Renate Brandsch
Michael Brand
Das Märchen von der
Gleichheit
© 2021 Dr. med Renate Brandsch, Dr. med Michael Brand
Autor: Dr. med. Renate Brandsch, Dr. med. Michael Brand
Lektorat: Franziska Brand
Umschlaggestaltung, Illustration: Franziska Brand, Daphne Szlosarcyk
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
978-3-347-13312-9 (Paperback)
978-3-347-13313-6 (Hardcover)
978-3-347-13314-3 (e-Book)
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Inhalt
Vorwort
In welcher Situation befinden wir uns heute?
Natur als Maß
Was ist Leben?
Einheit der Natur
Warum ist der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik so wichtig?
Auf diese Ordnung kommt es an
Information und Komplexität
Welche Aufgabe hat unser Gehirn?
Was ist Kultur?
Symbole
Sprache
Schrift
Technik
Geld
Historische Fakten
Gestaltrückgang durch Informationsverlust oder Was haben wir aufgrund des Gesagten zu erwarten?
Symbolflut isoliert den Menschen
Politische Gestalt
Auf die kulturelle Bindung kommt es an
Homogenität
Verstehen von Sprache
Tradierung
Hierarchie
Opfer
Differenzierende (konstruktive) Norm oder Gesetz des Lebens
Religion
Metaphysik
Gott
Gerechtigkeit
Naturrecht und Politischer Aristotelismus
Kirchenburgen
Normative Revolution
Entdifferenzierende, egalitaristische (destruktive) Norm
Menschenrechtstheorie
Vertragstheorie
Liberalismus
Demokratie
Sozialismus-Kommunismus
Covid-Krise
Anhang
Rückgang der Vielfalt
Paradigmenwechsel der Wissenschaft
Naturalistischer Fehlschluss
Erkenntnistheorie
Instmmentalismus-Realismus oder Gibt es diese Welt wirklich?
Wahrheitstheorien
Begründungspostulat
Theorienbildung
Quellenregister
Vorwort
In unserem Chirurgie-Hörsaal der Friedrich-Wilhelm-Universität – wir studierten damals Medizin in Bonn – stand ein Goethe-Wort: „Was ist das Schwerste von allem? Was dich das Leichteste dünkt. Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt”.
Dieser Ausspruch hat sich immer wieder bewahrheitet, er gilt heute mehr denn je. „Des Kaisers neue Kleider” begegnen uns täglich. Denn die Informationsflut kann keiner mehr überblicken; gleichzeitig fehlen die Kriterien, das auf uns Einströmende zu ordnen und in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Zwar ist unsere Zeit zu den differenziertesten Analysen fähig, gleichzeitig aber auch immer weniger in der Lage, umsichtig und vorausschauend zu handeln.
Den entscheidenden Anstoß zu diesem Buch verdanken wir unserem Neffen Josch. Damals praktizierte ich als Landärztin im Hohenlohischen. Unsere Tochter war noch klein. Angesichts der großen Meinungskonkurrenz heute stellte der Achtzehnjährige seine Fragen über Gott und die Welt. Interessiert und kritisch gab er sich nie mit oberflächlichen Antworten zufrieden, was uns öfters in Argumentationsnot brachte. Damals dachten wir, es müsse ein Buch geben, das – die Grundlagen unseres Wissens zusammenfassend – Orientierungshilfe sein könnte.
Später dann in Oberbayern – Michael als Radiologe und Nuklearmediziner in München und ich, wieder Studentin, diesmal an der LMU – nahm diese Idee allmählich Gestalt an.
Das Buch richtet sich vor allem an junge Menschen, denen wir mehr schulden als bloß vordergründig Materielles; zwar statten wir sie mit allen Errungenschaften unserer technischen Zivilisation aus, entlassen sie aber viel zu oft ohne eine entsprechende „Software“ in eine ungewisse, nicht ungefährliche Zukunft.
Ausgehend von unserem philosophischen und naturwissenschaftlichen Fundament wollen wir mit Fakten vertraut machen, die helfen sollen, diese Welt besser zu verstehen, um dann adäquat handeln zu können.
Da wir das Manuskript schon vor Jahren fertiggestellt haben, schließt sich eine kurze Stellungnahme zur aktuellen Covid-Krise an. Die Ereignisse des Jahres 2020 zeigen in bedrückender Weise, wie die Prognosen, die wir für die fernere Zukunft aufgestellt haben, schon heute Wirklichkeit werden.
In welcher Situation befinden wir uns heute?
Krisen, Krankheiten und Katastrophen, die das Leben auf diesem Planeten bedrohen, hat es immer gegeben, solange die Erde besteht. Doch im Gegensatz zu früheren Zeiten haben wir es nun mit menschengemachten, ständig zunehmenden und die gesamte Biosphäre erfassenden Schwierigkeiten zu tun. Von entscheidender Bedeutung ist, dass es kein Draußen mehr gibt, keinen Zufluchtsort mit regenerativem Potential. Alle wesentlichen Probleme sind Weltprobleme, die Situation, eine Situation der Menschheit.
Heute stehen Finanzkrisen und Migrationsströme im Vordergrund. Letztlich sind beide Phänomene Ausdruck einer gigantischen Leistungsvernichtung und lebensfeindlichen Entwicklung. Wir werden verstehen, warum das so ist.
Doch abgesehen davon bleibt das Bevölkerungswachstum bei knappen Ressourcen und zunehmender Belastung der Natur zentrale Bedrohung.
