Nora Roberts zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen Amerikas. Seit 1981 hat sie über 100 Romane veröffentlicht, die in knapp 30 Sprachen übersetzt wurden. Für ihre internationalen Bestseller erhielt sie nicht nur zahlreiche Auszeichnungen, sondern auch die Ehre, als erste Frau in die Ruhmeshalle der Romance Writers of America aufgenommen zu werden. Nora Roberts lebt in Maryland.
Chicago, 1994
Es war Mitternacht in Chicago, eine Nacht ohne Mond. Deanna kam sich in diesem Augenblick allerdings vor wie in dem Film Zwölf Uhr mittags. Ohne Schwierigkeiten konnte sie sich in die Rolle des ruhigen, würdevollen, beherzten Gary Cooper hineinversetzen, der sich gerade darauf vorbereitete, den verschlagenen, rachsüchtigen Revolverhelden zur Strecke zu bringen.
Verdammt! dachte Deanna. Chicago war doch ihre Stadt und Angela die Außenstehende!
Vermutlich entsprach es Angelas Sinn für Dramatik, sie genau in dem Studio zur entscheidenden Kraftprobe herauszufordern, in dem sie beide die schlüpfrige Leiter ihrer ehrgeizigen Bestrebungen erklommen hatten, dachte Deanna. Mittlerweile jedoch war das hier ihr Studio und ihre Talk-Show – Deannas Stunde –, die den Löwenanteil an Einschaltquoten einbrachte, und daran würde auch Angela nichts ändern können, es sei denn, sie ließ Elvis von den Toten auferstehen und bat ihn, dem Studiopublikum ›Heartbreak Hotel‹ vorzusingen.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Deannas Lippen, doch war ihr keineswegs zum Scherzen zumute. Angela – eine würdige Gegnerin! Die ganzen Jahre hindurch hatte sie mit einer abscheulichen Taktik dafür gesorgt, daß ihre tägliche Talk-Show auf dem ersten Platz blieb.
Doch was immer Angela dieses Mal auch im Schilde führen mochte, ihre Strategie würde nicht aufgehen. Sie hatte Deanna Reynolds unterschätzt. Sollte sie doch nur von Geheimnissen munkeln und mit Skandalen drohen, soviel sie wollte! Sie konnte unmöglich irgend etwas vorbringen, das Deanna veranlassen würde, ihre Pläne zu ändern.
Jedenfalls werde ich Angela ausreden lassen, dachte Deanna. Vielleicht werde ich sogar ein letztes Mal versuchen, mich auf einen Kompromiß einzulassen, und ihr zwar nicht gerade meine Freundschaft, aber doch zumindest einen einstweiligen Waffenstillstand anzubieten. Es gab zwar nur wenig Grund zu der Hoffnung, daß nach dieser ganzen Zeit und all diesen Feindseligkeiten die Kluft zwischen ihnen überbrückt werden konnte, doch war Deanna der Ansicht, daß man die Hoffnung nie aufgeben sollte.
Zumindest, solange es noch ein Fünkchen Hoffnung gab.
Die junge Frau lenkte ihre Gedanken wieder auf das, was sie gerade tat, und fuhr auf den Parkplatz des CBC-Gebäudes. Tagsüber war dieser Parkplatz völlig überfüllt; Leute von der Technik und aus den Redaktionen, Produzenten und Regisseure, Sekretärinnen, Künstler, Schauspieler, Moderatoren und die vielen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – alle stellten hier ihren Wagen ab. Sie selbst ließ sich immer von ihrem Fahrer absetzen und wieder abholen und vermied so das lärmende Durcheinander. Im Innern des großen weißen Gebäudes hasteten normalerweise die Menschen hin und her, um die Nachrichten auf die Beine zu stellen, die um sieben Uhr morgens, zwölf Uhr mittags, fünf Uhr nachmittags und zehn Uhr abends ausgestrahlt wurden. Auch die Sendungen Das Kochstudio mit Bobby Marks, das allwöchentliche Magazin Nachgefragt mit Finn Riley und die landesweit beste Talk-Show, Deannas Stunde, wurden hier produziert.
Jetzt jedoch, kurz nach Mitternacht, war der Parkplatz nahezu leer. Nur ein halbes Dutzend Autos waren zu sehen. Sie gehörten dem Stammpersonal, das sich in der Nachrichtenredaktion die Zeit um die Ohren schlug und darauf wartete, daß irgendwo in der Welt etwas passierte. Wahrscheinlich hofften sie darauf, daß der Ausbruch neuer Kriege bis zum Ende der einsamen Nachtschicht auf sich warten ließ.
Während Deanna ihren Wagen einparkte und den Motor abschaltete, wünschte sie sich, woanders zu sein, ganz egal wo. Für einen Moment blieb sie einfach sitzen und lauschte in die Nacht hinein, hörte das Brausen des Straßenverkehrs und das Dröhnen der gewaltigen Klimaanlage, die das Gebäude und die teuren Gerätschaften darin kühl hielt. Bevor sie Angela gegenübertrat, mußte sie unbedingt ihre widersprüchlichen Gefühle in den Griff bekommen und ihre seelische Stärke wiedergewinnen.
Seelenstärke und Selbstbeherrschung waren in dem Beruf, den sie sich ausgesucht hatte, zu ihrer zweiten Natur geworden; erst diese Eigenschaften befähigten sie zu ihrer Arbeit. Eigentlich hatte sie ihr Temperament unter Kontrolle, denn es führte zu nichts, die Fassung zu verlieren. Bei den starken und sich widersprechenden Gefühlen, die momentan mit ihr durchzugehen drohten, war das jedoch anders. Auch nach der ganzen Zeit, die mittlerweile verstrichen war, fiel es schwer zu vergessen, daß die Frau, der sie gleich gegenüberstehen würde, eine Person war, die sie einmal bewundert und respektiert und der sie vertraut hatte.
Aus bitterer Erfahrung wußte Deanna, daß Angela eine Expertin im Manipulieren von Gefühlen war. Deannas Problem – und nach den Äußerungen vieler auch ihre besondere Stärke – bestand darin, daß sie unfähig war, ihre Gefühle zu verbergen. Sie standen ihr einfach ins Gesicht geschrieben und sprachen für jeden, der darauf achtete, eine deutliche Sprache. Was immer sie gerade fühlte, spiegelte sich in ihren grauen Augen, wurde durch die Neigung des Kopfes oder den Ausdruck ihres Mundes offenbar. Einige meinten, genau dadurch würde sie unwiderstehlich und gefährlich. Mit einer schnellen Bewegung des Handgelenks drehte Deanna den Rückspiegel auf sich zu. Ja, dachte sie versonnen, sie konnte sehen, daß ihre Augen vor Wut funkelten, konnte den verhaltenen Groll und den Schmerz, der auf ihrer Seele lastete, erkennen. Immerhin waren sie und Angela einmal Freundinnen gewesen oder hatten zumindest kurz davor gestanden, welche zu werden.
