Piss in den Wind
Prolog
Meine Geschichte ist eine Geschichte des Wahnsinns. Dabei hielt ich mich seinerzeit nicht im Entferntesten für wahnsinnig, nicht einmal für leicht gestört. In der Tat, ich betrachtete mich als aufrechten, hart arbeitenden Bürger, respektiert von den Kollegen, immer eine freundliche Begrüßung auf den Lippen oder ein aufrichtig klingendes »Mach’s gut«. Das, was man gemeinhin als enge Freunde bezeichnet, gab es nicht, doch hätte es sie gegeben, sie hätten in mir einen umgänglichen, durch und durch angenehmen Zeitgenossen gesehen. Insofern unterschied ich mich nicht von Tausenden anderer gefährlicher Schizophrener. Abgesehen von meiner ganz persönlichen, seltsamen Macke. Bestimmte Geisteszustände schaffen sich ihre eigene Realität, eine Komfortzone der Täuschung, wo das Glas immer halb voll ist, die Aktien steigen werden und morgen alles besser wird. Meine Wirklichkeit, eingehüllt in einen Nebel, so penetrant wie das Parfum einer Hure, war ein Ort, wo oben unten bedeutete, weiß schwarz und — konsequenterweise — falsch richtig. So war die Region beschaffen, wo ich viele schwierige Jahre verbrachte. Wenn ich jetzt, fast zwanzig Jahre später, daran zurückdenke, kommt es mir irgendwie lustig vor, obwohl es mit Sicherheit nicht zum Lachen ist. Der Tod eines unschuldigen Menschen ist niemals zum Lachen. Doch wenn man bedenkt, was heutzutage als normales Verhalten durchgeht, in den Reality-Shows im Fernsehen und bei den üblichen Verdächtigen, die sich als Promis ausgeben, in den zwischenmenschlichen Wegwerf-Beziehungen, die manipuliert, ausgebeutet und dann entsorgt werden wie Lottoscheine von letzter Woche, dann war ich wahrscheinlich auf eine bizarre Art und Weise meiner Zeit voraus.
Wie bei den meisten Fällen von Wiedergeburt oder Rehabilitation begann der zweite Akt meines Lebens im Anschluss an einen veritablen Absturz. Ich musste ganz unten ankommen, musste alles verlieren, was offen gestanden damals keine nennenswerte Summe war, doch es war alles, was ich besaß, und ich musste es verlieren, um wieder gesund zu werden; es mag Leute geben, die würden sagen, dieses Ziel sei nie erreicht worden. Doch in dieser Geschichte geht es nicht um meine Exfrauen oder mein heutiges Leben. Und ihren Anfang nimmt diese Geschichte in einem Haus am Meer.
I
Karen ging von einem Ende des Wohnzimmers zum anderen, angespannt, nervös, hielt sie Ausschau nach den letzten Dingen, die sie vielleicht vergessen haben könnte einzupacken. Ich saß auf der Couch und beobachtete sie: kurzes, braunes Haar und eine kecke Stupsnase, Wangen mit Sommersprossen und einen bockigen, entschlossenen Zug um den Mund; wäre Huckleberry Finn ein Mädchen gewesen, er hätte ausgesehen wie Karen.
Die Rückseite des Hauses ging auf den Ozean hinaus. Das Rauschen des Meeres war ebenso Teil der Räume wie die Wände, die sie zusammenhielten. Salzwasser klatschte gegen den Strand und am bewölkten Himmel kreischten Möwen, der Wind heulte in ohnmächtiger Angst.
»Mir will es noch immer nicht in den Kopf ... weshalb kannst du nicht bis September warten?«, sagte ich, und während mir der Satz über die Lippen kam, wurde mir auch schon bewusst, wie dumm er klang.
Sie sah mich an. »Fängst du wieder damit an?«
»Nein. Ich habe nur eine Frage gestellt.«
»Ich habe mich entschieden, und glaube mir, es ist das Beste für uns beide.«
Sie hatte völlig recht; unsere Beziehung war nun schon seit einem Jahr beendet und außer der täglichen Routine verband uns nichts mehr miteinander, dennoch, der Gedanke, allein zu sein, ging mir ziemlich an die Nieren. Ich hatte mich an Karens Gegenwart gewöhnt, so wie an ein Paar alter Jeans, das man zwar seit Jahren nicht getragen hatte, aber mit wohligem Gefühl sicher in der untersten Schublade verwahrt wusste. Ohne Frage, ich wünschte mir inständig, dass sie endlich aus dem Haus verschwände, ich konnte nur nicht ertragen, sie gehen zu sehen.
Karen ging zum Bücherregal, wo zwei Reihen CDs standen, die Interpreten alphabetisch geordnet. Sie zog drei aus der S-Sektion heraus.
»Die beiden hier hatte ich schon, als ich eingezogen bin«, sagte sie. »Und die Simon & Garfunkel haben wir zusammen gekauft, aber sie hat dir nie gefallen.«
Ich fühlte mich genötigt, etwas zu erwidern, irgendetwas, was den Kommunikationskanal zwischen uns offen hielt. »Mir gefallen Simon & Garfunkel.«
»Du hast sie nie gehört, und außerdem nehme ich den CD-Player mit.«
Sie packte die CDs in einen Schuhkarton nahe der Tür und ging ins Schlafzimmer. Rund um die Couch standen Kartons, es sah aus wie ein Planwagentreck unter Attacke, dazu Plastiksäcke voll mit Kleidung, die den Eingang zur Küche blockierten. Und ich saß mittendrin und konnte nur staunen: Wann hatte sie eigentlich das ganze Zeug angeschafft? Vor zwei Jahren war sie mit zwei Taschen und einem Koffer eingezogen. Jetzt zog sie aus mit einer ganzen Wagenladung von Sachen.