Dem neuen Phänomen der Globalisierung steht der Mensch ebenfalls ratlos gegenüber. Die rasante Entwicklung der Informationstechnologie und die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen über die Grenzen der Einzelstaaten hinweg werden irrtümlicherweise als ein Zusammenwachsen der Länder zu einem einzigen weltweiten politischen System gedeutet. Doch das würde die Integrität der Einzelstaaten voraussetzen, deren Bedeutung zunehmend verloren geht. Denn globale Märkte funktionieren nach der „gewinnmaximierenden Logik privater, transnational und global operierender Akteure“ und schwächen „nationalstaatlich begrenzte, am Gemeinschaftsinteresse ausgerichtete Politik von Regierungen“,1 deren Handlungsspielraum territorial beschränkt bleibt. Weil Privatwirtschaft in großem Stil global agieren und Ressourcen einem Staat entziehen kann, kommt es zum Standortwettbewerb zwischen Staaten, was dazu führt, dass „falsche reglementierende Politik mit dem Abzug von Ressourcen bestraft wird und binnenorientiert-interventionistische Politik in eine Krise gerät.“2
Nationale Defizite können niemals durch eine „Weltregierung“ adäquat kompensiert werden. Unternehmen, Banken oder private Anleger, auch wenn sie transnational agieren, können den Staat nicht ersetzen. Denn Staaten bleiben die einzigen Instanzen, die kulturelle Identität sichern. Denn sie verfolgen ein – wie auch immer definiertes – Gemeinwohl ihrer Bürger, sie erlassen Gesetze und sorgen für deren Einhaltung und schaffen so die gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen für privates Wirtschaften. Eine mögliche „Global Governance,“ deren Legitimation nicht auf dem Zusammenschluss autonomer Einzelstaaten beruht, sondern als Konsequenz aus deren Auflösung entsteht, birgt die Gefahr der Einflussnahme von Partikularinteressen in sich. Sie wird auch mit nicht zu bewältigenden Schwierigkeiten konfrontiert werden, denen man mit schärfster Überwachung und Beschneidung der individuellen Freiheit durch wie auch immer geartete Kontrollinstanzen begegnen wird.
Ein weiteres Problem liegt im Rückgang der Vielfalt. Angesichts der Tatsache, dass sie das Charakteristikum unserer Biosphäre darstellt, muss ihr anthropogen bedingter Verlust auf breiter Front alarmieren: es sterben Arten, Völker und Sprachen.3
Doch ohne Vielfalt kein Leben, wir finden sie schon auf molekularer Ebene. Hier ist sie verantwortlich für die Speicherung und Weitergabe der Erbinformation durch beispielsweise katalytisch aktive oder strukturbildende Proteine. Ohne Vielfalt gäbe es auch keine Evolution, denn Selektion kann nur dort auswählen, wo Variabilität existiert. Das führt dazu, dass sich die anpassungsfähigeren Systeme erfolgreicher fortpflanzen als die weniger flexiblen, und sich auf Kosten dieser weiter ausbreiten können.4
Die normale Artaussterberate der geschätzten hundert Millionen heute auf der Erde lebenden Arten (uns bekannt sind nicht einmal zwei Millionen)5 liegt im Durchschnitt bei etwa zwei Arten pro Jahr, die dann durch neue ersetzt werden. Doch sterben heute schon über zehn Arten pro Stunde endgültig aus. Ihnen folgen keine neuen nach. Die Welt-Naturschutz-Organisation (World Conservation Union WCU) schätzt den täglichen Verlust auf siebzig bis dreihundert Arten weltweit. Man nimmt an, dass in den nächsten fünfzig Jahren zehn bis fünfzig Prozent aller Tier- und Pflanzenarten von der Erde verschwunden sein werden6 (zu den Ursachen s. Anhang).
Als gleichermaßen alarmierend muss der Verlust kultureller Vielfalt gesehen werden. Zwar hat es Genozid (Völkermord) und Ethnozid (Kulturzerstörung) in der Menschheitsgeschichte immer gegeben, doch nicht in dieser Geschwindigkeit und in dem globalen Ausmaß wie heute. Mit ihrem Lebensraum verlieren beispielsweise viele Naturvölker bzw. Wildbeuter ihre Lebensgrundlage: Pygmäen, Buschmänner, Tasmanier, Samen, Indianer, Ik, Eipo und andere. Diese Gemeinschaften, die zum Teil noch bis in die Gegenwart hinein Jäger und Sammler und in ihrem natürlichen Raum verwurzelt gewesen sind, können ihre kulturelle Identität nicht hinüberretten in eine anonyme technisierte Massengesellschaft. Auch die sogenannte zivilisierte Welt wird im Rahmen ihrer multikulturellen Entwicklung immer uniformer. Denn letztlich sind alle Völker von dieser Entwicklung betroffen.
Worin besteht nun der Wert der biologischen Vielfalt, warum wird ihr Verlust für den Menschen zur existentiellen Bedrohung? Der vordergründige ökonomische Nutzen der Biodiversität soll hier der Vollständigkeit halber erwähnt werden, obwohl er angesichts der anderen Gefahr verblasst. Man schätzt, dass der Mensch täglich an die vierzigtausend andere Spezies direkt oder meist indirekt (Mikroben, Pilze, Pflanzen, Tiere) nutzt.7 Zahlreiche Pflanzen- und Tierarten sind für die Ernährung der Weltbevölkerung unverzichtbar. Die Artenvielfalt von Nutzpflanzen ist wichtig, weil landwirtschaftlich verwendete Sorten durch Einkreuzen verbessert werden können. Denn Monokulturen und eine standardisierte Landwirtschaft sind anfälliger für Krankheiten und weniger resistent gegen den Befall von Insekten und Würmern.8 Tierische und pflanzliche Genspeicher sind auch eine wesentliche Quelle zur Herstellung von Arzneimitteln. Ungefähr fünfundzwanzig Prozent aller in Europa und den USA verschreibungspflichtigen Medikamente enthalten pflanzliche Wirkstoffe. Unabhängig davon können Tiere und Pflanzen als Vorbild für technische Entwicklungen dienen (Bioengineering).9
Doch weit wesentlicher als dieser unmittelbare ökonomische Verlust ist die Tatsache, dass mit jeder Art, die unwiederbringlich verloren geht, das gesamte Ökosystem destabilisiert wird, da jeder Spezies eine stützende Funktion im Ganzen zukommt. Stirbt sie schneller aus, als sie es normalerweise tut, hat dies Konsequenzen nicht nur für unzählige andere Arten, die von ihr abhängen, sondern auch für die Biosphäre insgesamt.10 Denn wir sollten uns bewusst machen, dass es innerhalb dieses komplex vernetzten Systems keine Sieger geben kann; viel zu groß sind die gegenseitigen Abhängigkeiten. Es muss im Interesse eines jeden Subsystems, auch des Menschen liegen, das Gleichgewicht des Ganzen zu erhalten. Gerät es ins Wanken, ist nicht nur der Mensch gefährdet, sondern das Leben auf diesem Planeten überhaupt.