Doch Deanna verspürte auch eine gewisse Vorfreude. Es ging um ihren Stolz, und das anstehende Wortgefecht war schon lange überfällig gewesen.
Mit einem dünnen Lächeln brachte sie einen Lippenstift zum Vorschein und bemalte sorgfältig ihren Mund. Ohne diesen elementarsten Schutz sollte sie nicht in den Schlagabtausch mit ihrer Erzrivalin gehen. Erfreut über ihre völlig ruhige Hand ließ sie den Lippenstift wieder in die Handtasche fallen und stieg aus dem Wagen. Einen Augenblick lang stand sie da, atmete die milde Nachtluft ein und stellte sich die eine Frage.
Bist du ruhig, Deanna?
Nein, dachte sie, innerlich rotiere ich. Solange das jedoch ihrer Kraft zugute kam, war das nicht weiter schlimm. Deanna schlug die Autotür zu und ging mit energischen Schritten über den Parkplatz. Sie zog den Plastikausweis aus der Tasche und steckte ihn in den Sicherheitsschlitz neben dem Hintereingang. Sekunden später leuchtete ein kleines grünes Licht auf, und ein Klicken zeigte an, daß sie die Türklinke nach unten drücken und die schwere Tür aufziehen konnte.
Sie knipste die Treppenbeleuchtung an und ließ die Tür hinter sich sanft ins Schloß fallen.
Interessant, daß Angela nicht schon vor mir da ist, dachte sie. Wahrscheinlich wird sie den Fahrdienst genommen haben. Seit Angela sich in New York niedergelassen hatte, stand ihr in Chicago nicht mehr rund um die Uhr ein Fahrer zur Verfügung. Überrascht stellte Deanna fest, daß sie auf dem Parkplatz gar keine Limousine gesehen hatte, die auf Angela wartete.
Angela war sonst wirklich immer sehr pünktlich, und das war eines der vielen Dinge, die Deanna an ihr schätzte.
Während sie ein Stockwerk nach unten ging, wurde das Klicken ihrer Absätze auf den Treppenstufen mit einem hohlen Echo von den Wänden zurückgeworfen. Als sie ihren Ausweis in den nächsten Sicherheitsschlitz gleiten ließ, fragte sie sich kurz, wen Angela wohl geschmiert, bedroht oder verführt haben mochte, um Einlaß in dieses Studio zu bekommen.
Vor gar nicht so vielen Jahren war Deanna genau diesen Weg noch mit weit aufgerissenen Augen und voller Enthusiasmus entlanggeeilt, wenn Angela sie mit einem fordernden Fingerschnippen gebeten hatte, irgendwelche Aufträge für sie auszuführen. Wie ein kleines Hündchen hatte sie jedem Zeichen der Anerkennung entgegengefiebert. Doch wie jeder kluge kleine Hund hatte auch sie dazugelernt.
Als es dann zum Verrat und ihrer abrupten und schmerzhaften Desillusionierung gekommen war, hätte sie – um bei dem Vergleich mit dem kleinen Hund zu bleiben – herumwinseln können. Statt dessen hatte sie ihre Wunden geleckt und sich alles nutzbar gemacht, was sie gelernt hatte – bis die Schülerin zur Meisterin geworden war.
Eigentlich hätte sie die Entdeckung, wie schnell alte Ressentiments und seit langem verflogener Groll wieder aufflammen können, nicht weiter überraschen sollen. Dieses Mal würde sie Angela in ihrem eigenen Revier gegenüberstehen, dachte Deanna, und das Treffen würde nach ihren Regeln ablaufen. Das naive Mädchen aus Kansas brannte inzwischen darauf, ihrer Kontrahentin zu beweisen, daß ihre Ambitionen Wirklichkeit geworden waren.
Und hatte Deanna das erst einmal getan, würde es ja vielleicht die Atmosphäre zwischen ihnen bereinigen, so daß sie sich beide auf der gleichen Ebene begegnen konnten. Sollte es nicht gelingen, zu vergessen, was in der Vergangenheit zwischen ihnen vorgefallen war, konnten sie das immer noch akzeptieren und ihrer Wege gehen.
Deanna ließ ihren Ausweis in den Schlitz neben den Türen zum Studio gleiten. Das Licht blinkte grün auf. Sie schob sich nach innen, in die Dunkelheit hinein.
Das Studio war leer, was sie freute.
Als erste hier anzukommen verschaffte ihr einen weiteren Vorteil, denn sie würde dann als Talkmasterin den unwillkommenen Gast an einen ihr wohlvertrauten Ort führen, an dem sie sich ganz wie zu Hause fühlte. In diesem Studio war Deanna vom Mädchen zur Frau herangereift, hier hatte sie gelernt und sich herumgezankt; insofern war das Studio wirklich ihr Zuhause.
Mit einem feinen Lächeln streckte Deanna in der Dunkelheit den Arm nach dem Schalter aus, mit dem das Lampenaggregat an der Decke eingeschaltet wurde. Sie vermeinte, etwas gehört zu haben, ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern. Und die Vorfreude, die sie verspürte, wurde jäh von dem Gefühl durchbrochen, nicht allein zu sein.
Angela, dachte sie und betätigte den Schalter.
Doch als die Strahler an der Decke aufflammten, explodierten gleichzeitig hellere, blendendere Lichter in ihrem Kopf. Schmerz durchzuckte sie, und sie versank wieder in der Dunkelheit.
Stöhnend erlangte sie allmählich wieder das Bewußtsein. Ihr Kopf hing nach hinten, stieß gegen einen Sessel, tat fürchterlich weh. Desorientiert hob sie erschöpft eine wacklige Hand an die Stelle, an der der Schmerz am schlimmsten war. Leicht mit Blut beschmiert, bewegten sich die Finger wieder davon weg.
Verzweifelt versuchte sie, sich zu konzentrieren, und stellte verblüfft fest, daß sie an ihrem Stammplatz in dem ihr wohlbekannten Studio saß. Hatte sie einen Einsatz verpaßt? fragte sie sich und starrte benommen auf die Kamera, an der das rote Licht aufleuchtete.
Doch hinter der Kamera war kein Studiopublikum zu sehen, außerhalb des von den Kameras erfaßten Bereiches herrschte bei den Leuten von der Technik kein geschäftiges Treiben. Obwohl die Deckenlichter mit der vertrauten Hitze auf Deanna herunterfluteten, war keine Talk-Show im Gang.
Deanna erinnerte sich daran, daß sie eigentlich gekommen war, um sich mit Angela zu treffen.
