Blutige Falle

Ostfrieslandkrimi

Dörte Jensen


ISBN: 978-3-96586-169-5
1. Auflage 2020, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2020 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de und www.ostfrieslandkrimi.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung eines Bildes von adobe stock (© claudia hake #66982952)

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Inhalt

Störtebeker 2.0

 

Irgendwo in Ostfriesland, April

 

Störtebeker griff nach der Augenklappe, die neben dem Laptop auf dem Küchentisch lag. Er hatte das Accessoire im Februar in einem Kölner Geschäft zusammen mit der Latexmaske und dem Piratenkostüm gekauft. Während der Faschingssaison würde sich niemand an einen der zahlreichen Kunden erinnern, die während der närrischen Tage in ihrer Verkleidung jemand anders sein wollten. Im Gegensatz zu der feiernden Meute wollte Störtebeker aber nicht für einige Tage aus seinem Alltag ausbrechen, um sich danach wieder für einen Hungerlohn abzurackern. Da ihm der Hintern als Kind nicht mit Goldstaub gepudert worden war, hatte er sich zunächst in der Schule und später im Beruf mehr angestrengt als alle anderen. Inzwischen hatte der Freibeuter aber längst begriffen, dass er für die feinen Herren in ihren Maßanzügen und die von Schönheits­chirurgen modellierten Damen immer nur ein Dienstbote sein würde. Wenn er etwas ändern wollte, musste er gegen diese Ungerechtigkeit gewaltsam rebellieren. In dieser Hinsicht unterschied sich auch die moderne Zeit keinesfalls von der Epoche, in der sein großes Vorbild gelebt hatte.

Seinen richtigen Namen kannte niemand. Die Anhänger, die seine Posts tausendfach teilten und mit begeisterten Kommentaren versahen, feierten ihn inzwischen wie einen Helden. Heutzutage musste niemand mehr Wasser unter dem Kiel haben, um ein echter Pirat zu sein. Das Internet war ein weltweites Datenmeer, sein Schiff war der Laptop, die Verstecke anonyme Internetverbindungen, von denen aus er jederzeit in die digitale See stechen konnte. In den letzten Monaten hatte er unter dem Banner des Friesen­rechts eine schlagkräftige Crew angeheuert, die ihm bedingungslos folgte. Störtebeker würde zukünftig nicht länger um Erlaubnis bitten, sondern sich seinen Anteil nehmen. Er zog sich die Augenklappe über, loggte sich in den Chatroom ein, in dem sich seine Freibeuter versam­melten, und postete das Foto einer Stoffpuppe, in deren aufgeschnittenen Mund er Geldscheine gestopft hatte. Wie erwartet waren seine Mitstreiter von dem Symbol als Warnung an alle, die den Hals nicht voll genug bekommen konnten, begeistert. Es wurde Zeit, dass die Menschen an der Nordseeküste seinen Namen wieder mit Ehrfurcht aussprachen.


 

Friesenrecht

 

Borkum, Mai

 

Der Geschäftsführer der Niederlassung des Gourmet­restaurants Goldhering machte wie jeden Abend vor der Eröffnung seinen Kontrollgang durch die Gaststube.

»Das nennen Sie sauber?« Mit dieser Frage wandte sich Jesper Hennings an die junge Kellnerin Petra Gerdes, die die Tische eingedeckt hatte, und griff nach einer Gabel. Mit kritischem Blick betrachtete er sie im Licht eines in der Decke eingelassenen Spots.

»Ich habe das Besteck erst heute Nachmittag poliert.« Die Angestellte in der gestärkten weißen Bluse und dem schwarzen Rock wich seinem Blick nicht aus.

»Nicht gründlich genug!« Er drückte ihr die Gabel in die Hand. »Nach Feierabend werden Sie das ganze Besteck noch einmal polieren!«

»Ich lasse mich keinesfalls länger ausbeuten. Meine Überstunden werden nicht einmal bezahlt!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Jesper lachte freudlos auf. »Das Leben ist nun einmal kein Ponyhof. Wir öffnen in zehn Minuten. Sollte ich bis dahin weitere Fehler finden, sind Sie fristlos gefeuert. Haben Sie das verstanden?« Der Geschäftsführer hob warnend den rechten Zeigefinger.

»Störtebeker hat gesagt …«

»Meinen Sie damit etwa den Schwachkopf, der auf den digitalen Wellen des Internets segelt und sich hinter einem albernen Pseudonym versteckt?«, unterbrach er seine Mitarbeiterin aufgebracht.