Evolution – im weitesten Sinne als Entwicklung, Veränderung verstanden – ist ein Prozess der Differenzierung und damit ein Vorgang, der nicht nur Vielfalt schafft, sondern ihre Variationsbreite auch als Voraussetzung braucht. Biodiversität, als genetische Vielfalt, ist die Grundbedingung von Leben überhaupt. Erst sie ermöglicht auch jede weitere erfolgreiche Anpassung der Natur an veränderte Umweltbedingungen.11 „Mit einer Standardisierung von Natur und Kultur versperrt sich der Mensch selbst den Weg zu existentiell notwendigen Entwicklungsmöglichkeiten.“12 Vielfalt ist die eigentliche Quelle von Veränderungen, sie ist der evolutionäre Motor schlechthin. Uniformität dagegen führt zu Stillstand, und Stillstand bedeutet Tod.
Tatsache ist, dass keine Population eine ähnliche Belastung für die Erde darstellt wie der Mensch. Durch seine zivilisatorische Evolution unterscheidet er sich von allen anderen Organismen: „Menschliche Lebensgemeinschaften, gleich welcher Kultur-, Zivilisations- oder Wirtschaftsstufe, bewirken, im Vergleich zu anderen Organismen und auf ihre Biomasse bezogen, die nachhaltigsten Reliefveränderungen, die höchsten Materialverlagerungen und Stoffumsätze, die gewaltigsten Energiefreisetzungen und damit nicht zuletzt auch die heftigste Unordnung in den unseren Planeten steuernden Ordnungssystemen.“13 Der Mensch, der sich all seiner natürlichen Wachstumsfesseln entledigt hat, nimmt Besitz von der ganzen Erde bis in ihre letzten Winkel. Wie kein anderes Wesen in der Geschichte der Erde bedroht der Mensch das Leben selbst auf unserem Planeten.
All diese Vorgänge sind ohne Beispiel in der Geschichte des Menschen. Überlieferte Maßstäbe, die uns Orientierung bieten könnten, gibt es nicht. Darum stehen wir den Herausforderungen der Zukunft ohne historische Lehren ratlos gegenüber.
Was macht nun den Menschen, dieses komplexeste aller Lebewesen, so gefährlich? Was unterscheidet ihn von allen anderen Arten? Kann er sich selbst, kann er das Leben auf diesem Planeten erhalten? Was ist Leben überhaupt, und: was ist der Mensch? Diesen Fragen müssen wir uns zuwenden, wollen wir schließlich die philosophische Kardinalfrage stellen: Was soll ich tun?
Um die Entwicklung des Menschen zu verstehen, sollten wir uns zunächst auf unsere Anfänge und Fundamente besinnen. Doch es gibt ein weiteres Problem: sicheres, absolut verlässliches Wissen, das uns in dieser Lage helfen könnte, haben wir nicht. Denn spätestens seit Kant (1724-1804) befinden wir uns in einem erkenntnistheoretischen Gefängnis (s. Anhang). Darauf müssen wir kurz eingehen.
All das, worauf sich frühere Generationen haben stützen können, hat sich nämlich als windig erwiesen. Es wäre so einfach, könnten wir der Evidenz vertrauen, unseren Sinnesorganen. Zwar funktionieren sie normalerweise gut, doch liefern sie kein sicheres Wissen, denken wir nur an Sinnestäuschungen.14
„Das hat schon Einstein gesagt!“ Wir orientieren uns gerne an Autoritäten, doch auch sie sind Menschen, die sich irren können. Das gilt genauso für alle überlieferten Bücher und Schriften, die ja auch von fehlbaren Menschen verfasst worden sind, das gilt für den menschlichen Verstand überhaupt. Wie oft sagen wir: „Überleg doch mal!“, aber auch unsere Vernunft kann kein sicheres Wissen bieten.15
Die Flucht in Logik und Mathematik hilft uns ebenfalls nicht weiter. Logische Schlüsse sind in höchstem Masse sicher, doch gehen sie von unbewiesenen Annahmen aus, die nichts über die Welt aussagen müssen. Letztlich bringen sie uns nicht weiter.16
Wir berufen uns gerne auf die Erfahrung. Auch wenn die Sinneseindrücke des einzelnen Menschen nicht verlässlich sind, glaubt man, „die vieler Menschen über lange Zeiträume sammeln, wiederholen und intersubjektiv überprüfen und durch Messinstrumente und Blind- und Doppelblindversuche objektivieren zu können“. Doch kein Verfahren ist sicher. Denn es ist durchaus möglich, dass wir alle uns irren: denken wir nur an die jahrtausendelange Vorstellung der Menschheit, die Erde sei eine Scheibe.17
Wir befinden uns in einer lähmenden Lage, denn wir können nicht einmal unseren Zweifeln trauen, auch sie lassen sich nicht beweisen. Um der vollständigen Paralyse zu entgehen, sollten wir uns allerdings bewusst machen, dass die Menschheit trotz ihrer Fehlbarkeit schon eine Weile besteht und uns deshalb von diesem lebensfeindlichen und eigentlich größenwahnsinnigen Absolutheitsanspruch verabschieden. Denn, was verstehen wir eigentlich unter „Wissen“? „Wissen“ kann man als „wahre und fundierte Überzeugung“ definieren.18 Danach hat der Wissensbegriff drei Komponenten: Die subjektive Komponente zeigt sich in der „Überzeugung“, die objektive in dem „Wahrheitsbegriff“; und die sichernde in der „Fundiertheit.“19 Die Schwierigkeit liegt nun bei diesem letzten Punkt, bei der „Fundiertheit“. Doch auch wenn unsere Beschränktheit kein sicheres, beweisbares Wissen, keine absolute Wahrheit, zulässt, bleibt uns dennoch die Möglichkeit, uns um „wahres Wissen“ zu bemühen und zu versuchen, es „durch vielfache Prüfungen und Falsifizierungen immer sicherer zu gestalten.“20 Wen die schwierige Erkenntnistheorie, die heute eine so zentrale Bedeutung besitzt, interessiert, kann das Kapitel im Anhang nachlesen.
