nicht vielleicht doch um ein grundlegendes Menschenrecht handelte. Gleichrangig etwa mit der Meinungsfreiheit oder gar ein Ausfluss des Rechts auf Selbstbestimmung, wie erstaunlich viele Befürworter meinten.
Das war allerdings bei Weitem nichts gegen die Schärfe, die die Auseinandersetzung angenommen hatte, nachdem die Nichtraucher mit dem Sturm auf die Gastronomie, der letzten Bastion der Raucher im öffentlichen Raum, begonnen hatten. Das Spektrum der veröffentlichten Meinungen spannte sich vom Appell nach mehr Toleranz über Unkenrufe zur angeblichen Gefahr faschistoider Gleichschalterei bis hin zur Forderung eines totalen Verbotes des Qualmens.
Allein wie der Begriff der Toleranz von den Verfechtern der These ›Freie Bürger rauchen, wo sie wollen‹ verbogen wurde, war atemberaubend. Sinngemäß hieß es da: Mich stören die Nichtraucher ja auch nicht, daher kann ich ja wohl erwarten, dass ich die Nichtraucher ebenfalls nicht störe.
Ja, sogar einzelne sonst durchaus ernst zu nehmende, im öffentlichen Leben stehende Personen entblödeten sich nicht, das Laster, von dem sie nicht lassen konnten, in Artikeln und Broschüren mit Argumenten zu verteidigen, die ihre Intelligenz nachhaltig beleidigten.
Palinski hatte vor mehr als 20 Jahren selbst eine Zeit gehabt, in der er täglich mindestens 40 Zigaretten konsumiert hatte, an Tagen mit langen Nächten deutlich mehr. Sein Glück waren seine relativ empfindlichen Atemwege gewesen, die sich diese Behandlung einfach nicht gefallen lassen wollten. Nach wenigen Monaten hatte er bereits jeden Morgen mindestens zwei Stunden damit zu tun gehabt, seine Bronchien auf höchst ungustiöse Art und Weise wieder freizuhusten und dabei darauf zu achten, sich nicht gleichzeitig anzuspeien.
Diese auf Dauer sozial unverträglichen Morgenauftritte sowie ein äußerst abschreckender Artikel in einem Wochenmagazin hatten ihn in der dem Erscheinungstermin folgenden lauen Augustnacht vor knapp 20 Jahren seinen letzten Lungenzug tun und anschließend mit dem Tschicken2 aufhören lassen.
Das Rezept war denkbar simpel gewesen: Einfach die nächste Zigarette nicht mehr anzünden. Als zusätzliche Motivationshilfe hatte er das bisherige Zigarettengeld tagtäglich in eine Sparbüchse geworfen und damit im folgenden Februar einen 14-tägigen Skiurlaub für Wilma und sich finanziert. Mit allen Schikanen und schon wieder völlig hustenfrei, verstand sich.
Einige Jahre später hatte er zwar wieder mit dem Rauchen begonnen, diesmal allerdings mit Zigarillos. Zigarette hatte er seither keine einzige mehr angerührt.
Inzwischen war Palinski seit Langem wieder von den kleinen Zigarren weg. Das Einzige, das er sich nun gelegentlich gönnte, war ein Pfeiferl in Ehren, das er in einer ruhigen Stunde in seinem Rauchsalon, und nur da und sonst nirgendwo, vor sich hinpaffte. Dementsprechend betrachtete er sich auch nicht als Raucher, bestenfalls als Paffer, dessen Sympathien in der immer beherrschender werdenden Diskussion eindeutig auf der Seite der zum passiven Mitrauchen Verdammten lagen. Denn im Gegensatz zu der von Selbstmitleid und gelegentlichem Verfolgungswahn geprägten Attitüde der ›letzten Individualisten‹, die ihr ›Recht‹ auf uneingeschränktes Pofeln, wann und wo immer sie wollten, in Gefahr sahen und mit einer Intensität verteidigten, als gelte es, die Werte der Französischen Revolution zu schützen, wusste und anerkannte Palinski, dass es bei dieser Auseinandersetzung nicht um das Rauchen an sich ging, sondern um den Schutz der Nichtraucher. Also darum, sicherzustellen, dass durchs Qualmen niemand außer dem Verursacher selbst, dessen Recht auf Selbstbeschädigung natürlich außer Zweifel stand, in Mitleidenschaft gezogen wurde. Exakt das war der Punkt. Nicht um mehr, aber auch nicht um weniger ging es bei diesem mitunter sehr hitzigen Diskurs.