Wir hatten uns geeinigt, den Großteil dessen, was wir zusammen gekauft hatten, unter uns aufzuteilen; sie würde den Fernseher und die Stereoanlage bekommen, dazu den Videorekorder und die Mikrowelle. Ich behielte die Waschmaschine, die Küchengeräte und die Möbel. Und natürlich auch die Fotoausrüstung.
Ich ging zu meinem Schreibtisch, ordnete Stifte und Papiere symmetrisch an, arrangierte die Modemagazine auf dem Couchtisch zu einem Fächer und sah mich um, was ich sonst noch so ordnen könnte, irgendetwas, was meinen Verstand beschäftigte und das Pochen in meinem Schädel verhinderte, als mir urplötzlich auffiel, wie leer die Räume wirkten. Nicht durch einen Mangel an Gegenständen, sondern an Persönlichkeit. Ihrer, Karens, Persönlichkeit. Soweit ich mich erinnern konnte, war mir das Apartment nie so leer erschienen, seit ich es vor fünf Jahren gemietet und natürlich ebenso lange darin gewohnt hatte. Nur eine Frau kann bei ihrem Auszug diesen Effekt auf eine Wohnung erzielen. Zieht ein Mann aus, kommt es einem sauberer vor, größer. Doch eine Frau lässt Leere zurück.
Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Die schlaflosen Nächte hatten mir zugesetzt. Meine Haut war blass und irgendwie ausgeleiert und unter den Augen saßen dunkle Tränensäcke. Kein Wunder, dass Karen mich verließ. Zum ersten Mal entsprach mein Konterfei dem, was ich war: ein Mann mittleren Alters. Ich öffnete den Arzneischrank und stieß auf ein Durcheinander aus Fläschchen und Röhrchen. Karen konnte nichts anfassen, ohne ein Chaos zu inszenieren. Ich schluckte zwei Aspirin, dann stellte ich die Fläschchen der Größe nach auf, die Etiketten nach vorn, damit man sie lesen konnte.
Ich betrat das Wohnzimmer, sank auf das Sofa und sah Karen zu, wie sie hin- und herging, Kartons unterschiedlicher Größe in den Händen, die sie neben der Tür stapelte — Kartons mit Kleidung, Kartons mit Schuhen, Kartons mit weiß der Teufel was. Wir wechselten kein Wort miteinander, keinen Blick, da war nichts zwischen uns, nur Geschäftigkeit; geschäftig das eigene Leben fortführen und das Vergangene fortschaffen.
»Würdest du mir helfen, die Sachen im Wagen zu verstauen?«, fragte sie mit einem kalten Glitzern in den Augen. Es war etwas Roboterhaftes an ihr, wie sie so dastand, regungslos, fast metallisch. Verdammt! Wie konnte mir diese Frau so fremd sein? Sie hatte mich mal geliebt. Sie hatte mir das tausendmal gesagt! Was war geschehen? Was nur hatte ich getan, dass ihr diese Gefühle abhandengekommen waren?
»Was ist jetzt?«, fragte sie und schnappte sich einen weiteren Karton.
Ich half ihr, das Ding zu ihrem Kombi zu tragen, einem 82er Chevy mit Holzverkleidung, den sie von ihrem Vater geerbt und den zu verschrotten sie sich immer geweigert hatte, egal, wie oft er in den Streik getreten war. Nach siebenmaligem Rein und Raus, mit nicht mehr Kommunikation zwischen uns als dem einen oder anderen »entschuldige«, war das meiste verladen und ich ging ins Schlafzimmer. Ihre gesamte Garderobe war eingepackt und der Schrank somit leer, bis auf die Kleiderbügel, die wie kleine metallene Skelette in der hereinwehenden Brise träge vor sich hin klapperten. Ich ging hinüber und verteilte sie gleichmäßig über die Kleiderstange, diese meine drahtigen Brüder, immer mit einem Abstand von fünf Zentimetern, als ich plötzlich einen Anflug von Unbehagen verspürte. Nach all der Zeit.
»Er ist nicht im Kleiderschrank, oder?«
Es war die dünne Fistelstimme meines Vaters, die vom Wohnzimmer herüberdrang. Die ausdruckslose Oboe meiner Mutter erklang als Kontrapunkt:
»Nein. Er sitzt auf seinem Bett.«
Ein kleiner Junge sah mich vom Bett aus an, das Gesicht gerötet und geschwollen vom Weinen. Ich konnte hören, wie meine Eltern im Nebenzimmer miteinander stritten, bis Karen zurück in das Apartment kam und nach mir rief.
Sie setzte sich zu mir aufs Bett, legte etwas neben meine Hand.
»Ich wollte dir nur den Schlüssel geben«, sagte sie und ihre Stimme klang ungleich freundlicher als noch vor einer Minute.
»Hast du alles?«, fragte ich.
»Ja, ich glaube schon.«
Die Brise vom Hafen erzeugte eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Meine Kehle war wie zugeschnürt, mein Magen verknotete sich und ich wusste, der gewisse Augenblick war zum Greifen nah. Ich suchte krampfhaft nach Worten, nach etwas, was sie umzustimmen vermochte. Am Ende war sie es, die sprach. Mit sanfter Stimme.