»Er hat die Bewegung Friesenrecht ins Leben gerufen, der sich inzwischen viele Tausend Ostfriesen angeschlossen haben. Zu den Demonstrationen kommen immer mehr Menschen.«

»Worte haben die Welt noch nie verändert. In Ihrer Freizeit können Sie so viel demonstrieren, wie Sie wollen, aber im Goldhering vergessen Sie den ganzen Blödsinn gleich wieder, denn hier gelten die Spielregeln des Inhabers Thomas Rosner.«

»Auch er steht keinesfalls über dem Gesetz! Jeder Arbeitgeber muss …«

»Wollen Sie ihn etwa über seine Rechte und Pflichten belehren?« Der sanfte Tonfall, mit dem ihr Vorgesetzter die Frage stellte, erinnerte Petra an den kreidefressenden Wolf aus dem Märchen, der die sieben Geißlein mit seiner zarten Stimme täuschen wollte.

»Ich habe doch nur …«, begehrte sie dennoch auf.

»… das Besteck nicht richtig geputzt und …« Der Geschäftsführer griff nach einem sauberen Weinglas, auf dem sich das Licht spiegelte, und drückte seinen Daumen darauf. »… ein verdrecktes Glas auf den Tisch gestellt. Eine Mitarbeiterin wie Sie kann ich keinesfalls länger in dem Unternehmen dulden. Der Goldhering ist schließlich keine der Spelunken, in denen Sie bisher gekellnert haben. Sie können sich morgen früh Ihre Papiere im Juister Personalbüro abholen.«

»Das ist Schikane! Zudem ist die Kündigung rechtlich unwirksam. Ich werde vor dem Arbeitsgericht dagegen klagen.« Petra legte die Gabel auf den Tisch und funkelte ihn wütend an.

Jesper grinste höhnisch. »Sollten Sie tatsächlich so dumm sein, werden seine Anwälte wie Bluthunde über Sie herfallen. Verschwinden Sie jetzt, bevor ich wirklich böse werde. Frau Arend, kommen Sie bitte?«, rief er Richtung Küche.

»Das werden Sie bereuen!«, drohte die Kellnerin. Dann drehte sie sich um und rannte aus der Gaststube.

»Was kann ich für Sie tun?« Eine schlanke Frau mittleren Alters mit streng zurückgekämmten Haaren trat in die Gaststube. Ihre Kleidung, die ebenfalls aus einem schwarzen Rock und einer weißen Bluse bestand, wies nicht die geringste Falte auf. »Frau Gerdes hat unser Haus mit sofortiger Wirkung verlassen. Teilen Sie das heutige Personal entsprechend ein.«

»Warum das denn? Petra war eine gute Servicekraft und …«

»Weil ich es sage!«, herrschte er sie an.

»Natürlich. Ich werde mich sofort um die Umbesetzungen kümmern.« Die Angestellte verschränkte die Hände vor dem Körper und senkte den Kopf. Jesper verließ die Gaststube und ging in sein Büro, das im hinteren Teil des Gebäudes lag. Der Raum wurde von einem großen Eichenschreibtisch dominiert. Er ließ sich auf seinen ledernen Schreibtischstuhl fallen und gab den Zugangscode seines Computers ein. Nachdem er das Personalbüro über die Kündigung informiert hatte, öffnete er das Internet und gab die Begriffe Störtebeker und Friesenrecht in eine Suchmaschine ein.

Wenige Augenblicke später wurden ihm unzählige Links zu Seiten angezeigt, in denen über die verschiedenen Demonstrationen berichtet wurden. Diese hatten in der Küstenregion ihren Anfang genommen und schwappten nun auf die Inseln über. In der letzten Woche hatten sich auf Norderney Hunderte Menschen hinter dem Friesenrecht-Banner versammelt und waren damit über die Strand­promenade marschiert. Dabei hatten sie Parolen wie Faire Löhne für faire Arbeit und Stoppt den Mietwucher skandiert. Über die Veranstaltung hatte sogar ein regionaler Fernsehsender berichtet. In den sozialen Netzwerken posteten die Anhänger Fotos und Videos der Demonstrationen. Ihre Aufrufe verbreiteten sich im Internet wie ein Virus.