Eine völlig andere Sache war hingegen der Brief, den die Polizei in der linken Gesäßtasche Karl Lesonics finden sollte.
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Kurz nach 13 Uhr bog ein aus der Stadt kommender, schwarz lackierter Kleintransporter von der Grinzinger Allee in die Straße mit dem markanten Namen An den Langen Lüssen ein und fuhr hinauf, bis es nicht mehr weiterging. Nachdem der Wagen geparkt worden war, betraten zwei mit dunklen Anzügen bekleidete Männer den Grinzinger Friedhof, eine der schönsten und nobelsten Adressen der speziellen Art in Wien.
Hier hatte eine Menge Prominenter ihre letzte Ruhestätte gefunden, darunter so bekannte Künstler wie Gustav Mahler, Alma Mahler-Werfel, Heimito von Doderer, Paula Wessely und Attila Hörbiger und Thomas Bernhard.
Neugierig blickten die wenigen an diesem Tag anwesenden Standler von ihrem aus Kerzerln, Gestecken und Kränzen bestehenden Angebot auf und beobachteten die mit ihren dunklen Brillen etwas sonderbar wirkenden Fremden, die einen Metallsarg zur Aufbahrungshalle trugen.
Maria ›Mitzi‹ Wallasch, die ihr kleines, neben dem Haupteingang liegendes Blumengeschäft schon seit 30 Jahren betrieb, kamen die beiden irgendwie seltsam vor. Die Art, wie sie sich bewegten, sagte ihr, dass sich im Sarg niemand befand, außer höchstens ein kleines Kind. Oder vielleicht ein Liliputaner? Die jedoch wurden in der Regel nicht in zwei Meter langen Särgen transportiert.
Das beiläufige Winken des größeren der beiden Männer, das Mitzi als Gruß interpretierte, beruhigte die grundsätzlich misstrauische Standlerin allerdings wieder. Schließlich konnte sie ja nicht sämtliche Mitarbeiter der Städtischen Bestattung kennen.
Kurze Zeit später kamen die beiden, die Mitzi rein äußerlich irgendwie an Mafiosi erinnerten, die sie einmal in einem Film gesehen hatte, wieder mit dem Sarg durch den Haupteingang.
Instinktiv erkannte Maria Wallasch einen entscheidenden Unterschied. Die Art, wie die Männer schleppen mussten, ließ nur einen Schluss zu, dass der Sarg im Gegensatz zu vorhin nun belegt war, und zwar mit einer anscheinend recht gewichtigen Leiche.
Jetzt kam von den beiden auch kein beruhigendes Zuwinken mehr, denn die Hände wurden definitiv zum Schleppen gebraucht. Das größere der beiden Mannsbilder ließ es daher bei einem angedeuteten Nicken des Kopfes bewenden. Das war allerdings nicht geeignet, Mitzis Argwohn zu besänftigen. Ehe sie dazu kam, weiter darüber nachzudenken, bemerkte sie, dass der Nachmittagsfilm mit Peter Alexander in ihrem kleinen Fernseher im Eck bereits begonnen hatte. Und obwohl sie sich noch fragte, seit wann die Wiener Bestattung Fahrzeuge ohne Aufschrift und mit niederösterreichischem Kennzeichen verwendete, schaffte es der große Entertainer rasch, Mitzi wieder auf andere Gedanken zu bringen.
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Trotz seiner relativen Jugend, Inspektor Markus Heidenreich hatte erst knapp 35 Lenze auf den wohltrainierten Schultern, hatte der Stellvertreter von Franka Wallner bereits eine ganze Menge höchst seltsamer, ja skurriler Kriminalfälle erlebt. Demzufolge konnte ihn auch nicht so rasch etwas aus der Fassung bringen. Was sich ihm allerdings in der kleinen ehemaligen Waschküche im vierten Stock der Dreierstiege bot, raubte ihm zunächst einmal die Fassung und gleich anschließend die Sprache.
»Was soll denn das hier bedeuten?« Der Inspektor gab die rhetorisch gemeinte Frage so verstört von sich, dass Palinski Schwierigkeiten hatte, das Gestammel überhaupt zu verstehen.