Philosophen haben zu allen Zeiten die gleichen Fragen gestellt. Dennoch unterscheiden sich ihre Antworten. Wir sind von europäischem Denken geprägt. Doch „Philosophie beruft sich eben nicht auf kulturelle Besonderheiten, sondern auf die allgemeine Menschenvernunft und allgemein menschliche Erfahrungen. Als Philosophie interessiert sie sich für grundlegende Fragen, die in allen Kulturen gestellt werden. Sie ist ihrem Wesen nach eine die ganze Menschheit verbindende Instanz.“21
Der umfassende Anspruch unseres Themas, das nicht nur alle Bereiche menschlicher Kultur berührt, sondern auch nach der Natur fragen muss, nach dem Leben überhaupt, zwingt uns, das Fundament so tief wie möglich zu legen. Dabei werden wir überliefertes und aktuelles Wissen über die Welt zu Rate ziehen.
Doch zuvor soll nicht nur deutlich werden, wieso wir Wissen über die Welt brauchen, sondern, was genau es ist, das uns an der Welt hauptsächlich interessiert.
1 Opitz, P. J. 2001, 204
2 Opitz, P. J. 2001, 209
3 vgl. Wuketits, F. M. 2003
4 Linsenmair, K. E. 2007
5 Kalko, E. K. V. 2007
6 Opitz, P. J. 2001, 143
7 Eldredge, N. 1998
8 Opitz, P. J. 2001, 145
9 Opitz, P. J. 2001, 145
10 Opitz, P. J. 2001, 145
11 Opitz, P. J. 2001, 14
12 Wuketits, F. M. 2003, 179
13 Eichler, H. 1993, 15
14 Vollmer, G. 2007, 358
15 Vollmer, G. 2007, 358
16 Vollmer, G. 2007, 358, 359
17 Vollmer, G. 2007, 359
18 Vollmer, G. 2007, 357
19 Vollmer, G. 2007, 357
20 Vollmer, G. 2007, 360
21 Höffe, O. 2006
Natur als Maß
Da wir irgendwo anfangen müssen, lässt es sich nicht vermeiden, hier schon Begriffe zu verwenden, deren Inhalt und Zusammenhang erst im weiteren Verlauf erläutert werden (Natur, Gesetz, Religion, Gott, Politik).
Wie müssen wir uns nun die mehr oder weniger bewussten Anfänge des Menschen vorstellen?
Von Beginn an erfährt er seine Grenzen. Ihn bedroht nicht nur eine sich ständig wandelnde, unberechenbare Welt, der er mit seinen beschränkten Möglichkeiten begegnen muss, sondern auch und vor allem seine Vergänglichkeit. Gefangen in dieser räumlichen und zeitlichen Enge sucht er Halt. Trotz seiner Ohnmacht will er bestehen, jetzt und – wenn irgendwie möglich – auch im ungewissen Morgen. Angesichts der Natur ahnt er Höheres. Er „weiß“, dass sie mächtiger und älter ist als er. Orientieren kann sich der Mensch nämlich nur an etwas, das räumlich und zeitlich größer ist als er selbst. Je mehr er also über die Natur weiß und je enger sein Schulterschluss mit ihr, desto angemessener handelt er, was bedeutet, dass er dauerhafter bestehen kann. Unter dem Schutz der Natur gelingt dem Menschen so vorausschauendes Handeln und damit Raum- und Zeitgewinn. Er kann sein Territorium erweitern und Gefahren rechtzeitig begegnen. Seine Sicherheit wächst.
Zwei entscheidende Dinge werden hier deutlich: zum einen die Tatsache, dass der Mensch der Natur nicht mehr so ohne weiteres angehört wie das Tier, was er als Bedrohung empfindet. Zum anderen das Faktum, dass er die Natur in jeder Hinsicht braucht, nicht nur als Nahrung, sondern auch als maßgebliche Instanz, an der er sich orientieren kann. Obwohl er ein Kind der Natur ist, gefährdet ihn das nicht fest Gekoppelte, das Variable und Wählbare seiner geistigen Möglichkeiten, die ihn von der übrigen lebendigen Natur trennen. Sich dieses Grenzgängertums bewusst, nennt Herder (1744-1803) den Menschen darum auch zurecht einen „Freigelassenen der Schöpfung“.
Denn im Unterschied zum Tier, dessen Handlung zwingend auf den Reiz folgt, fehlt dem Menschen diese enge Kopplung. Er muss nicht zwangsläufig handeln, er kann es auch unterlassen. Verzichtet er nämlich darauf, direkt zu handeln, gelingt es ihm, zu urteilen, was ein gedankliches Handlungskonzept voraussetzt. Enthält er sich des „naiven Urteils“, führt das vom einfachen, bewussten Fragen zum planmäßigen Fragen. Damit wird es ihm möglich, nicht nur zu reagieren, sondern auch zu agieren. Sein Verhalten wird angemessener in größeren raum-zeitlichen Rahmen.22 Doch kann dieser gedehnte, mittelbare Handlungsprozess auch dazu führen, dass die Handlung ausbleibt oder versandet. Eine weitere Gefahr liegt in einer falschen Handlung. Denn aus dem Abgrund zwischen Reiz und Reaktion erwächst nicht nur die Freiheit des Menschen, sondern auch die Möglichkeit zu irren.23 Letztlich wurzelt die gesamte Kultur des Menschen in dem Umstand, dass ihm die vollkommene naturhafte Determination des Tieres und dessen instinkthaftes Eingefügtsein in die Natur fehlt. Denn für das Tier „denkt“ die Natur mit. Der Mensch ist nur in seinen angeborenen, reflexhaften Reaktionen ganz Natur. Für sein überlegtes Handeln muss er die Verantwortung zum großen Teil „selbst“ übernehmen – und dafür braucht er die Welt da draußen.