Wie Wasser, in das ein Stein geworfen wurde, begann ihr Gesichtsfeld erneut zu schwanken. Sie blinzelte, um klarer sehen zu können, und ihr Blick blieb an den beiden Bildern auf dem Monitor hängen. Dort sah sie sich selbst, blaß und mit glasigen Augen. Dann bemerkte sie voller Entsetzen den Gast im Sessel neben sich.
Angelas rosafarbenes Seidenkostüm war mit Knöpfen aus Perlen verziert. Um den Hals trug sie eine zu diesen passende Perlenkette und kleine Trauben aus diesen Perlen als Ohrringe. Angelas goldfarbenes Haar war zu einer lieblichen Frisur zurechtgemacht, sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und die gefalteten Hände über die rechte Armlehne ihres Sessels gelegt.
Jeder Irrtum war ausgeschlossen – das mußte Angela sein, auch wenn von ihrem Gesicht nicht mehr viel zu erkennen war.
Die rosafarbene Seide war mit Blut bespritzt, und frisches Blut rann fast gemächlich von dort herunter, wo eigentlich dieses schöne, kluge Gesicht sein sollte.
Deanna fing an zu schreien.
Chicago, 1990
Fünf, vier, drei …
Deanna lächelte von ihrem Platz im Mittagsmagazin-Studio aus in die Kamera. »Unser Gast heute nachmittag ist Jonathan Monroe, ein hiesiger Schriftsteller, der gerade ein Buch mit dem Titel Ich will, was mir zusteht! veröffentlicht hat.« Sie hob das dünne Buch von dem kleinen runden Tisch zwischen den Stühlen in die Höhe und versuchte, es vor die zweite Kamera zu bringen. »Jonathan, Sie haben diesem Buch den Untertitel Gesunder Egoismus gegeben. Was hat Sie veranlaßt, über eine Eigenschaft zu schreiben, die die meisten Menschen als charakterliche Schwäche ansehen?«
»Nun ja, Deanna.« Der kleine Mann mit dem heiteren Lächeln, dem die Strahler die Schweißperlen auf die Stirn trieben, lachte vergnügt in sich hinein. »Mein gesunder Egoismus eben.«
Gut geantwortet, dachte sie. Ihr war jedoch klar, daß er das nicht weiter ausführen würde, wenn sie nicht ein wenig nachhalf. »Wenn wir ehrlich sind, ist das doch bei uns allen so, oder nicht?« fragte sie und versuchte ihren Gast ein wenig aufzulockern, indem sie ihm ein Gefühl von Kameradschaftlichkeit vermittelte. »Jonathan, in Ihrem Buch behaupten Sie, daß schon im Kinderzimmer Eltern und Betreuer damit beginnen, diesen gesunden Egoismus zu unterdrücken.«
»Ganz genau.« Sein starres Lächeln blieb unverändert, während sein Blick voller Panik hin und her schnellte.
Deanna rutschte auf ihrem Sessel ein wenig nach vorne und legte unterhalb des von den Kameras erfaßten Bereichs die Hand auf seine starren Finger. Ihr Blick strahlte Interesse aus, ihre Berührung vermittelte Unterstützung. »Sie sind der Meinung, die Forderung der Erwachsenen, Kinder sollten ihr Spielzeug mit anderen teilen, schaffe einen unnatürlichen Präzedenzfall.« Aufmunternd drückte sie ihm die Hand. »Haben Sie nicht das Gefühl, daß das Teilen eine elementare Form der Höflichkeit darstellt?«
»Überhaupt nicht!« Mit diesen Worten begann Jonathan, ihr seine Gründe dafür zu erläutern. Obwohl er seine Erklärungen nur stockend von sich gab, konnte sie ihm immer wieder über seine Unbeholfenheit hinweghelfen und ihn so sicher durch den drei Minuten und fünfzehn Sekunden langen Beitrag führen.
»Soviel also zu dem Buch Ich will, was mir zusteht! von Jonathan Monroe«, sagte sie abschließend in die Kamera. »Es ist überall im Buchhandel erhältlich. Vielen, vielen Dank, daß Sie heute zu uns gekommen sind, Jonathan.«
»Es war mir ein Vergnügen. Nebenbei bemerkt, arbeite ich gegenwärtig an meinem zweiten Buch mit dem Titel Platz da, ich war zuerst da! Darin geht es um gesunde Aggression.«
»Viel Glück damit! Gleich sind wir wieder da mit dem Rest vom Mittagsmagazin.« Sobald die Werbung begonnen hatte, lächelte sie Jonathan an. »Sie waren großartig! Ich schätze es sehr, daß Sie gekommen sind.«
»Ich hoffe, ich habe es gut gemacht.« Sobald sein Mikrofon entfernt worden war, zückte Jonathan ein Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Ich war jetzt das erste Mal im Fernsehen.«
»Sie haben das sehr gut gemacht. Ich glaube, das wird eine Menge Interesse an Ihrem Buch hervorrufen.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Aber sicher. Würden Sie dieses Exemplar Ihres Buches wohl für mich signieren?«
Jonathan strahlte wieder, nahm das Buch und den von ihr angebotenen Stift entgegen. »Sie haben mir die Sache aber auch leicht gemacht, Deanna. Heute morgen gab ich ein Radiointerview, bei dem der Moderator nicht einmal den Text auf der Buchrückseite gelesen hatte.«
Sie griff nach dem mit einem Autogramm versehenen Buch und stand auf; in Gedanken war sie bereits am Nachrichtentisch auf der anderen Seite des Studios. »Das macht es allen schwer. Noch einmal vielen Dank«, sagte sie und reichte ihm die Hand. »Ich hoffe, Sie kommen mit Ihrem nächsten Buch wieder zu uns.«
»Aber gerne!« erwiderte er. Deanna jedoch war bereits gegangen, bewegte sich geschickt über die Kabelschlangen am Boden hinweg und nahm ihren Platz hinter dem Tisch der Nachrichtenredaktion ein. Sie ließ das Buch darunter verschwinden und befestigte das Mikrofon am Revers ihres roten Kostüms.
»Noch so ein Spinner!« Eine solche Bemerkung konnte nur von ihrem Komoderator Roger Crowell kommen.
»Er war sehr nett.«
»Du findest doch alle sehr nett, und die Spinner ganz besonders.« Grinsend warf Roger einen prüfenden Blick in seinen Handspiegel und rückte kaum merklich die Krawatte zurecht. Sein reifes, vertrauenswürdiges Gesicht mit den vornehm an den Schläfen ergrauten rostfarbenen Haaren gab vor der Kamera immer ein gutes Bild ab.