Aber Markus Heidenreichs Reaktion war nur zu verständlich.
Da hing ein alter, total zerknittert wirkender toter ehemaliger Kettenraucher mit einer schweren Kopfwunde in einem Sessel. Auf der Ablage an der Wand hinter der Leiche standen zwei leere und eine noch halb volle Bierflasche neben einer ebenfalls fast leeren Packung eines handelsüblichen rezeptfreien Schmerzmittels.
Unter dem und in einem Umkreis von etwa einem halben Meter um den Sessel herum lagen zahlreiche Tschicks in einer übel riechenden, offenbar aus einem Gemisch von Urin und Blut bestehenden Lache. Und darin, nicht zu übersehen, die deutlich erkennbare vordere Hälfte eines Schuhabdruckes. Eines großen, ja sehr großen Schuhs, wie man mit bloßem Auge erkennen konnte. Also mindestens Größe 46, eher aufwärts, so gegen 48, schätzte Palinski.
Weitaus verräterischer war das ganz besondere Profil der offenbar aus Gummi bestehenden Sohle eines Sportschuhs. Im Karree verlaufende Linien, mit einem großen X genau in der Mitte. Sicher würde die Polizei schon bald die genaue Marke dieses Schuhs eruiert haben. Und wenig später – hoffentlich – auch seinen Träger.
Zu allem Überfluss, sozusagen als Krönung des Ganzen, lag eine schwere, alte, etwa zwei Meter hohe und aus massivem Holz bestehende Standuhr quasi auf dem Leichnam, die dem Mann mit einer ihrer scharfen Kanten die schwere Kopfverletzung zugefügt hatte.
»Das ist ja schlimmer als der ärgste Albtraum, den sich ein gemütskranker Drehbuchautor für einen Horrorfilm ausdenken kann«, versuchte Palinski zu witzeln, aber niemand lachte. Obwohl Mario damit das absurd Monströse der gespenstischen Szene durchaus treffend charakterisiert hatte.
Und tatsächlich, der Fundort der Leiche war für die Kollegen von der Spurensicherung so etwas wie das Disneyland bei Paris für alle europäischen Kids zwischen acht und 80 Jahren. Zumindest einmal im Leben sollte man so etwas erlebt haben. Dass es sich bei der Waschküche nicht um den Tatort handelte, war sowohl Heidenreich als auch Palinski beim ersten näheren Hinschauen klar geworden.
Denn die schwere Verletzung am Kopf des Herrn Lesonic hatte so gut wie nicht geblutet, wenngleich die Blutlache am Boden etwas anderes vortäuschen sollte. Das bedeutete, dass der Mann bereits tot gewesen sein musste, als er hier in den Sessel gesetzt worden war.
»Da hat sich jemand überaus viel Mühe gegeben, uns Sand in die Augen zu streuen«, konstatierte der Inspektor, »und sich dabei saublöd angestellt. Bemerkenswert, wirklich bemerkenswert.« Er schüttelte den Kopf. »So was sieht man wirklich nicht alle Tage.«
Zehn Minuten später war Palinski wieder auf dem Weg zurück in sein Büro. Nachdem er Heidenreich versprochen hatte, am späteren Nachmittag wegen des Protokolls im Kommissariat vorbeizukommen, war ihm sein maroder PC wieder siedend heiß in den Sinn gekommen. Und dass sich zwei neu zugezogene barmherzige Samariter um den offensichtlichen Totalschaden kümmerten. Obwohl, Jan hatte vorhin etwas von einem gebrauchten, aber neuwertigen Tower gesagt, den er beschaffen konnte. Wer weiß, vielleicht bekam der junge Mann das Graffelwerk3 bis morgen doch wieder zum Laufen. Zumindest erst mal ohne Internet, obwohl Palinski dieses ebenso dringend benötigte. Allerdings konnte sich darum wieder Florian kümmern, der kannte sich in diesen Dingen ebenfalls sehr gut aus.
Sein zwischen Bangen und Hoffen schwankender Gemütszustand pendelte sich rasch bei deutlichem Wohlbehagen ein, als er Maja und Jan in voller Aktion an seinem offenbar wieder völlig genesenen PC agieren sah.
Mit der höflichen Erkundigung »Darf ich schnell einen Blick auf meinen E-Mail-Account werfen« lieferte ihm die junge Frau dazu passend gleich die Antwort auf die letzte noch offene Frage.