Das hochdifferenzierte Gehirn des Menschen, das sich im Laufe seiner Entwicklung mehr und mehr der genetischen, instinkthaften Festlegung entzogen hat, macht den Menschen – darauf werden wir noch genauer eingehen – offener und unbestimmter in seinen Handlungen. Anders ausgedrückt: die menschliche Natur mit ihrem hochentwickelten Gehirn braucht mehr Information von außen als die tierische, um richtig, um adäquat handeln zu können.
Hier nun liegt die Achillesferse des Menschen. Die Außenwelt besitzt für ihn eine weit größere Bedeutung als für das Tier. Darum versucht er instinktiv, die ihn umgebende große Natur, in der er sich nur teilweise, nur physisch, verankert fühlt, auch als geistige Verbündete zu gewinnen. Wann genau der Mensch seinen Animalzustand durch wachsende geistige Leistungsfähigkeit verlassen hat, lässt sich möglicherweise nie ganz sicher datieren (siehe auch Kapitel „Kultur“), doch ist er bestimmt ganz Mensch mit dem Faktum seiner Freiheit, die so zur anthropologischen Grundbestimmung wird (R. Descartes (1596-1650), J.-J. Rousseau (1712-1778).
Menschliche Freiheit bedeutet zunächst nichts anderes als ein Losgelassen-Sein von der Natur. Sie beschert dem Menschen zwar neue, offene Möglichkeiten, aber auch ein In-die-Welt-Geworfen-Sein und eine Richtungslosigkeit, die eine Orientierung dringend nötig macht. Darum muss er die Richtschnur finden, die sein Handeln in der Weise lenkt, dass er dauerhaft bestehen kann. Denn sein Leben und Überleben sind für ihn der Inbegriff des Guten. Die Angst vor dem „Nicht-Sein“ (M. Heidegger (1889-1976)24 treibt ihn, sich freiwillig und unentwegt einem selbst gewählten Gesetz zu beugen. Es liegt folglich in seinem vitalen Interesse, das richtige Gesetz zu finden.
Das Gesetz, dem sich der Mensch freiwillig unterwirft, ist dann gut und richtig, wenn es ihm seine Existenz dauerhaft und unversehrt erhalten kann, also auch die ihm eigentümliche Freiheit bewahrt. Ohne seine Entscheidungsfreiheit – mag sie auch drückende Verantwortung bedeuten – ist er nämlich nicht mehr Mensch. Auch wenn er gezwungen ist, seiner Freiheit unentwegt Zügel anzulegen, muss dies freiwillig geschehen.25 Überhaupt ist gerade der Freieste am meisten durch die ihn bestimmende Ordnung gebunden, die er sich selbst gibt.26
Und das ist nun ganz entscheidend: die Suche nach diesem Gesetz einerseits und die Qualität dieses Gesetzes andererseits schaffen und prägen die vom Menschen gemachte kulturelle Welt, ja weit mehr. Mit diesem Gesetz steht und fällt die Existenz des Menschen.
Jahrtausendelang findet der Mensch dieses Gesetz in der Natur. Von seinen Anfängen an bleibt sie ihm maßgebliche Orientierungsgröße, unantastbar und göttlich. Freiheit bedeutet, der Natur gehorchen. Hier liegt die Wurzel des kynisch-stoischen „secundam naturam vivere“ („der Natur gemäß leben“). Denn der Begriff der Natur drückt etwas Letztes aus. Hinter sie kann nicht mehr zurückgegriffen werden. Sie trägt den Geheimnischarakter des Anfangs und Endes, des Urgrundes. Gerade damit stellt sie aber auch das Letzte dar, das befragt werden kann. Soweit sie Antwort gibt, ist diese Antwort endgültig, weil sie „natürlich“, das heißt unmittelbar einsichtig ist und weil sie als von der Natur kommend eine Antwort aus den Urgründen bedeutet (Romano Guardini).