»Deswegen hast ja auch du einen festen Platz in meinem Herzen, Rog.«
Die Bemerkung erzeugte bei den Männern hinter der Kamera ein verstohlenes Kichern. Die Antwort, die Roger darauf geben wollte, wurde vom Aufnahmeleiter abgewürgt, der ihnen signalisierte, wieviel Zeit noch blieb. Während auf dem optischen Souffleur über der Kamera der Sprechtext abrollte, lächelte Roger in diese hinein und schlug den richtigen Ton für einen erfreulichen Beitrag über die Geburt von Zwillingstigern im städtischen Zoo an.
»Das ist für heute alles im Mittagsmagazin. Bleiben Sie dran für Das Kochstudio. Mein Name ist Roger Crowell.«
»Und ich heiße Deanna Reynolds. Bis morgen.«
Als die Klänge der Abschlußmusik aus ihrem Kopfhörer drangen, drehte sich Deanna zu Roger um und lächelte ihn an. »Du bist ein Softie, mein Guter. Den Beitrag über die kleinen Tigerbabies hast du doch selbst geschrieben, er trug eindeutig deine Handschrift.«
Er errötete ein wenig, zwinkerte ihr dann jedoch zu. »Ich gebe ihnen genau das, was sie haben wollen, Süße.«
»So, das hätten wir«, meinte der Aufnahmeleiter und streckte seine Schultern. »Die Sendung war gut, ihr zwei.«
»Danke, Jack.« Deanna löste bereits ihr Mikrofon vom Revers.
»He, ißt du etwas zu Mittag?« Roger war für ein Essen immer zu haben und glich sein inniges Verhältnis zu diesen Genüssen mit Hilfe seines persönlichen Trainers wieder aus. Vor dem gnadenlosen Auge der Kamera ließen sich nämlich keine überflüssigen Pfunde verstecken.
»Geht nicht. Ich habe noch zu tun.«
Roger stand auf. Unter seiner tadellosen blauen Sergejacke trug er unglaublich schrille Bermudashorts. »Sag mir bitte nicht, du erledigst einen Auftrag für den Schrecken von Studio B.«
Ein kaum wahrnehmbarer Ausdruck der Verärgerung trübte für einen kurzen Moment ihren Blick. »Wie du willst, dann sage ich halt nichts dazu.«
»Komm schon, Dee!« Kurz bevor Deanna den Aufbau für die Nachrichten verlassen hatte, hatte Roger sie eingeholt. »Jetzt sei doch nicht gleich sauer.«
»Ich habe mit keinem Wort gesagt, daß ich sauer bin.«
»Das ist auch gar nicht nötig.« Sie gingen die breite Stufe hinunter, die vom prächtig aufgemachten Bühnenaufbau zum zerkratzten Holzboden hinabführte, bewegten sich an den Kameras und Kabeln vorbei und schoben sich gleichzeitig durch die Studiotüren. »Du bist sauer, das sieht man dir doch an. Dann bekommst du nämlich immer diese Falte zwischen deinen Augenbrauen. Schau nur!« Er nahm ihren Arm und zog sie in den Schminkraum. Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, stellte er sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. Gemeinsam schauten sie in den Spiegel. »Siehst du, sie ist immer noch da.«
Mit einem Lächeln entspannte sie sich und ließ die Falte auf der Stirn bewußt verschwinden. »Ich kann nichts sehen.«
»Dann laß mich dir sagen, was ich sehe: den Traum aller Männer vom Mädchen nebenan, gesunden natürlichen Sex, gepaart mit Raffinesse.« Auf den finsteren Blick, den sie ihm zuwarf, reagierte er nur mit einem Grinsen. »Und das ist nur das, was man von außen sieht, Kleine. Diese großen Augen, die einen dazu bringen, ihnen unwillkürlich zu vertrauen, ein Gedicht, einfach prima. Für eine Fernsehreporterin sind das gar keine schlechten Eigenschaften.«
»Und was ist mit ihrer Intelligenz?« entgegnete sie. »Was ist mit ihren Fähigkeiten, etwas gut zu Papier zu bringen, was ist mit ihrem Schneid?«
»Wir sprechen jetzt nur über das, was von außen sichtbar ist.« Sein Lächeln blitzte auf und ließ die charakteristischen Lachfältchen um seine Augen herum noch deutlicher hervortreten. Niemand beim Fernsehen würde es wagen, sie als Runzeln zu bezeichnen. »Die letzte Moderatorin, mit der ich zusammengearbeitet habe, war eine richtige Sexbombe. Sie bestand fast nur aus Fönfrisur und perfekten Zähnen und machte sich eher Sorgen um ihre Wimpern, anstatt etwas Schwung in die Sendung zu bringen.«
»Mittlerweile moderiert sie die Nachrichten im zweitgrößten Sender von Los Angeles.« Sie kannte die Spielregeln der Branche, aber niemand konnte sie zwingen, daran Gefallen zu finden. »Es geht das Gerücht um, daß man sie für das Sendernetz aufbauen will.«
»So ist das nun mal. Ich persönlich schätze es sehr, jemanden am Tisch sitzen zu haben, der über ein wenig Grips verfügt, aber wir sollten nicht vergessen, was wir sind.«
»Ich dachte, wir seien Journalisten.«
»Fernsehjournalisten. Dein Gesicht ist wie für die Kamera gemacht, und es verrät deine Gedanken und deine Gefühle. Das einzige Problem dabei ist nur, daß das auch ohne Kamera so ist, und dadurch wirst du angreifbar. Eine Frau wie Angela verspeist kleine Mädchen vom Lande wie dich doch zum Frühstück.«
»Ich komme nicht vom Lande«, meinte sie humorlos.
»Könnte aber gut sein.« Freundschaftlich drückte er ihr die Schultern. »Wer ist eigentlich dein Freund, Dee?«
Mit einem Seufzer verdrehte sie die Augen. »Du natürlich, Roger.«
»Sei bei Angela vorsichtig.«
»Hör mal, ich weiß, daß sie im Ruf steht, sehr launisch zu sein …«
»Sie steht im Ruf, ein richtiges Miststück zu sein.«
Deanna trat einen Schritt von Roger weg und öffnete den Deckel eines Topfes mit Cold Cream, um ihr dickes Make-up zu entfernen. Ihr gefiel es nicht, wenn ihre Mitarbeiter gegeneinander ausgespielt wurden und miteinander um ihre Zeit konkurrierten. Genausowenig mochte sie das Gefühl, dazu gedrängt zu werden, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Es war schwierig genug gewesen, ihre Verantwortlichkeiten in der Nachrichtenredaktion und vor der Kamera und die Gefälligkeiten, die sie Angela erwies, unter einen Hut zu bringen. Und das, was sie für Angela tat, waren tatsächlich nur Gefälligkeiten, und spielte sich überwiegend in ihrer Freizeit ab.