Es war fantastisch. Die trüben, durch den dahingegangenen Computer verursachten Gedanken verflüchtigten sich schlagartig und ein behagliches Gefühl der Zufriedenheit überkam ihn.
Was für ein Tag, dachte Palinski. Die Familie war gesund, der Computer ging wieder und die Sonne schien. Tja, und der Mord, in den er hineingestolpert war, war auch nicht von schlechten Eltern.
»Kinder, wisst ihr was«, meinte er gönnerhaft zu seinen neuen Nachbarn. »Was haltet ihr davon, wenn ich euch jetzt ins Mamma Maria zur besten Lasagne verde nördlich der Alpen einlade?«
*
Bereits kurz nach 14 Uhr waren die ersten Trauergäste zur feierlichen Verabschiedung Konstantin Boreskovs erschienen, dem weltberühmten bulgarischen Tenor mit österreichischem Pass. Der erst vor einem halben Jahr zum Kammersänger ernannte ›beste Rudolf, den Wien in den letzten Jahren gesehen hatte‹, wie einer der bekanntesten Kulturkritiker kürzlich noch geschwärmt hatte, war mit erst 49 Jahren nach einem schweren Autounfall viel zu früh von der Bühne des Lebens abgetreten.
Der Tod des nicht nur in Wien, sondern darüber hinaus in Mailand, New York, London, Sydney, St. Petersburg, Paris und Berlin, Salzburg und Glyndebourne umjubelten Stars, um nur die wichtigsten Wirkungsstätten zu nennen, war mindestens ebenso mysteriös und geheimnisumwoben, wie es sein Leben über weite Strecken gewesen war.
Kammersänger Boreskov war an jenem Morgen im Februar nach der umjubelten Neuaufnahme der Carmen an der Münchner Oper gegen 10 Uhr in seinen Porsche gestiegen und Richtung Salzburg losgefahren. In der Nähe von Felden hatte der an sich äußerst routinierte Fahrer aus nach wie vor ungeklärten Gründen die Herrschaft über sein Geschoss auf Rädern verloren. Nachdem sich der Wagen mehrmals überschlagen hatte und dabei auf die Gegenfahrbahn geschleudert worden war, wurde das Wrack von einem entgegenkommenden Laster erfasst und mehrere Meter mitgeschleift. Boreskov, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nicht angeschnallt, war zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit schon tot gewesen. Genickbruch und damit – rien ne va plus.
Gerüchteweise wurde nicht ausgeschlossen, dass der Mann, selbst Kontaktlinsenträger, irrtümlich die – etwas schwächeren – Sehbehelfe seiner Frau Natascha erwischt und anschließend aus Nachlässigkeit nicht mehr ausgetauscht hatte.
Boreskov, der im Leben ein sehr extravaganter, auf Exklusivität bedachter Mensch gewesen war, hätte seine Freude an der heutigen Inszenierung gehabt. Immerhin war es die erste Beerdigung seit 71 Jahren, die auf diesem Friedhof an einem Sonntag stattfinden durfte, und die erste innerhalb der letzten 62 Jahre auf einem Wiener Friedhof überhaupt.
Sonntags wurde zwar auch gestorben, jedoch in der Regel nicht beerdigt. Die äußerst seltenen Ausnahmen waren, wie meistens im Leben, den ehemals Reichen und Schönen vorbehalten.
Und deshalb waren kurz vor 15 Uhr, dem Beginn der offiziellen Trauerfeierlichkeiten, bereits mehr als 500 Personen des öffentlichen Lebens, aus Politik, Kultur und Wirtschaft sowie der Wiener Operngemeinde erschienen. Allen voran der Bürgermeister und einer seiner auch heute noch omnipräsenten Vorgänger, der regierende und vier ehemalige Operndirektoren sowie einige Regierungsmitglieder. Dazu zahllose Vertreter der internationalen Kultur- und sonstigen Schickeria. Und überhaupt drängten sich die Massen der mehr oder weniger prominenten Trauernden, die dieses Event nicht versäumen wollten.
Der relativ kleine, im Nordwesten Wiens gelegene Friedhof musste im Moment aus der Luft aussehen wie ein Ameisenhaufen am ersten langen Einkaufssamstag im Advent. Die Drängelei war enorm und wurde immer beängstigender, je mehr man sich der viel zu kleinen Aufbahrungshalle näherte.