Darum sieht die früheste griechische Philosophie, die der ionischen Natur-Philosophen (6. und 5. vorchristliches Jahrhundert), in der Natur ein umfassendes Ganzes, das Prinzip der natürlichen Dinge und Vorgänge: „sei es als Anfang und Ende, Ursprung und Ziel, sei es als alldurchwaltendes Wesensgesetz.“27
Auch für den griechischen Dichter Pindar (522 oder 518 - ca. 446 v. Chr.) verkörpert die Natur die ursprüngliche zentrale Macht. In seinen Werken steht sie für das „Angeborene…“, das „aus eigner Kraft Gewordene…“, „Unbeeinflusste… und Vortreffliche“; „damit wird sie zum Vorbild für den Menschen.“28 In der griechischen Antike ist die Natur das Maß aller Dinge und darum als göttlich.29
Früh wird so auch die enge Beziehung der Freiheit zur Religion deutlich. Die Freiheit gründet in Gott und ist darum Gegenstand kultischer Verehrung. Denn nicht nur die Natur und ihr Gesetz sind göttlich, sondern auch die Freiheit, die sich diesem Gesetz beugt. In der Antike finden wir viele Hinweise dafür. Zu Sokrates (470-399 v. Chr.) im Kerker sprechen die „Gesetze als Gottheiten.“30 Freiheit bedeutet hier ein „Folge Gott.“31 Auch für Seneca (4. v. Chr. - 65 n. Chr.) ist es ein „königliches Vorrecht“, im „Gott-Gehorchen unsere Freiheit zu sehen.“32
Das göttliche Gesetz, dem der Mensch folgt, bewahrt ihm seine Freiheit. Denn die „Belehrung der Gottheit ist immer negativ“ – „ein Warnen, Abraten“.33 Der Mensch wird nicht gezwungen, er kann das Notwendige freiwillig tun.34
Der eigenen beschränkten Natur in sich misstrauend versucht der Mensch diese zu zügeln. Der sokratische Freiheitbegriff verlangt, sich durch Selbstbeherrschung zu läutern, mit dem Ziel „vollendeter Autarkie“ (Unabhängigkeit).35 Die Kyniker entwickeln eine radikale Bedürfnislosigkeit. Antisthenes (um 440 v. Chr.) und mehr noch Diogenes von Sinope (bis 323 v. Chr.) sind die gesamte Antike hindurch Vorbilder für die Verwirklichung der „inneren Freiheit durch völlige Unabhängigkeit von äußerlichen (Gewalt) wie innerlichen (Leidenschaft) Zwängen.“36
Wichtig ist auch, dass Freiheit in der Antike immer an die politische Ordnung gebunden ist, die sie erst gewährleistet. Als frei gilt nur, wer im eigenen Volk mit Ebenbürtigen lebt im Gegensatz zum „Kriegsgefangenen, der unter dem Feind als seinem Herrn in der Fremde Knecht sein muss.“37
Um es zusammenzufassen: die fundamentale Freiheit, die den Menschen als „Freigelassenen der Schöpfung“ erst schafft – nennen wir sie anthropologische Freiheit – ist mit dem Menschsein immer gegeben, auch dann, wenn der Mensch selbst in Ketten liegt. Sie bedarf eines selbstgewählten Gesetzes, dem sich der Mensch freiwillig (individuelle Freiheit) unterwirft. In diesem Sinne handelt jeder Mensch frei, für dessen Handlungen die Ursachen allein in ihm selbst liegen. Die individuelle Freiheit darf durch das den Menschen bestimmende Gesetz nicht angetastet werden.
Bis in die späte Neuzeit hinein liefert die Natur dieses menschliche Gesetz und bleibt damit regieführende Instanz. Das gilt auch für das Christentum, obwohl der Mensch hier schon einen zwiespältigen Platz einnimmt. Denn zum einen ist er von der Natur abhängig, darf aber auch über sie herrschen; zum anderen ist er gottähnlich, muss aber gleichzeitig Gott gehorchen. Eine Verschiebung im Verhältnis Mensch – Natur wird hier schon deutlich. „Dennoch bleibt die von Gott geschaffene Natur im Christentum ihrem Wesen nach immer gut und förderlich.“38
Die sich weiter entwickelnde Rationalität aber entfernt den Menschen immer mehr von seinen Wurzeln. Seine wachsende Reflexionsfähigkeit lässt ihn der Natur bewusster gegenübertreten. Die angstvolle Demut, mit der sich der archaische Mensch der gewaltigen Mutter Natur unterwirft, weicht nun einer distanzierteren und hochmütigeren Haltung ihr gegenüber. Aus der geplagten Kreatur der Urzeit, die in ihrer kindlich-mythologischen Weltdeutung natürliche Phänomene und Gewalten personifiziert und sie opfernd zu beschwichtigen sucht, wird ein siegessicherer Verstandesmensch, der die Natur nüchtern analysiert und sich untertan macht. Doch auch wenn der mächtiger werdende Mensch seine Abhängigkeit von der Natur nicht mehr als so unmittelbar empfindet wie in seinen Anfängen, bleibt sie ihm in Gestalt einer höheren geistigen Macht bis in die späte Neuzeit bewusst.
Erst ab dem 19. Jahrhundert glaubt der Mensch auf die regieführende Kraft der Natur verzichten zu können. Das neuzeitliche Weltbild, das sich bis zum 18. Jahrhundert im Rahmen eines mächtigen kulturhistorischen Umwälzungsprozesses herausbildet, unterscheidet sich fundamental von der christlich-mittelalterlichen Naturauffassung. Begreift die Scholastik die Natur noch als wunderbare und geheimnisvolle Schöpfung Gottes, die dem Menschen nur bedingt zur Verfügung steht, wird sie nun zum Gegenstand eines „grenzenlosen menschlichen Herrschaftswillens.“39 Die Natur verkommt zur bloßen „Umwelt,“ die dem Menschen in jeder Beziehung dienlich zu sein hat. Ihr Gesetz, allerdings, braucht er jetzt nicht mehr. Wir werden sehen, dass er dabei in höchste Bedrängnis gerät. Ohne jede transhumane Instanz handelt er nun nach seinem eigenen Gesetz.
Denn der menschliche Begriff der Wahrheit, der aus seiner Freiheit erwächst, verlangt nach einer Ausrichtung an raumzeitlich immer umfassenderen Prinzipien, um richtig zu handeln. Und die findet der Mensch nur in der Natur, der er darum Objektivität zuschreibt. Nur mit ihr kann er bestehen, nicht gegen sie. Bei diesem komplexen Prozess geht es nicht um ein oberflächliches Nachahmen der Natur, sondern darum, menschliches Handeln in Einklang zu bringen mit der natürlichen Ordnung.
So wenden wir uns nun der Natur zu, die auch die Frage nach dem Leben enthält. Was kann sie uns lehren über den Menschen und sein Gesetz? Mit Hilfe naturwissenschaftlicher Forschung wollen wir versuchen, wesentliche Kriterien des Natürlichen zu verstehen.
Dabei beschränken wir uns darauf, die für unser Thema wichtigsten Fakten mehr oder weniger stichwortartig vorzustellen, weil naturwissenschaftliche Theorien heute allen gut zugänglich zur Verfügung stehen (über die Entwicklung der Naturwissenschaften, siehe Anhang).