»James, es tut mir leid, dass es so kommen musste. Wir haben versucht, es hinzukriegen, wir haben es wirklich versucht, und wir hatten unsere richtig guten Momente. Aber wir sind zu verschieden, wir haben verschiedene Interessen … «
»Wir hatten mal die gleichen Interessen«, sagte ich.
»Ich weiß, aber so läuft das mitunter, niemand macht es mit Absicht. Menschen verändern sich, leben sich auseinander. Keiner trägt die Schuld daran. Das macht das Zusammenleben doch aus, dass zwei Menschen über einen gewissen Zeitraum herausfinden, ob sie zueinander passen. Wir haben uns bemüht, doch es hat nicht geklappt. So ist das Leben. Tatsache ist jedoch, wir haben es versucht, und mehr kann man von einer Beziehung wirklich nicht erwarten.«
»Ich weiß. Aber wir waren so verliebt. Ich verstehe nicht, dass Liebe einfach so stirbt.«
»Geht mir genauso. Manchmal passiert es eben.«
»Karen, sag mir nur eins ... bitte, ich muss es wissen. Auch wenn du denkst, dass es mich verletzt, sei ehrlich zu mir. Dann könnte ich es verstehen.«
»Ich bin ehrlich zu dir.«
»Gibt es jemand anderen?«
»Wie du willst«, sagte sie scharf und setzte sich kerzengerade hin. »Wenn du unbedingt einen Grund brauchst, dann denk nicht weiter als bis zu deiner Frage.«
»Was? Also gibt es jemand anderen?«
»Nein, James. Gibt es nicht«, sagte sie, holte tief Luft und versuchte ein letztes Mal, es zu erklären. »Ich kann so nicht mehr leben. Du nimmst mir die Luft zum Atmen. Ich brauche meinen Freiraum, muss auch mal allein sein können. Anscheinend kannst du das nicht akzeptieren. Gehe ich aus dem Haus, willst du wissen, wohin ich gehe, was ich vorhabe, wann ich zurück bin. Komme ich später, muss ich erklären, warum. Siehst du mich mit jemandem, musst du wissen, wer es ist und worüber wir gesprochen haben.«
»Ich bin einfach nur neugierig.«
»Und ich habe es gründlich satt, dass du einfach aufkreuzt, egal, wo ich bin.«
»Ich habe dich doch nicht verfolgt.«
»Nein. Du bist immer rein zufällig da gewesen.«
»So etwas soll mitunter vorkommen.«
»Am Anfang hat mir dieses Interesse gefallen, es war schön. Doch inzwischen … James, du willst von mir Besitz ergreifen oder so. Aber ich bin eine eigenständige Person. Ich bin keine Barbiepuppe.«
»So habe ich dich auch nie gesehen.«
»Eine Beziehung braucht Freiraum, braucht Vertrauen.«
»Ich habe dir vertraut.«
Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. »James, du hast mich mit Argusaugen bewacht.«
»Ich bin eben gern mit dir zusammen, das ist alles.«
»Wir können einander nicht ertragen! Gib es doch endlich zu, James. Wir passen nicht zusammen. Was du brauchst, ist jemand, der ständig für dich da ist. Der sein Leben nur dir widmet. Und dieser jemand bin ich nicht. So jemanden gibt es überhaupt nicht. Man muss auch mal für sich sein können. Das ist völlig normal, das ist vernünftig! Das gehört dazu, wenn man erwachsen wird. Hör zu, James, ich wollte dir nicht wehtun. Es tut mir leid. Aber es tut mir nicht leid, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe.«
Ich sah ihr in die Augen, glatte graue Steine, und ich wusste, sie würde ihre Meinung nicht ändern. Eine halbe Meile entfernt schrien die Dockarbeiter auf den Piers, ein Nebelhorn dröhnte los, als hätte es einen Wutausbruch, der Wind machte sich mit feuchten, ausgelassenen Fingern an meinem Hemd zu schaffen und Karen sah auf ihre Armbanduhr.
»Tja, ich habe noch eine lange Fahrt vor mir.«
Sie stand auf und ging zur Tür.
»Karen.«
Sie blieb stehen und drehte sich um, Besorgnis im Blick.
»Es war doch nicht alles schlecht, oder? Wir hatten doch auch unsere guten Zeiten, stimmt’s?«
Sie zwang sich zu einem Grinsen, das in meinem Magen landete, schwer wie ein Stein.
»Ja. Hatten wir. Mach’s gut, James.« Dann ging sie durch den Flur und aus meinem Leben.
Ich holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Eine Woge der Scham brach sich über meinem Herzen, ein Gefühl von Verlust und Versagen. Ich war genau dort, wo ich vor zwei Jahren begonnen hatte. Vor drei Jahren, vor fünf, vor sieben. Ich hatte mich nicht verändert, hatte nichts, aber auch gar nichts dazugelernt in all der Zeit. Leider. Ich konnte dieses Verhaltensmuster bis in meine Jugend zurückverfolgen. Wieso nur machte ich immer und immer wieder den gleichen Fehler, verflucht noch mal?