Kurz nach 15 Uhr begann die stilvolle Verabschiedung, die über Lautsprecher auch auf den Bereich vor der Halle übertragen wurde. Zunächst eröffnete ein aus Mitgliedern des Opernorchesters gebildetes Sextett mit Mozart. Dem folgten zwölf Angehörige des Staatsopernchors mit dem Ave Maria von Schubert.
Nun war es so weit, die Stunde der Redner und damit die der Simultandolmetscherin hatte geschlagen. Während sich die aus Sofia eingeflogenen Eltern und Geschwister des Kammersängers erwartungsvoll die Kopfhörer aufsetzten, schritt Dr. Kaspar Godfrey, internationaler Musikagent, Manager und enger Freund Konstantin Boreskovs, würdevoll ans Rednerpult.
Während dieser wichtige Mann des weltumspannenden Kulturbetriebs seine Brille richtig positionierte und zum Entsetzen nicht weniger Anwesender umständlich das Manuskript seiner Rede aus der Innentasche seines Sakkos holte, um es vor sich auf das Pult zu legen, geschah das Unerhörte und völlig Unerwartete.
»Im Prater blühn wieder die Bäume«, tönte da plötzlich die unsterbliche Stimme des toten Kammersängers aus dem sehr teuren Mahagonisarg, »in Sievering grünt schon der Wein.«
Natascha, die Witwe, war bei ›Sievering‹ bereits schreiend aufgesprungen, zum Sarg gewankt und an selbigem zusammengebrochen. »Da kommen die seligen Träume, es muss wieder Frühlingszeit sein« – es war unverkennbar die Stimme des teuren Verblichenen, die da kraftvoll wie eh und je und erstaunlicherweise mit Robert Stolz und Orchesterbegleitung aus dem ultimativen Möbel tönte.
Wie erstarrt verharrten die meisten Anwesenden in ungläubiger temporärer Paralyse, lediglich Dr. Godfrey und der dynamische Wiener Bürgermeister Dr. Lattuga waren zum Sarg geeilt und herrschten die beiden daneben postierten Bediensteten des Bestattungsunternehmens an, das Behältnis ehestens zu öffnen.
Boreskov hatte sich offenbar vorgenommen, ein letztes Mal mit einem Potpourri zu glänzen, da er inzwischen bei ›La donna è mobile‹ angelangt war. Kurz darauf war nun endlich der Verschluss des Sarges geöffnet worden und die beiden Friedhofsbüttel machten sich daran, den schweren Deckel zu entfernen.
Die Witwe war mittlerweile mithilfe des galanten Bürgermeisters wieder auf die Beine gekommen und gerade dabei, vorsichtig einen verheulten Blick ins Innere des Sarges zu riskieren, als ein honigmelonengroßer, bunter und auf einer Sprungfeder sitzender Clownskopf aus dem Sarg hochschnellte. Mit der Wirkung, dass die bedauernswerte Natascha sofort wieder schreiend zusammenbrach und selbst der sonst eher kühle Dr. Godfrey einen überraschten Aufschrei nicht unterdrücken konnte. So ein ›Oh God‹ etwa, oder vielleicht auch ein ›Ooooooh good‹, so genau konnte sich nachher niemand mehr daran erinnern.
In der Zwischenzeit war der orthodoxe Priester herangetreten, hatte in den Sarg gegriffen und das darin befindliche Hi-Fi-Abspielgerät einfach abgestellt. Mitten im ›Nessun dor…‹, mit dem der Kammersänger gerade beginnen wollte. Dann riskierte Hochwürden einen weiteren Blick – und noch einen – ehe er sich aufrichtete und direkt in die laufende Kamera des inzwischen näher gekommenen Teams des österreichischen Fernsehens die folgenschweren Worte sprach: »Sarg leer, Kammersänger futsch, nur der liebe Gott weiß, wo.«
20 Minuten später traf Inspektor Heidenreich am Ort des Verschwindens ein, weitere 45 Minuten danach ging bereits die Sensationsmeldung ›Leiche des Kammersängers verschwunden‹ in einer Sondernachrichtensendung der TV Austria in die Welt hinaus.
Die Geschäftskarte mit dem Aufdruck ›Diamonds4eva‹, die klein und verschämt unter dem CD-Player auf ihr Auffinden wartete, blieb zunächst unentdeckt.