22 Weizsäcker, C. F. v. 1994, 176
23 Aristoteles, Eth. Nic. 1111 a 29ff
24 Schischkoff, G. 1991,219
25 Ritter, J. 1972 Bd.2, 1069, 1070
26 Aristoteles, Met. 1075 a 16ff
27 Ritter, J.; Gründer, K. 1984 Bd. 6, 421
28 Ritter, J.; Gründer, K. 1984 Bd. 6, 424
29 Ritter, J.; Gründer, K. 1984 Bd. 6, 429
30 Platon, Kriton 50 a ff
31 Ritter, J. 1972 Bd.2, 1067
32 Seneca, De vita beata 15, 7
33 Platon, Phaidros 242, b/c
34 Ritter, J. 1972 Bd.2, 1067
35 Xenophon, Mem. IV, 8, 11
36 Epiktet, Diss. III, 24, 64ff
37 vgl. Heraklit, DK 1, 162: B 53
38 Ritter, J.; Gründer, K. 1984 Bd.6, 442
39 Schiemann, G. 1996, 26
Was ist Leben?
Es ist nun ganz entscheidend, dass wir verstehen, was Leben ist, was es erhält und was es gefährdet. Die Physik und die Biologie liefern uns die Theorien dazu, den „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik“ und die „Theorie der Offenen dissipativen Systeme“. Sie zeigen, wie dieses einzigartige Phänomen überhaupt möglich geworden ist auf unserem Planeten und wie unwahrscheinlich seine Existenz eigentlich ist. Besonders menschliches Leben gleicht einem „Turmbau zu Babel“, der schneller stürzen kann als wir ahnen. Erst wenn wir dieses Phänomen begriffen haben, werden wir auch Gefahren erkennen, wo wir sie bisher nicht vermutet haben.
Das Wichtigste sofort: Alles Leben tritt nur örtlich begrenzt auf, nur als Insel, und es verkörpert höchste Ordnung. Leben ist also eine Insel von Ordnung in einem Meer von Unordnung. Das gilt für Pflanze, Tier, Mensch, für jede andere Art. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Ordnung, sondern um eine ganz besondere Ordnung, die ein System erst zu einem lebendigen macht. Diese Ordnung in ihrem Insel-Dasein stellt auch nichts Festes dar, sondern lässt sich mit einer stehenden Welle vergleichen, ständig im Wandel und immer in Gefahr zu vergehen. Darum muss diese Ordnung ununterbrochen um ihren Erhalt kämpfen, denn ohne ihre hochgeschraubte, filigrane Strukturiertheit stirbt sie. Leben ist also die Strategie eines hochkomplexen Systems, seine Identität auf Dauer zu bewahren, also zu überleben: als Individuum, als Population, als Spezies, in einer Vielzahl von Formen, unter allen Umständen und in einer ständig sich wandelnden Umwelt.
Auch die Nahrung dieses Systems ist nicht beliebig. Es kann nur am Leben bleiben, wenn ein nie versiegender Strom ganz besonderer Energie, Information oder komplexer Ordnung es ständig durchfließt. Erwin Schrödinger drückt das ganz lapidar aus: „Leben frisst Ordnung“. Im Kapitel „Information und Komplexität“ werden wir zeigen, dass „Energie“ und „Ordnung“ mit „Information“ gleichzusetzen sind. Darum formuliert Konrad Lorenz es anders: „Leben frisst Information“. Wird diese Zufuhr unterbunden, stirbt das System.
Es soll auch deutlich werden, dass Leben ein durch und durch natürliches Phänomen darstellt. Weil wir vor allem anderen die Natur befragen und nicht die Philosophen, müssen wir die Welt nicht spalten. Die Vorstellung von der materiellen Einheit der Welt charakterisiert die Evolution als ein Kontinuum, das einen Dualismus von Geist und Materie nicht zulässt.
Einheit der Natur
Folgendes ist nun wichtig: alles, was wir wahrnehmen, ganz gleich, was es nun sein mag, ist aus den immer gleichen Bausteinen „gemacht“ und unterscheidet sich nur durch die Art, wie diese Bausteine zusammengesetzt sind, also durch den strukturellen Aufbau – mit anderen Worten: Das „Was“ steckt im „Wie“. Damit kommt der Struktur, der Ordnung die entscheidende Bedeutung zu. Nun etwas genauer:
Die Quantenmechanik bestätigt die Vorstellung von einer materiell einheitlichen Welt, die als ein einziger Zustand begriffen werden muss und nicht als Summe von Teilzuständen:40 Alles hängt mit allem zusammen. Ihre Entstehung verdankt die Welt – dieser Gedanke findet sich schon bei Aristoteles (384-322 v. Chr.) – einer immer differenzierteren Formung der Materie.41 Alle ihre Schichten sind Organisationsformen der Materie. Sie haben sich im Laufe der Evolution des Universums eine aus der anderen entwickelt bis hin zu Gehirnleistung und Bewusstsein.42 Dabei kann man von einer konventionellen Schichteneinteilung der Natur ausgehen: Atome, Moleküle, Zellen, Organismen, Sozialsysteme.43
Materie muss als Satz von Prozessen auf dem Boden für uns zufälliger Elementarereignisse aufgefasst werden. Sie bedeutet Energie, mehr Kraft als Stoff. Struktur soll darum nicht nur räumlich verstanden werden, sondern vielmehr als Dynamik von Prozessen.44 So erscheint das Elektron als ein sich wellenartig verdichtendes Erwartungsfeld, ein Intensitätsfeld ohne feste Umrandung. Wenn Materie zerlegt wird, bleibt Potentialität übrig. In ihrer letzten Konsequenz zeigt sie sich als Form im Sinne von Beziehungsstrukturen.45 Substanz entpuppt sich als vielfältig überlagerte, gespeicherte Form.46 So liegt die Fähigkeit, Strukturen zu bilden, in der Materie begründet.47
Um es nochmal zu betonen: Alle phänomenalen Unterschiede, die wir wahrnehmen, leiten sich aus ihrer raum-zeitlichen Struktur ab, d.h. auch belebte und unbelebte Materie unterscheiden sich „nur“ durch ihre Struktur.48 Leben ist also Ausdruck einer hochkomplexen Struktur bzw. Ordnung. Damit liegt in der Form, Struktur, in der Ordnung des Bestehenden der Schlüssel zum Verständnis dieser Welt und das auf allen evolutionären Stufen, angefangen von der mikrokosmischen Welt bis hin zur geistigkulturellen Ebene. Das kann nicht oft genug betont werden.