Begriffen die Idioten, die lächerliche Pappschilder in die Höhe hielten oder selbst bemalte Bettlaken wie Flaggen im Wind wehen ließen, denn nicht, dass sie mit ihren Demonstrationen keinesfalls etwas ändern würden? Wenn Störtebeker nicht in einer Zelle enden wollte, würde auch er früher oder später zu einem Teil des Systems werden, das er angeblich bekämpfte. Jespers Meinung nach war jeder Mensch käuflich. Es kam nur auf den Preis an. Geld regierte die Welt. So einfach war das.

Während des laufenden Betriebs ließ sich der Geschäfts­führer immer wieder im Restaurant sehen, begrüßte die Gäste mit Handschlag und unterhielt sich mit ihnen, denn unter der betuchten Kundschaft befanden sich auch prominente Sportler, Musiker und hochdotierte Manager namhafter Firmen. Vor drei Wochen hatte sogar die Sängerin Madame, die mit ihrem Hit Sonne, Sand und Sehnsucht ganz Deutschland zum Tanzen gebracht hatte, mit ihrem Manager hier gegessen.

Jesper Hennings war wie der Inhaber Thomas Rosner davon überzeugt, dass die Mitarbeiter nur mit ständigen Kontrollen zu guter Arbeit animiert werden konnten. Mit der fristlosen Kündigung von Petra Gerdes hatte er zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Zum einen war er einen permanenten Unruheherd losgeworden. Zum anderen war ihre Kündigung auch eine Warnung an alle Mitarbeiter, sich besser niemals mit ihm anzulegen.

Nach dem Ende der Schicht machte Jesper vor den Augen der Belegschaft einen letzten Kontrollgang, bei dem er allerdings nichts zu beanstanden hatte. Nachdem seine Angestellten das Restaurant verlassen hatten, verschloss er die Tür hinter ihnen und brachte die Tageseinnahmen in sein Büro. Er hatte das Geld gerade in den Tresor gelegt, als er ein Klirren aus dem Erdgeschoss hörte.

War etwas umgefallen?

Jesper verschloss den Tresor, ging nach unten, schaltete das Licht an und ließ seinen Blick durch das Restaurant schweifen. Hier war alles in Ordnung. Er drehte sich um und sah in die Küche. Dort war eine Fensterscheibe eingeworfen worden. Glasscherben lagen auf dem Boden. Plötzlich fiel ein Schatten in den Raum und ein Pirat stand vor ihm. In der Hand hielt er einen Säbel mit einer zur Spitze hin breiter werdenden Klinge.

»Gib mir das Geld!« Die Stimme hinter der Maske klang dumpf.

»Petra, bist du das?« Jesper runzelte die Stirn.

»Ich will die Tageseinnahmen!« Der Pirat hob drohend seinen Säbel.

»Von mir bekommst du keinen Cent und …« Der Geschäftsführer schrie auf, als ihm der Maskierte die scharfe Klinge einmal über die linke Wange zog. Blut lief aus der Wunde und rann über sein Gesicht. In rasender Wut ballte Jesper die Fäuste und stürzte sich auf seinen Widersacher. Aber dieser wich geschickt aus und schlitzte Jesper mit einer blitzschnellen Bewegung auch die rechte Wange auf. Der Schmerz raste wie flüssiges Feuer durch seine Nerven.

»Das Geld, sofort!« Der Eindringling bohrte die Spitze des Säbels unter Jespers Kinn.

»Es ist im Tresor!« Blut lief über sein Gesicht und tropfte auf den Hemdkragen. Auch wenn der Geschäftsführer seine Angst verbergen wollte, zitterte seine Stimme. Mit einem derartigen Angriff hatte er keinesfalls gerechnet.

»Hol es! Ich werde dich bei einer falschen Bewegung sofort töten. Hast du das verstanden?«

Jesper nickte. Dabei bohrte sich die Spitze des Säbels tiefer in seine Haut. Auf wackeligen Beinen stakste er wie ein alter Mann in sein Büro. Dort öffnete er den Tresor, den er erst wenige Minuten zuvor geschlossen hatte.

»Umdrehen, aber langsam!«

Jesper folgte der Aufforderung. Die Spitze des Säbels bohrte sich nun in seine Brust.

»Nehmen Sie das Geld und verschwinden Sie.«

»So einfach ist das leider nicht. Niemand steht über dem Gesetz.«

»Aber ich …«

»Das Friesenrecht ist unverkäuflich!«

Bevor Jesper Hennings etwas erwidern konnte, spürte er einen stechenden Schmerz. Danach … kam die Dunkelheit.