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Mario Palinski war noch keine fünf Minuten in Heidenreichs Büro gewesen und daher weit davon entfernt, vom Inspektor auf den aktuellen Ermittlungsstand gebracht worden zu sein, als die Meldung eintraf, dass die Leiche eines Opernsängers in Verlust geraten war. »Am Grinzinger Friedhof gestohlen worden ist«, hatte Bürgermeister Lattuga dezidiert erklärt, der es sich nicht hatte nehmen lassen, die Polizei höchstpersönlich anzurufen.
An und für sich hätte in einer solchen Situation die Chefin der Döblinger Kriminalpolizei, demnach Franka Wallner, selbst ausrücken müssen. Da die Frau von Chefinspektor Helmut Wallner allerdings bereits am Freitag einen mehrtägigen Urlaub angetreten hatte und nach Luzern gereist war, um der Hochzeit einer ihrer zahlreichen Cousinen mit einem Schweizer Steuerberater beizuwohnen, blieb das an Heidenreich hängen.
»Tut mir leid«, der Inspektor zuckte bedauernd mit den Schultern, »aber da muss ich wohl hin.« Er schob seinem Gegenüber ein Stück Papier hin. »Könntest du mir einen Gefallen tun und mit der alten Dame sprechen? Sie wohnt ohnehin bei dir im Haus. Vorhin war sie noch zu aufgeregt für eine vernünftige Befragung.«
Palinski nahm das Blatt an sich und las: ›Wurminzer, Hermine, Döblinger Hauptstraße 15 A, Stiege 3, zweiter Stock‹. »Na klar«, bestätigte er den Auftrag des Inspektors. »Das mache ich doch gerne. Ich werde gleich mit ihr sprechen. Ich bin sowieso neugierig, was da eigentlich los war.« Er stand auf und wandte sich zum Gehen. »Ich melde mich am Abend telefonisch«, meinte er im Hinausgehen.
Unabhängig von Bürgermeister Lattuga hatte ein opernnärrischer und deswegen ebenfalls am Grinzinger Friedhof anwesender Ministerialrat aus dem Innenministerium seinen zukünftigen Sektionschef und derzeitigen obersten Boss, den Minister, über das aktuelle Geschehen informiert.
Die nicht nur etwas widersprüchlich klingende Situation war dem Umstand zu verdanken, dass es die beiden großen Parteien nach den Wahlen vom 10. November des Vorjahres nach 16 Wochen noch immer nicht geschafft hatten, eine tragfähige Koalitionsvereinbarung auszuhandeln. Was nur zum geringeren Teil an echten inhaltlichen Stolpersteinen, sondern hauptsächlich an einer demokratischen Unreife einiger der handelnden Personen lag.
Aus diesem Grund war der als reine Übergangslösung gedachte Innenminister Dr. Michael ›Miki‹ Schneckenburger nach wie vor Mitglied der vom Bundespräsidenten mit der vorläufigen Weiterführung der Geschäfte provisorisch beauftragten Regierung.
Es handelte sich sozusagen um eine doppelte Übergangslösung, um ein Provisorium innerhalb eines zweiten. Egal, Palinskis Freund Miki fand immer mehr Gefallen an dem neuen Job und den damit verbundenen Möglichkeiten.
Daher hatte er sich als für Leichenraub zumindest mittelbar zuständiger Ressortchef sofort mit dem Bundeskriminalamt in Verbindung gesetzt und nach Chefinspektor Helmut Wallner verlangt. Der war allerdings dermaßen unverantwortlich gewesen und hatte sich einige Tage freigenommen und wollte diese im Ausland verbringen.
In diesem Fall musste sich Schneckenburger mit Hauptmann Bachmayer zufriedengeben, dem Stellvertreter Wallners. Aber bitte, soweit dem Minister geläufig war, sollte das auch ein recht tüchtiger Mann sein.
Und so kam es, dass sich eine knappe halbe Stunde später sogar der Innenminister in Begleitung einiger Experten aus dem BK unter die ratlose Menge am Grinzinger Friedhof mischte und dem Fernsehen einige tolle Statements für die Abendnachrichten lieferte.
Von den sterblichen Überresten des Kammersängers Konstantin Boreskov fehlte allerdings nach wie vor jede Spur.