»Zu mir war sie jedenfalls immer sehr freundlich. Meine Arbeit für das Mittagsmagazin und Deannas Viertelstunde gefielen ihr, und sie will mir sogar dabei helfen, meinen Stil noch zu vervollkommnen.«
»Sie nutzt dich nur aus.«
»Sie bringt mir etwas bei«, korrigierte Deanna und warf die für das Abschminken benutzten Wattebäusche beiseite. Ihre Bewegungen waren schnell und geübt, und sie traf die Mitte des Abfalleimers so sicher wie ein erfahrener Basketballspieler. »Es hat schon seine Gründe, daß Angelas Talk-Show als die beste überhaupt gilt, und ich hätte Jahre gebraucht, um die ganzen Feinheiten dieser Arbeit zu lernen, die ich in wenigen Monaten von ihr mitbekommen habe.«
»Und du meinst wirklich, sie gibt dir von diesem Kuchen ein Stück ab?«
Sie zog einen Flunsch, denn selbstverständlich wollte sie ein schönes, großes Stück dieses Kuchens für sich. Gesunder Egoismus, dachte sie und lachte in sich hinein. »Immerhin bin ich keine Konkurrenz für sie.«
»Noch nicht.« Roger wußte jedoch, daß das irgendwann einmal der Fall sein würde. Es überraschte ihn, daß Angela den Ehrgeiz übersah, der immer wieder in Deannas Augen aufglomm. Egozentrik macht einen eben oft blind, dachte er versonnen. Es hatte seine Gründe, daß er so gut darüber Bescheid wußte. »Ich gebe dir einen freundschaftlichen Rat: Liefere ihr nicht noch zusätzliche Munition.« Er bedachte sie mit einem letzten prüfenden Blick, während Deanna sich noch schnell für die Straße schminkte. Sie mochte ja vielleicht naiv sein, grübelte er, dickköpfig war sie jedenfalls obendrein noch. Ihr Mund und die Neigung ihres Kinns verrieten ihm das. »Ich muß mich noch um eine Aufzeichnung kümmern.« Sie zupfte an ihren Haaren. »Bis morgen dann.«
»Ja.« Als Deanna allein war, klopfte sie mit ihrem Augenstift auf den Schminktisch. Sie hielt nicht alles für unbegründet, was Roger gesagt hatte. Weil Angela Perfektionistin war, für ihre Talk-Show Höchstleistungen einforderte und diese auch geboten bekam, hatte sie den Ruf, sehr streng zu sein. Und das zahlte sich aus. Seit sechs Jahren wurde ihr Material überallhin verkauft, und ihre Talk-Show Angela war jetzt mehr als drei Jahre lang die unbestrittene Nummer eins.
Da sowohl Angela als auch das Mittagsmagazin in den CBC-Studios aufgezeichnet wurde, war Angela durchaus imstande, ein wenig Druck auszuüben, damit Deanna mehr Zeit für sie erübrigen konnte.
Es traf auch zu, daß Angela sich Deanna gegenüber immer freundlich verhalten hatte und ihr mit einer Freundschaft und einer Bereitschaft, mit ihr zu teilen, begegnete, die in der ganz auf Konkurrenz eingestellten Welt des Fernsehens eher Seltenheitswert hatte.
War es naiv, auf Freundlichkeit zu vertrauen? Deanna war nicht dieser Ansicht. Allerdings war sie auch nicht so dumm zu glauben, daß Freundlichkeit immer belohnt wurde.
Nachdenklich nahm sie die Bürste mit ihrem Namen darauf in die Hand und zog sie durch ihr schulterlanges, schwarzes Haar. Wenn ihre Haut nicht von der dicken Schicht Theaterschminke bedeckt wurde, die im Licht der hellen Lampen und vor der Kamera erforderlich war, erinnerte sie mit ihrer vornehmen Blässe an Porzellan und stand damit in dramatischem Kontrast zu der tiefschwarzen Mähne ihrer Haare und den rauchgrauen, ein wenig schräg stehenden Augen. Um dem Ganzen noch eine zusätzliche dramatische Note zu geben, hatte sie ihre Lippen rosarot geschminkt.
Zufrieden zog sie die Haare mit zwei flinken Bewegungen der Handgelenke zu einem Pferdeschwanz nach hinten.
Sie hatte nie vorgehabt, Angela Konkurrenz zu machen. Obwohl sie hoffte, das Gelernte dazu nutzen zu können, ihre eigene Karriere voranzutreiben, wollte sie eigentlich nur irgendwann einmal einen festen Platz im Sendernetz erhalten. Und Deannas Viertelstunde, ihren wöchentlichen Beitrag zu den Mittagsnachrichten, zu einer richtigen eigenen Talk-Show auszuweiten, lag durchaus im Bereich des Möglichen. Aber auch das würde Angela, der unumstrittenen Königin auf dem Gebiet der Talk-Shows, noch lange nicht den Rang ablaufen.
Die neunziger Jahre waren für alle möglichen Stile und Shows weit offen. Sollte sie tatsächlich Erfolg haben, würde dieser auf dem beruhen, was ihr ihre meisterhafte Lehrerin beigebracht hatte. Und dafür würde sie Angela immer dankbar sein.
»Wenn dieser Mistkerl denkt, ich ließe mich von ihm einwickeln, steht ihm eine unangenehme Überraschung ins Haus!« Angela Perkins warf dem Abbild ihres Produzenten im Spiegel ihrer Garderobe einen wütenden Blick zu. »Er war damit einverstanden, in der Show zu erscheinen, um sein neues Album anzupreisen, und dafür hat er gefälligst einiges einzustecken, Lew. Wir sichern ihm landesweite Aufmerksamkeit, also wird er verdammt noch mal einige Fragen über die gegen ihn bestehenden Klagen wegen Steuerhinterziehung beantworten müssen.«
»Er hat doch gar nicht gesagt, daß er nicht darauf antworten will, Angela.« Der dumpfe Schmerz hinter Lew McNeils Augen war noch stark genug, um ihn hoffen zu lassen, er würde bald vorübergehen. »Er meinte nur, nichts Genaueres darüber sagen zu können, solange der Fall noch nicht entschieden sei. Ihm wäre es lieber, du würdest dich auf seine Karriere konzentrieren.«
»Ich wäre nie soweit gekommen, wenn ich zulassen würde, daß ein Gast mir meine Talk-Show diktiert, nicht wahr?« Sie stieß einen weiteren deftigen Fluch aus, drehte sich dann auf dem Stuhl herum und fauchte Marcie, ihre Friseuse an: »Wenn Sie mir noch einmal an den Haaren ziehen, meine Liebe, lasse ich Sie die Lockenwickler mit den Zähnen vom Boden aufheben.«
»Entschuldigen Sie, Miss Perkins, aber Ihre Haare sind einfach zu kurz …«
»Bringen Sie die Sache jetzt endlich zu Ende!« Angela wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu und entspannte mit einer bewußten Anstrengung ihre Gesichtszüge. Sie wußte, wie wichtig es war, unabhängig von der Höhe des Adrenalinspiegels vor einem Auftritt die Gesichtsmuskeln zu entspannen. Wie einem alten Freund, mit dem sich eine Frau zum Mittagessen verabredet hat, entging der Kamera nämlich nicht die kleinste Falte im Gesicht. Daher atmete Angela tief ein und aus und schloß für einen Moment die Augen, um ihrem Produzenten zu verstehen zu geben, er solle jetzt den Mund halten. Als sie die Augen wieder öffnete, waren sie klar wie hellblaue, von seidigen Wimpern umrahmte Diamanten.