Ich packte meinen Kopf mit beiden Händen, presste die Handballen gegen die Schläfen, presste mit aller Kraft, damit der Druck nachließ. Als Teenager hatte ich es manchmal aufhalten können, sofern ich schnell genug reagiert hatte, bevor es sich voll entwickeln und intensivieren konnte, aber was wie Nadelstiche begann — mehr ein Kitzeln als ein Schmerz —, steigerte sich jetzt zu einem lauten, schrillen Kreischen, zu einer Dreieinigkeit der Dissonanz, die sich rücksichtslos vorarbeitete wie ein hochtönender Zahnarztbohrer, der sich mühsam in einen verrottenden, kariösen Zahn frisst — meine alten Erzfeinde, die Stimmen, versetzten mein Ich in Panik und Hysterie. Den Tönen tausend schmetternder Trompeten gleich, drangen sie in jede Öffnung, jede Zelle meines Körpers, nur schrien sie diesmal lauter, als sie es je in meiner Jugend getan hatten. Meine Ohren brannten, als stünden sie in Flammen, und ich hielt sie mir zu, fiel auf die Knie und schlug meinen Kopf auf den Holzfußboden, immer und immer wieder, nur um dieses Geräusch zu vertreiben, nur für den Moment der Erlösung. Ich hatte den Geschmack einer warmen, milden Soße im Mund und wusste sofort, dass ich mir in die Zunge gebissen hatte. Entschlossene Hände packten mich bei den Schultern, hievten mich hoch, und als ich aufsah, war da Karen über mir. Der Wahnsinn in meinen Augen machte ihr Angst, so hatte sie mich noch nie gesehen. Stumm bewegte sie die Lippen.
»Ich kann’s diesmal nicht aufhalten, Karen! Ich kann es nicht aufhalten!«
Wieder warf ich mich hin, schlug mit den Händen auf den Boden, während Schauer durch meine Knochen jagten und sie betäubten. Ich schrie, bis meine Kehle rau war und Karen sich die Ohren zuhielt. Doch dann richtete sie mich auf, drückte mich gegen das Bett und versuchte, mir ein Buch zwischen die Zähne zu schieben. Ich schlug um mich, ruderte mit den Armen, als hätte man mich mitten im Flug aus einem Flugzeug geworfen. Ihren Unterarm auf meiner Brust, versuchte Karen, mich am Boden zu halten, als die Stimmen sich mit einem Male zurückzogen, so schnell wie sie gekommen waren. Ein Strudel hatte sie aus meinen Ohren gespült, mir Erleichterung verschafft, und ich spürte, wie ich mich entspannte.
Ein Schlepper tuckerte in den Hafen. Die frische Abendbrise kratzte an meinen Ohren wie ein Rechen. Ich hob den Kopf vom Kissen und sah eine lauernde Sonne am Horizont. Die Matratze unter mir war hart, klumpig, als läge ich auf einem Sack Kartoffeln. Mit einem Satz war ich aus dem Bett, prallte gegen die Tür und musste lachen: Diese Frau hat Sinn für schwarzen Humor, dachte ich.
»Okay, Karen, du hast gewonnen. Echt witzig. Du kannst jetzt wieder aufstehen.«
Doch sie rührte sich nicht, blinzelte nicht einmal. Ihre Augen waren starr und ausdruckslos, die Augen einer Puppe.
»Komm schon, Karen, das ist nicht mehr komisch. Ist gut jetzt, steh auf. Ich dachte, du wolltest los.«
Ich berührte ihre Wange. Sie war kalt. Rund um Karens Hals waren Male zu sehen, die von Fingern herrührten. Ich packte ihr Handgelenk: Sie hatte keinen Puls!
Ich hastete zum Telefon in der Küche. Die Vermittlung meldete sich. »Ich brauche einen Krankenwagen«, bellte ich in die Muschel, »es hat einen … « Ich hielt inne. Was hatte sich ereignet? Ich war mir nicht sicher.
»Hallo? Kann ich Ihnen helfen? Hallo? Sind Sie noch dran?«
Ich hielt den Hörer mit beiden Händen umklammert und legte auf, langsam, wie in Zeitlupe, dabei entdeckte ich verschmiertes Blut an der Muschel — von mir oder von Karen? —, ich wischte es ab und setzte mich an den Tisch. Ich musste erst einmal zur Besinnung kommen.
Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass Karen mich festgehalten hatte. Was danach geschehen war, wusste ich nicht. Sollte ich die Polizei anrufen und genau das erzählen? Und dann? Es war allgemein bekannt, dass Karen mich verlassen wollte, man würde behaupten, ich hätte es mit Vorsatz getan. Und welche Erklärungen hätte ich für die Male an ihrem Hals? Sicher, es handelte sich um einen Unfall, ich hatte es nicht mit Absicht getan. Doch die Gefängnisse sind voll mit Leuten, die etwas ohne Absicht getan haben. Ich sah mich bereits im Hof eines Gefängnisses, zusammen mit anderen Mördern und Kriminellen, sah, wie ich billige Tätowierungen bekam und ein Messer bei mir trug, an-gefertigt aus einem Löffel — bis es mir eiskalt über den Rücken fuhr, weil mir einfiel, dass man in diesem Staat Leute hinrichtete! Ziemlich unfair, für einen kurzzeitigen Verlust der Zurechnungsfähigkeit auf dem elektrischen Stuhl zu landen. Es war die einzige Erklärung, die mir einfiel: Ich hatte für einen Augenblick völlig neben mir gestanden und war ausgerastet. Wie O.J. Simpson.
Ich betrachtete meine Hände, als wären sie die von O.J. Simpson. Die Finger kamen mir größer vor, irgendwie geschwollen. Missgestaltet. Sie schmerzten. Genau wie meine Arme. Ich konnte meine Beine nicht spüren. Sie hielten mich zwar aufrecht, aber ich spürte nicht, wie.
Zurück im Schlafzimmer, setzte ich mich auf den Bettrand, unsicher, was ich tun sollte. Eine gespenstische Stille hatte sich ausgebreitet, in der Luft hing der Hauch des Todes. Ich schloss Karens Lider, doch sie öffneten sich wieder, halb nur, was den Eindruck vermittelte, sie sei betrunken oder stehe unter Drogen. Merkwürdig, wie hilflos die Toten sind, im Zustand der Leblosigkeit zufälligen Demütigungen ausgesetzt. Karen war es immer unangenehm gewesen, beobachtet zu werden, also verbarg ich ihr Gesicht unter der Decke.
Eine kühler werdende rote Sonne zauberte Prismen an die Wände. Die schimmernden Lichtmuster, voller Leben in ihrer Einzigartigkeit, erinnerten mich an die bleiverglasten Fenster der Kirche meiner Kindheit. Ich betrachtete sie ganz genau, suchte nach einer verborgenen religiösen Bedeutung in ihnen, so wie seinerzeit bei den Kirchenfenstern, nachdem ich als zwölfjähriger Messdiener zweiundvierzig Dollar aus der Kollekte von Saint Theresa’s gestohlen hatte und ein flackerndes Abbild von Johannes dem Täufer mir befahl, das Geld zurückzulegen und einen anonymen Entschuldigungsbrief zu schreiben. Jetzt brauchte ich sie wieder, diese göttliche Inspiration. Oder zumindest einen ordentlichen Schubs in die richtige Richtung. Einen Wegweiser, eine Boje, die Schiffen auf dem Ozean den Weg weist, eine sichere Passage vorbei an der Katastrophe gewährleistet. Doch stattdessen erschien das Bild von Karens Wagen, der, beladen mit ihrem gesamten Hab und Gut, draußen parkte. Bliebe er dort noch länger stehen, könnten die Leute womöglich anfangen, Fragen zu stellen. Mein Verstand schaltete in den Überlebensgang. Jetzt war nicht die Zeit göttlicher Inspirationen oder ordentlicher Stöße in die richtige Richtung, denn da war nur meine Angst, real und greifbar wie die Leiche neben mir, der adrenalingesättigte Ur-Wille zur Selbsterhaltung.
Ich machte mich daran, im Wohnzimmer sämtliche Möbel vom Teppich zu rücken, einem großen, roten Rechteck mit Paisleymuster. Ich schob gerade die Couch an die Wand, als das Telefon läutete und mir fast das Herz stehen blieb. Nach dem fünften Klingeln sprang der Anrufbeantworter an — Karen hatte wohl vergessen, ihn einzupacken. Nach dem Piepen sagte eine Stimme: »Hallo, Karen, bist du da? Nimm ab, wenn du da bist. Du hast gesagt, dass du mich anrufst, bevor du losfährst. Hoffe, du hast es nicht vergessen. Ruf mich bitte zurück … Hier ist Debbie.« Klick.
Ich atmete tief durch und schob den großen Sessel vom Teppich, dann ging ich ins Schlafzimmer.
Als ich so am Fenster saß, spürte ich, welch beruhigende Wirkung die Gleichmäßigkeit der Wellen auf meine Ohren hatte, und während der Himmel zu einem dunklen, melancholischen Ocker reifte, begann ich, mein Leben in einem größeren Rahmen zu überdenken, die Umstände, die zu meiner aktuellen Situation geführt hatten und zu all den Pannen davor.
Ich darf mich nicht länger mit meinen Studentinnen einlassen, sagte ich mir, das ist das Hauptproblem. Darauf läuft alles hinaus. Zwar habe ich bisher keine umgebracht — von heute mal abgesehen —, aber es endet immer in einer Art Katastrophe. Ja, ich weiß, diesen Vorsatz habe ich ein Dutzend Mal gefasst. Doch wenn ich am Beginn eines Semesters vor ihnen stehe und mich ihre funkelnden Augen wie Edelsteine anblitzen, ist es um mich geschehen. Ich versuche ja, professionell zu sein, aber am Ende des Jahres bin ich mehr für sie als nur der Dozent, ich bin ein enger, persönlicher Freund. Andererseits sind alle erwachsen, also ist es nicht so, als würde ich halbwüchsigen Schülerinnen nachsteigen. Außerdem bin ich nicht der Einzige. Die meisten an der Fakultät verhalten sich so ...
Ich gab Anfängerkurse in Fotografie an einer Universität, die hier aus verständlichen Gründen nicht genannt werden soll. Meine Veranstaltung war für die meisten Studenten der Geisteswissenschaften eine fakultative, also ging ich mit der Absicht zu Werke, das Ganze unterhaltsam zu gestalten. Es gab keine Seminararbeiten, keine Prüfungen, nur wenig Lektüre, Notizen waren kaum vonnöten und so lange sie sich mit dem Fotografieren beschäftigten, hatten die Studenten freie Hand.