Marcie strich ihre Haare jetzt mit schwungvollen Bewegungen nach hinten und formte sie zu einem welligen blonden Heiligenschein. Angela lächelte. Die Frisur stand ihr gut, entschied sie. Sie war ausgeklügelt und hatte Pfiff, wirkte aber nicht bedrohlich; sie war très chic, machte aber keinen gekünstelten Eindruck. Angela überprüfte die Gestaltung ihrer Frisur aus jedem Winkel heraus, bevor sie Marcie mit einem Nicken das Kommando zum Weitermachen gab.
»Das ist sehr gut geworden.« Angela ließ ihr dynamisches Lächeln aufblitzen, durch das Marcie die vorherige Drohung wieder vergaß. »Ich fühle mich zehn Jahre jünger.«
»Sie sehen wunderbar aus, Miss Perkins.«
»Dank Ihnen.« Entspannt und zufrieden spielte Angela mit den Perlen an ihrem Hals, die zu ihrem Markenzeichen geworden waren. »Und wie geht es Ihnen mit dem neuen Mann in Ihrem Leben, Marcie? Behandelt er Sie gut?«
»Er ist toll.« Marcie grinste und verpaßte Angelas Haaren eine reichliche Portion Spray, damit die Frisur auch in Form blieb. »Ich denke, er könnte der Richtige sein.«
»Wie schön für Sie. Wenn er Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten macht, sagen Sie mir Bescheid.« Sie zwinkerte ihr zu. »Ich werde ihm schon den Kopf zurechtsetzen.«
Mit einem Lachen zog sich die junge Frau zurück. »Danke, Miss Perkins. Ich wünsche Ihnen für diesen Morgen viel Glück.«
»Mmmm-hmmm. Nun, Lew …« Angela lächelte und hob ihm eine Hand entgegen. Der Händedruck war aufmunternd, feminin, freundlich. »Mach dir keine Sorgen. Halte unseren Gast einfach bei Laune, bis wir auf Sendung gehen. Um den Rest kümmere ich mich.«
»Er will dein Wort, Angela.«
»Dann gib ihm doch, wonach es ihn verlangt, Süßer.« Sie lachte. Lews Kopfschmerzen verstärkten sich plötzlich ins Unerträgliche. »Und jetzt quäl dich bitte nicht so.« Sie beugte sich nach vorne, um der Packung auf dem Toilettentisch eine Zigarette zu entnehmen, zündete diese mit einem goldenen, mit einem Monogramm versehenen Feuerzeug an, das ihr zweiter Mann ihr geschenkt hatte, und ließ den Rauch in einem einzigen dünnen Strahl aus dem Mund strömen.
Lew wird allmählich schlaff, dachte sie, und zwar als Person und in seinem Beruf. Obwohl er den von ihrer Kleiderordnung vorgeschriebenen Anzug und Krawatte trug, hingen seine Schultern herab, als würden sie durch das Gewicht seines sich immer weiter ausdehnenden Bauches nach unten gezogen. Auch seine Haare begannen sich zu lichten und hatten dicke, graue Strähnen bekommen, stellte sie fest. Angelas Talk-Show war für Spritzigkeit und Tempo bekannt, und ihr gefiel es ganz und gar nicht, daß ihr Produzent wie ein kleiner, dicker, alter Mann aussah.
»Nach all diesen vielen Jahren solltest du mir eigentlich vertrauen, Lew.«
»Angela, wenn du Deke Barrow angreifst, machst du es sehr schwer für uns, andere prominente Persönlichkeiten als Teilnehmer zu gewinnen.«
»Blödsinn. Die setzen doch alles daran, eine Chance zu bekommen, in meiner Talk-Show aufzutreten.« Sie stieß mit ihrer Zigarette wie mit einer Lanze in die Luft. »Sie wollen, daß ich ihre Filme, ihre Sondersendungen im Fernsehen, ihre Bücher und Platten und vor allem ihr Liebesleben groß herausstelle. Sie sind auf mich angewiesen, Lew, weil sie wissen, daß jeden Tag Millionen Menschen diese Sendung einschalten.« Sie lächelte in den Spiegel, und das Gesicht, das zurücklächelte, war liebenswürdig, gelassen, elegant. »Und das tun diese Menschen nur, weil sie mich sehen wollen.«
Lew arbeitete jetzt seit mehr als fünf Jahren mit Angela zusammen und wußte genau, wie er eine Kontroverse mit ihr zu handhaben hatte. »Niemand bestreitet das, Angela«, schmeichelte er ihr. »Du bist die Show. Ich meine ja auch nur, du solltest bei Deke vorsichtig zu Werke gehen. Er hat in der Countrymusic-Szene schon lange einen Namen, und sein Comeback hat viel mit sentimentalen Gefühlen zu tun.«
»Überlaß Deke einfach mir.« Hinter dem Rauchschleier ihrer Zigarette lächelte sie. »Ich werde schon dafür sorgen, daß die Gefühle nicht zu kurz kommen.«
Sie nahm die Karteikarten mit den Anmerkungen in die Hand, die Deanna heute morgen um sieben Uhr für sie zusammengestellt hatte. Lew war mit dieser Geste entlassen, was ihn zu einem Kopfschütteln veranlaßte. Angelas Lächeln wurde breiter, als sie die Anmerkungen überflog. Das Mädchen war gut, dachte sie. Sehr gut, sehr gründlich.
Sehr nützlich.
Angela zog ein letztes Mal nachdenklich an ihrer Zigarette, drückte sie in dem schweren Kristallaschenbecher auf ihrem Toilettentisch aus. Wie immer standen jeder Topf, jede Bürste, jede Tube in akribischer Ordnung nebeneinander. Eine Vase mit zwei Dutzend roten Rosen, die jeden Morgen frisch gebracht wurden, und ein kleiner Teller mit den verschiedenfarbigen Minzbonbons, die Angela so gerne mochte, vervollständigten das Ensemble.