Die meiste Zeit verbrachten sie in den Dunkelkammern, die sich am Ende des Seminarraums befanden, abgetrennt durch schwarze, lichtundurchlässige Vorhänge. Ein Grund, weshalb es so einfach war, ihnen nahe zu sein. Im verführerischen Licht der Dunkelkammerbeleuchtung beugte ich mich schon mal zu einer Studentin, um ihr bei einer Vergrößerung zu helfen, und wenn ihr Haar dann nach Erdbeershampoo duftete, ihr Körper nach Lavendel, wenn ich dicht genug neben ihr stand, um ihren Pfefferminzkaugummi zu riechen, dann war mir klar, dass wir uns im Anschluss treffen, zusammen essen oder ins Kino gehen, wenn nicht sogar mehr machen würden. So wurden wir Freunde, Karen und ich. Das Problem war nur, dass ich mich zu schnell verliebte. Wäre es mir doch nur gelungen, irgendwie auf Abstand zu bleiben, mich gefühlsmäßig weniger reinzuhängen.
Die Nacht wird schlimm werden, dachte ich bei mir. Die erste Nacht nach einer Trennung ist immer die schwerste. Ich bin wie ein Drogenabhängiger auf Entzug. Das beschreibt es, glaube ich, was weibliche Gesellschaft für mich ist: eine Droge. Und das Alleinsein bedeutet Entzug. Allein. Schon der Klang dieses Wortes vermittelt Einsamkeit. Wie sehr ich mich auch bemüht habe, es sieht nicht so aus, als könnte ich mich daran gewöhnen. An das Alleinsein.
X
Ich hatte über zehn Stunden geschlafen und kam kaum aus dem Bett hoch. Ein metallener Stachel bohrte sich in meinen Hinterkopf und ich schluckte fünf Aspirin, ging dann in die Küche, wo ich die Fotos von der Arbeitsplatte nahm und im Schrank unter der Spüle verschwinden ließ.
In der Nachmittagszeitung wurde ihre Leiche mit keiner Silbe erwähnt. Um ganz sicherzugehen, blätterte ich die Zeitung siebenmal durch.
»Ich verstehe das nicht. Inzwischen müssten die längst etwas bringen. Vielleicht ermittelt die Polizei gar nicht mehr.«
»Warum ist das so wichtig?«, fragte sie. Sie saß neben mir, noch immer in das weiße Seidentuch gehüllt.
»Weil ich vielleicht ...? Sieh mal, es ist ihr Job. Zu ermitteln. Man sollte meinen, dass es nicht so schwer sein kann, eine Leiche zu identifizieren.«
»Du kannst mich nennen, wie du willst. Was immer du dir auch ausdenkst.«
»Ja, daran habe ich auch gedacht. Aber ich möchte mir keinen Namen ausdenken. Was, wenn ich auf deinen richtigen Namen stoße? Das macht es dann vielleicht kompliziert. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber vertrau mir. Es ist besser so. Ich werde ihnen einfach noch ein paar Tage Zeit geben.«
Ich ging noch einmal die Todesanzeigen durch und faltete die Zeitung zu einem perfekten Quadrat zusammen.
»Hast du Hunger?«, fragte ich. »Isst du überhaupt etwas?«
»Möchtest du, dass ich etwas esse?«
»Kommt drauf an. Was magst du denn?«
»Was soll ich denn mögen?«
»Es geht nicht darum, was du sollst, sondern was du möchtest. Also, was?«
Sie versuchte, sich zu erinnern, und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Okay. Wie wär’s mit Steak? Blutig. Zubereitet auf dem Hot Plate mit einem Klacks Halbfettbutter obendrauf. Ich nehme an, dass du das magst.«
»Ja, das stimmt. Das mag ich wirklich.«
»Und Kartoffelbrei, selbst gemacht, nicht das Zeug aus der Tüte, und dazu gedünsteten Brokkoli mit Zitronensaft und frisch gemahlenem Pfeffer.«
»Ja, das stimmt. Das mag ich auch.«
»Und als Dessert Schokoladeneis oder ab und an ein Stück Zitronenbaisertorte.«
»Ja, das stimmt.«
»Und Rotwein, einen guten Cabernet Sauvignon, einen trockenen Merlot. Natürlich magst du Pasta. Engelhaar-Spaghetti und Ravioli, gefüllt mit Spinat und Ricotta. Und Kalbfleisch Parmigiana in dünnen Scheiben mit würziger Tomatensauce. Caesar Salad mit hausgemachten Knoblauchcroutons, aber ohne Zwiebeln. Sämtliche Gemüsesorten außer Spargel. Und du isst gern bei Kerzenlicht.«
»Ich erinnere mich jetzt wieder.«
Wie durch ein Wunder fiel ihr alles sofort ein, egal, was ich aufzählte, als wäre sie aus einer langen Amnesie erwacht. Ich sagte ihr, welche Musik sie mochte, klassischen Rock ’n’ Roll und Folk, ein wenig Jazz, aber nicht das moderne Zeug. Ich erzählte ihr alles übers Fotografieren und von den Fotos, die ich am Strand von ihr geschossen hatte.
»Möchtest du sie mal sehen? Sie sind in der Küche.«
»Möchtest du, dass ich sie mir ansehe?«
»Aber was möchtest du?!«, fragte ich und wurde etwas lauter. »Hast du selbst gar keine Wünsche? Wenn es eine Sache gäbe, die du jetzt sofort machen könntest, was wäre das?«
»Was möchtest du denn, das ich tun soll?«
»Du verstehst nicht, worum es geht. Okay, warte. Wie wär es ... Wenn ich einmal gesagt habe, was du magst, kann ich es noch ändern? Zum Beispiel magst du eigentlich kein Schokoladeneis. Vanille ist dir viel lieber.«
Sie dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf.
»Okay, gut zu wissen«, sagte ich. »Ich muss vorsichtig sein.« Ich nahm Stift und Papier vom Schreibtisch und legte eine Liste all der Dinge an, die sie bisher gemocht hatte.
Den Rest des Tages verbrachte sie am Fenster, wie hypnotisiert vom Auf und Ab der See. Ich ging zu ihr und wollte wissen, was sie beobachte, doch sie gab mir keine Antwort. Ich schlang meinen Arm um ihre Taille und spürte durch den Seidenstoff hindurch die tiefen Schnitte in ihrer Haut.
»Kann ich sie sehen?«, bat ich und sie zog den Stoff auseinander, als wäre er Zuckerwatte. Ich glitt mit den Fingern in die Schnittwunden und spürte das kühle Seewasser an den Fingerspitzen.
»Hat es wehgetan?«
Sie schüttelte den Kopf, was bedeutete, dass sie es nicht wusste, und legte den Stoff übereinander, der sich sofort wieder zu einem Ganzen zusammenfand.
Die Sonne war hinter der Bucht verschwunden und hatte einem blaugefleckten, mondlosen Himmel Platz gemacht.
Ich beschloss, etwas zu probieren.
»Möchtest du, dass ich es tue?«
»Ja.«
Ich machte die Tür auf und linste ins Treppenhaus. Weit und breit kein John Connor. Ich wartete ab, wollte sehen, wie sie sich verhielte, doch sie machte keine Anstalten, sich zu bewegen, bevor ich mich bewegt hatte. Gemeinsam verließen wir das Apartment, gingen hinter das Haus und schlenderten am Strand entlang. Mir fiel auf, dass es nur ein Paar Fußspuren gab, meine eigenen.
»Hörst du das?«, fragte ich und sie sah hinaus aufs Meer, wo sich Nebelbänke bildeten.
»Möchtest du, dass ich etwas höre?«
»Du musst entscheiden, ob du etwas hörst. Es sind die Heulbojen, sie sind wirklich vorhanden. Und entweder du hörst sie oder du hörst sie nicht. Letzte Nacht hast du sie gehört.«
»Ja. Ich höre sie.«
»In der Dunkelheit klingen sie so einsam. Manchmal klingen sie fast menschlich, als ob sie nach jemandem rufen und ihn bitten, ihnen Gesellschaft zu leisten. Jede hat ihren eigenen Klang. Es gibt nicht zwei, die gleich klingen, hör mal,« ich zeigte nach rechts, auf die mit dem tiefsten Ton, während die beiden links von uns höher klangen. Alto, contralto profondo, tenore. »Weißt du, warum das so ist?«
»Erzähl es mir, bitte.«
»Auf diese Weise können die Schiffe im Dunkeln herausfinden, wie nahe sie den Piers sind. Je höher der Klang der Heulbojen, desto näher sind die Piers.«
Wir gingen weiter, bis wir die besagte Stelle erreichten und stehen blieben. Der Wind heulte, die Wellen brachen sich an den Felsen und weiße Gischt sprühte über unsere Köpfe hinweg. »Weißt du, wo wir hier sind?«, fragte ich.
»Möchtest du, dass ich es weiß?«
»Hier habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Wenn du dich unbehaglich fühlst, können wir gehen.«
»Möchtest du, dass ich mich unbehaglich fühle?«
»Heiliger Bimbam!«, entfuhr es mir ärgerlich. Nach einem Tag voller Fragen war ich mit meiner Geduld am Ende. »Weshalb beantwortest du jede Frage mit einer Gegenfrage?! Hör auf, mich zu fragen, wie du sein sollst. Versuche, dich daran zu erinnern, wie du warst, als du noch gelebt hast. Denk nach! Sei du selbst. Es muss Dinge geben, die du von dir aus magst oder nicht magst.«
Sie wandte sich ab, sah aufs Meer und schwieg.
»Schon gut, es tut mir leid. Ich wollte nicht laut werden. Du sollst nur wissen, dass du eine eigene Meinung haben kannst. Du musst nicht mein Klon sein.«
Sie drehte sich nicht um.
»Komm schon, ich habe gesagt, dass es mir leid tut. Ich habe nur kurz die Beherrschung verloren. Verzeih mir, bitte.«
»Rechne stets mit dem Schlimmsten, dann wirst du nicht enttäuscht, erinnerst du dich?«
»Ich weiß. Du hast recht. Ich habe es nur vergessen.« Ich legte von hinten meine Arme um sie und atmete den salzigen Duft ihres Haares ein, das immer feucht war, selbst wenn es trocken war. »Du bist ein sehr nachsichtiger Mensch, weißt du das?«
»Bin ich das?« Sie wandte sich um und sah mich an, zutiefst erstaunt.
»Ja, hoffnungslos nachsichtig.«
Ich rieb ihren Oberarm.
»Du bist ja ganz kalt«, sagte ich. »Vielleicht sollten wir zurückgehen. Frierst du?«
»Möchtest du, dass ich friere?«
XI
In meinem Kopf steckte ein wütendes Eichhörnchen, das versuchte, sich den Weg nach draußen frei zu knabbern. Dreimal am Tag warf ich eine Handvoll Aspirin ein, doch es linderte die Schmerzen nur für kurze Zeit. War ich mit ihr zusammen, verspürte ich keinen Schmerz, doch wenn ich sie nicht sah, litt ich Höllenqualen.
Sie ging jeden Abend mit mir zu Bett und wir liebten uns über Stunden. Danach hielt ich sie im Arm, bis ich eingeschlafen war.