Routine war ein Lebenselixier für sie, und ihre Umgebung einschließlich der Menschen um sie herum kontrollieren zu können ebenfalls. Jeder hatte darin seinen Platz, und es war ihr eine Freude, auch Deanna Reynolds einen solchen Platz zukommen zu lassen.
Einige fanden es vielleicht merkwürdig, daß eine Frau, die auf die Vierzig zuging und dazu noch eitel war, ausgerechnet eine jüngere, schöne Frau unter ihre Fittiche nahm, förderte und ihr Wissen an sie weitergab. Doch Angela war eine hübsche Frau gewesen, die im Laufe der Zeit, mit wachsender Erfahrung und einer gehörigen Portion Einbildung zu einer schönen Frau geworden war und keine Angst vor dem Alter hatte – zumindest nicht in einer Welt, in der man so leicht etwas gegen das Alter tun konnte.
Sie wollte Deanna hinter sich wissen, weil Deanna so gut aussah, so begabt und so jung war. Vor allem aber, weil sie als starke, mächtige Frau diese Qualitäten auch bei jemand anderem erspürte.
Und aus dem einfachen Grund, weil sie das Mädchen mochte.
Oh, natürlich würde sie Deanna mit ausgesuchten Ratschlägen, freundlicher Kritik und einem guten Schuß Lob bedenken – und ihr vielleicht mit der Zeit auch eine Position von Bedeutung geben. Doch sie hatte nicht die Absicht, einer Frau zu gestatten, sich von ihr zu lösen, von der sie bereits ahnte, daß sie ihr irgendwann Konkurrenz machen konnte. Von Angela Perkins kam so leicht keiner wieder los.
Zwei ehemalige Ehemänner von ihr, die es versucht hatten, mußten das am eigenen Leib erfahren. Anstatt von Angela loszukommen, war sie es gewesen, die sich ihrer ganz schnell entledigt hatte.
»Angela?«
»Deanna!« Angelas Hand schnellte der jungen Frau entgegen, um sie willkommen zu heißen. »Ich habe gerade an dich gedacht. Deine Anmerkungen sind wundervoll und geben viele zusätzliche Anregungen, von denen die Talk-Show nur profitieren kann.«
»Ich bin froh, daß ich dir helfen konnte.« Deanna hob eine Hand und spielte mit ihrem linken Ohrring. Sie würde noch lernen müssen, diese Geste, mit der ihre Unschlüssigkeit offenkundig wurde, zu kontrollieren. »Angela, es ist mir peinlich, dich das zu fragen, aber meine Mutter ist ein großer Fan von Deke Barrow.«
»Und du möchtest gerne ein Autogramm.«
Ein verlegenes Lächeln huschte über Deannas Lippen, dann brachte sie die CD zum Vorschein, die sie hinter ihrem Rücken versteckt hatte. »Sie würde sich sehr freuen, wenn er die für sie signieren könnte.«
»Laß sie mir einfach da.« Angela klopfte mit einem vollendeten, auf französische Art manikürten Finger gegen den Rand der CD. »Wie heißt deine Mutter doch gleich noch mal, Dee?«
»Marilyn. Dafür bin ich dir wirklich sehr dankbar, Angela.«
»Für dich tue ich doch alles, meine Liebe.« Angela wartete einen Augenblick; ihr exzellentes Timing war schon immer eine ihrer Stärken gewesen. Dann sagte sie: »Ach, könntest du mir einen kleinen Gefallen tun?«
»Aber natürlich.«
»Würdest du bitte einen Tisch bei La Fontaine für mich reservieren? Halb acht, zwei Personen. Ich bin einfach nicht dazu gekommen, das selbst zu erledigen, und habe vergessen meiner Sekretärin zu sagen, sie solle sich darum kümmern.«
»Kein Problem.« Deanna zog einen kleinen Schreibblock aus der Tasche, um sich eine Notiz zu machen.
»Du bist ein Schatz, Deanna.« Angela erhob sich und überprüfte mit einem letzten Blick in den Drehspiegel, daß mit ihrem blaßblauen Kostüm auch alles in Ordnung war. »Wie findest du diese Farbe? Sie wirkt doch nicht zu verwaschen, oder?«
Deanna wußte, daß Angela sich über jedes Detail ihrer Show von der Zuschauerbefragung bis zum richtigen Schuhwerk ihre Gedanken machte. Sie nahm sich daher die Zeit, die Farbe bewußt auf sich wirken zu lassen. Der zarte Stoff paßte wunderbar zu Angelas wohlgeformter Figur. »Erfrischend weiblich«, meinte Deanna.
Die Spannung in Angelas Schultern löste sich. »Dann ist es ja genau richtig. Bleibst du noch bis zur Aufzeichnung?«
»Nein, ich muß noch ein Manuskript für das Mittagsmagazin schreiben.«
»Ah ja.« Die Verärgerung war nur für einen kurzen Augenblick sichtbar. »Ich hoffe, daß du nicht in Verzug gekommen bist, weil du mir so häufig ausgeholfen hast.«
»Der Tag hat vierundzwanzig Stunden«, sagte Deanna, »und von diesen lasse ich keine einzige ungenutzt. Aber jetzt will ich dich nicht länger von deinen Sachen abhalten.«
»Mach’s gut, meine Liebe.«
Deanna schloß die Tür hinter sich. Alle wußten, daß Angela darauf bestand, die letzten zehn Minuten vor ihrem Auftritt ganz für sich zu haben. Es wurde vermutet, daß sie diese Zeit dazu nutzte, noch einmal ihre Notizen durchzugehen, aber das war natürlich Blödsinn, denn sie war immer bestens vorbereitet. Angela ließ die Leute aber ganz gerne in dem Glauben, sie würde noch einmal ihre Informationen auffrischen oder gar einen schnellen Schluck aus der Flasche Brandy nehmen, die sie in ihrem Toilettentisch aufbewahrte.
Selbstverständlich rührte sie den Brandy nicht an. Die Notwendigkeit, die Flasche dort in greifbarer Nähe zu wissen, erschreckte und tröstete zugleich.
Solange niemand wußte, was sie in dieser Zeit tatsächlich machte, sollten die Leute doch glauben, was sie wollten.
Angela Perkins hatte in diesen letzten einsamen Momenten vor jeder Aufzeichnung panische Angst. Sie, eine Frau, die das Bild allergrößten Selbstvertrauens erweckte, die Präsidenten, Mitglieder der Königsfamilie, Mörder und Millionäre interviewt hatte, litt dann immer wieder unter heftigem Lampenfieber.