Wenn ich nachmittags erwachte, war sie verschwunden und die Kopfschmerzen hatten sich wieder eingestellt. Doch es war ein geringer Preis, den ich zu zahlen hatte, denn in ihrer Gegenwart war ich so glücklich, fühlte mich so geborgen, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Wären wir nur nicht immer einer Meinung gewesen — der einzige Makel des Ganzen. Egal, was ich sagte, sie stimmte mir zu. Wenn es regnete und ich sagte, es sei sonnig, sagte sie, es sei sonnig, und wenn ich ihr dann eröffnete, dass ich gelogen hatte, erwiderte sie, auch sie habe gelogen!
Zum Essen legte ich stets zwei Gedecke auf und sie aß gemeinsam mit mir. Ich sah, wie sie das Essen in den Mund schob, sie schien es auch zu kauen und hinunterzuschlucken, aber am anderen Tag fand ich den Teller an Ort und Stelle vor und das Essen war unberührt.
Sie stand am Fenster, als das Telefon klingelte. Der Anrufbeantworter war nicht angeschaltet, und als es immer weiter klingelte, drehte sie sich um, als ob sie abnehmen wollte, rührte sich aber nicht vom Fleck. Beim zwölften Klingeln nahm ich den Hörer ab.
»Hallo«, sagte ein Mann am anderen Ende. Ich antwortete nicht, versuchte nur, mich zu erinnern, woher ich die Stimme kannte.
»Hallo? James?«
»Ja?«
»Oh, hallo, James, hier ist Norman Stetson vom Fachbereich für darstellende und bildende Künste.«
»Dekan Stetson?«, fragte ich, nicht im Ansatz bemüht, meine Überraschung zu verbergen.
»Ja, ich hoffe, ich störe nicht.«
»Nein, keineswegs«, log ich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Nun, James, wir haben da ein Problem mit Mike Thomas. Er hat eine Blinddarmentzündung und kann das Fotoseminar nicht abhalten. Ich habe gehofft, dass Sie vielleicht einspringen könnten.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nach einem gefühlt endlosen Schweigen fragte er: »Sind Sie noch dran?«
»Ja, ich bin noch dran, Herr Dekan. Sie möchten also, dass ich das Seminar übernehme?«
»Wir stecken wirklich in der Klemme, James. Mir ist klar, das kommt ein wenig plötzlich, aber ich wüsste nicht, wen ich sonst bitten könnte. Es wäre mir überaus unangenehm, das Seminar zu streichen, nachdem es quasi begonnen hat. Wir müssten allen Studenten Ersatz anbieten, andere Seminare umlegen, es wäre ein Riesen-theater.«
»Nun, es kommt wirklich etwas unverhofft, Herr Dekan, und ich würde gern ... «
»Hören Sie, James. Ich weiß, dass Sie als Nachfolger im Gespräch sind, wenn Professor Mellet nächstes Frühjahr in den Ruhestand geht, und wenn Sie uns jetzt unterstützen, wirft das ein gutes Licht auf Sie, wenn Ihre Bewerbung einer Prüfung unterzogen wird.«
In Gedanken sprang ich zum nächsten Semester, wenn der wissenschaftliche Beirat über meine Festanstellung befinden würde, sah Dekan Stetson, wie er wichtigtuerisch am Kopf des Konferenztisches thronte, das Gesicht angewidert verzogen, als wäre er soeben auf ein totes Stinktier getreten —
»Sicher, Herr Dekan, es wäre mir eine große Freude.«
»Danke, James, Sie tun mir damit einen riesigen Gefallen.«
»Jederzeit gern«, murmelte ich.
»Melden Sie sich morgen früh bei Margaret, sie gibt Ihnen dann die Teilnehmerliste.« Das Gespräch war beendet, die Leitung tot, kein Wort der Verabschiedung. Ich drehte mich um zum Fenster. »Verdammt! Das verdirbt alles! Das grenzt ja an Erpressung! Mist, verd— «
»Aber es sind doch nur drei Nachmittage in der Woche«, sagte sie.
»Darum geht es nicht — und woher weißt du das überhaupt?«
»Und wenn du dieses Jahr keine Festanstellung be-kommst, müssen sie dich gehen lassen. Die vier Jahre sind dann schließlich um.«
Ich starrte sie an, fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Das waren die ersten Worte gewesen, die sie völlig eigenständig, ohne mein Zutun und ganz gewiss ohne eine bewusste Überlegung meinerseits ausgesprochen hatte, und die, was Logik, Argumentation und Schluss-folgerung betraf, nicht zu widerlegen waren.
»Alles in Ordnung?«
»Ja. Alles bestens.«
»Du siehst so merkwürdig aus.«
»Ich bin merkwürdig. Ich mache mich jetzt ans Abendessen.«
»Okay.«
Ich fuhr hoch; fast zu Tode erschrocken, schnappte ich nach Luft: Der Wecker schrillte mit voller Lautstärke. Normalerweise hatte ich ihn immer auf leise gestellt, doch jetzt stand er auf laut.
Im Badezimmer schluckte ich die letzten neun Aspirin. Beim Zuklappen des Arzneischranks sah ich, dass meine Zahnbürste in der Halterung nach Osten zeigte. Ich richtete sie stets nach Westen aus. Als Karen mitbekommen hatte, dass mir derlei wichtig war, richtete sie meine Zahnbürste immer nach Norden aus. Ich bekam es mit der Angst zu tun und sah Richtung Süden, ins Wohnzimmer, doch da war niemand.