Hunderte von Therapiestunden hatten das Zittern, die Schweißausbrüche und die Übelkeit nicht lindern können. Hilflos brach sie jedes Mal in ihrem Stuhl zusammen und wurde ganz auf sich zurückgeworfen. Dreifach zeigte der Spiegel das Bild der eleganten, perfekt zurechtgemachten und sich makellos präsentierenden Frau. Der glasige Blick verriet das Entsetzen plötzlicher Selbsterkenntnis.
Angela preßte die Hände gegen die Schläfen und ließ der kreischenden Dampfwalze ihrer Angst freien Lauf. Heute würde sie stolpern, heute würden alle ihrem Tonfall entnehmen, daß sie aus der hintersten Provinz stammte. Die Leute würden das kleine, ungeliebte und unerwünschte Mädchen sehen, dessen Mutter die über den Fernsehbildschirm huschenden Bilder ihrem eigenen Kind aus Fleisch und Blut vorzog, das Mädchen, das sich so verzweifelt die Aufmerksamkeit der Mutter wünschte, daß Angela sich in ihrer Phantasie in diesen Fernseher hineinbegab, damit ihre Mutter ihre ausdruckslosen, betrunkenen Augen ein einziges Mal auf sie richtete und sie ansah.
Sie würden das Mädchen in den gebrauchten Kleidern und mit den schlecht sitzenden Schuhen sehen, das sich so sehr angestrengt hatte, um durchschnittliche Zensuren nach Hause zu bringen.
Sie würden sehen, daß sie ein Nichts war, ein Niemand, eine Betrügerin, die sich nur mit Bluffs und Täuschungsmanövern den Zugang zum Fernsehen verschafft hatte und damit auf die gleiche Weise wie ihr Vater seinen Zugang zur bürgerlichen Welt.
Man würde sie auslachen.
Oder schlimmer noch, ihre Sendung abschalten.
Das Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken.
»Wir sind soweit, Angela.«
Die schöne Frau atmete tief durch, einmal und noch einmal. »Bin schon unterwegs.« Ihre Stimme klang wie immer. Sie war eine Meisterin darin, sich zu verstellen. Noch ein paar Sekunden starrte sie in den Spiegel und beobachtete, wie die Panik langsam aus ihren Augen wich.
Sie würde nie versagen, sie würde nie mehr ausgelacht oder wieder ignoriert werden. Und niemand würde von ihr etwas zu sehen bekommen, das sie nicht von sich zeigen wollte. Angela stand auf, verließ ihre Garderobe und ging den Flur entlang.
Eigentlich hätte sie noch nach dem Gast ihrer Show sehen müssen, aber sie ging am Künstlerzimmer vorbei, ohne auch nur einen einzigen Blick hineinzuwerfen. Vor Beginn der Aufzeichnung wechselte sie mit ihren Gästen gewöhnlich kein Wort.
Ihr Produzent brachte gerade das Studiopublikum in Schwung. Die Glücklichen, die Eintrittskarten für die Aufzeichnung hatten ergattern können, erwarteten sie mit aufgeregtem Gemurmel. Marcie wackelte auf zehn Zentimeter hohen Absätzen durch die Gegend, stürmte auf sie zu und überprüfte in letzer Minute Angelas Frisur und Make-up. Einer der Zuschauerforscher reichte ihr noch ein paar Karten. Angela sprach weder mit ihm noch mit Marcie.
Als sie auf die Bühne kam, steigerte sich das Gemurmel im Publikum unvermittelt zu frenetischem Beifall.
Sie lachte herzhaft, als die nächste Runde Applaus losbrach. »Ich bin auch einer«, meinte sie, obwohl sie Countrymusic in jeder Form verabscheute. »Ich würde sagen, dann können wir uns ja alle auf einen Hochgenuß freuen.«
»Lost Tomorrow, That Green-Eyed Girl, One Wild Heart – das sind nur einige der Hits, die unseren heutigen Gast zur Legende gemacht haben. Seit über fünfundzwanzig Jahren schreibt er die Geschichte der Countrymusic mit, und sein neues Album Lost in Nashville erobert gerade die Hitparaden. Bitte heißen Sie mit mir in Chicago willkommen: Deke Barrow!«
»Deke, ich würde gerne wissen, ob Sie auf Ihrer Tour auch Danville in Kentucky besuchen. Das ist nämlich meine Heimatstadt«, fragte ein Rotschopf mit glühenden Wangen.
»Durch Ihre Lost in Nashville-Tour werden Sie etliche Monate lang unterwegs sein«, begann Angela. »Das ist doch bestimmt ganz schön hart für Sie, oder nicht?«
»Und die Tour ist bis jetzt ja bestimmt ein großer Erfolg. Dann entsprechen die Gerüchte, Sie müßten wegen Ihrer Schwierigkeiten mit der Steuerfahndung die Tour unterbrechen, also nicht den Tatsachen?«
Dekes sympathisches Lächeln verlor einiges an Überzeugungskraft. »Nein, Ma’am. Diese Sache werden wir bald ausgestanden haben.«
»Dazu kann ich jetzt wirklich nichts weiter sagen.« Deke scharrte mit seinen Stiefeln auf dem Boden und zerrte seine Krawatte zurecht. »Aber von Steuerhinterziehung spricht eigentlich kein Mensch.«
Unbehaglich rutschte er auf seinem Sessel hin und her. »Es geht lediglich um eine kleine Unstimmigkeit bezüglich einiger Steuerrückstände.«
»So schlimm ist es ja nun auch wieder nicht …«
Jetzt hatte sie ihm aus der Seele gesprochen.
Explosionsartig toste der Beifall, Jubelgeschrei füllte den Saal, aber das änderte nichts daran, daß Deke der Schock deutlich anzumerken war.
»Keine Angst, wir lassen die Sache jetzt auch auf sich beruhen. Wir haben ja noch Zeit für ein paar Fragen.« Angela drehte sich wieder zum Publikum, während einer ihrer Assistenten mit einem Glas Wasser für Deke herbeieilte. »Deke würde es sicherlich begrüßen, wenn wir dieses sensible Thema dann nicht weiter ansprechen. Geben Sie ihm reichlichen Applaus, wenn wir nach der Werbung wieder auf Sendung gehen, und lassen Sie Deke ein wenig Zeit, sich wieder zu sammeln.«
Angela
Die Moderatorin hielt sich nicht lange beim Publikum auf, sondern gesellte sich umgehend wieder zu Deke auf die Bühne. »Das war wundervoll.« Mit festem Griff nahm sie seine schlaffe Hand. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind. Und viel Glück!«
»Besorgen Sie mir eine Aufzeichnung«, befahl Angela, als sie zu ihrer Garderobe zurückging. »Ich will mir den letzten Teil noch einmal ansehen.« Dann ging sie direkt auf ihren Spiegel zu und lächelte sich an.