Die Entwicklung des Universums vom sogenannten Urknall an entspricht einem Prozess fortwährender Ausdifferenzierung und Strukturierung: Das anfängliche energetische Möglichkeitsfeld gerinnt zum Faktischen, zu immer neuen Objekten höherer Ordnung und geringer raum-zeitlicher Symmetrie.49 Die zeitliche Abfolge dieser Realisierung von Möglichkeiten bezeichnen wir als Evolution.50 Dieser evolutionäre Prozess verbindet alle Entwicklungsstufen miteinander, vom Ursprung des Kosmos an über die Entstehung von Galaxien und Planetensystemen bis hin zur Bildung der Erde, der Biosphäre, des Menschen und seiner überindividuellen kulturellen Gemeinschaften.51 Vom Urknall („Quantenchaos“) an entwickelt sich ursprüngliche Potentialität hin zu immer höherer Differenzierung.
Als evolutionärer Motor erweist sich darum die Differenz. Aus dem anfänglich homogeneren Möglichkeitsfeld entstehen auf Grund von Dichteunterschieden schließlich Strukturen.52 Unterscheidungen, Grenzen liegen jeder Differenz und jeder Differenzierung zugrunde. Es entwickelt sich ein immer komplexeres und weiter verzweigtes „objekthaftes Skelett“, „das der Wirklichkeit im Verlauf ihrer Evolution“ eine „festere“ und „differenziertere“ Gestalt „verleiht“.53
Ganz entscheidend dabei ist die System-, ist die Gestaltbildung. Das kann ebenfalls nicht oft genug betont werden. Als kardinale Konstante bestimmt sie diese Entwicklung.54 Gestaltwachstum in all seinen Facetten prägt so nicht nur das organische Leben, obwohl es sich hier am großartigsten zeigt.55 Immer gilt, dass Gestalt als Formspeicher verstanden werden muss. Auf ursprünglicher natürlicher Gestalt wächst kulturelle Gestalt, von der Zelle über den Organismus, die Sippe bis hin zum Volk und zu viele Völker einenden Systemen. Wir werden im Folgenden Gestalt, System und Einheit, später auch Gemeinschaft synonym gebrauchen.
Leben, auf unserem Planeten seit ungefähr vier Milliarden Jahren, tritt immer systemisch in Erscheinung und verkörpert höchste Ordnung, die unerbittlich darum kämpft, die eigene Identität zu erhalten, sei es nun als Zelle, Individuum oder Population und das in einer ständig sich wandelnden Welt. Elemente und Beziehungen des Systems hängen nicht nur von dessen augenblicklichem Zustand ab, „sondern weit mehr von seiner Entwicklungskette bis zum Ursprung des Lebens, ja des Weltalls“.56
Da lebende Systeme nichts Festes darstellen, sondern als Prozess gesehen werden müssen, sind sie wie stehende Wellen. So setzt sich, zum Beispiel ein Organismus nicht von Beginn an bis zum Ende aus den gleichen Bestandteilen zusammen. Seine in der Zeit wachsende Form speichert eine ungeheure Fülle nicht mehr rekonstruierbarer Ereignisse. Denn keine Funktion hat das Leben so ausgebaut wie seine Lernfähigkeit. Konrad Lorenz (1903-1989) nennt das Leben und damit die Evolution darum auch „erkenntnisförmig“ – „gnoseomorph“. Erkenntnis oder Wissen bedeuten letztlich eine Anhäufung von Information und damit von Form, denn Information kann auch als eine Maßzahl für die Menge von Form, von Gestalt verstanden werden.57 Je mehr Form in einem System steckt, desto komplexer ist seine Ordnung und desto größer sein Informationsgehalt. Doch darauf werden wir noch genauer eingehen.
Dieses Wissen nun findet seinen Niederschlag im Genom, dem haploiden Chromosomensatz, und den in ihm lokalisierten Genen. Wie alle Lebewesen verfügt der Mensch über dieses Vorwissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ohne Weitergabe von Wissen, ohne Tradierung ist Leben nämlich nicht möglich. In chemischer Sprache, durch die Folge von vier Grundbausteinen verschlüsseln diese Moleküle die Information für den Aufbau und zum wesentlichen Teil auch für das Verhalten des Organismus; doch nicht bis ins letzte Detail. Nur das Thema wird vorgegeben, die genaue Ausgestaltung entwickelt der wachsende Organismus im Zusammenspiel mit seiner Umwelt.58 Der syntaktische Aspekt der genetischen Information beschreibt nur die Folge der einzelnen Bausteine eines Erbmoleküls; die Semantik jedoch, äußert sich gerade in ihrer besonderen Anordnung, so dass die Form die Funktion bestimmt.
Wie jeder Organismus wird auch der Mensch repräsentiert durch sein Genom. In ihm sind alle Erfahrungen gespeichert, die der Mensch und seine Vorfahren im Disput mit der Umwelt erworben haben. Es ist das System, das uns mit allem, was lebt, greifbar verbindet. Das Eins-Sein der Lebewesen hat einen dinglichen Grund. Das Genom enthält Informationen über Weltzusammenhänge und stützt – mit anderen Worten – eine erkenntnistheoretisch realistische Position: Die Welt reicht durch uns hindurch und wenn wir die Welt beurteilen, dann beurteilen wir unseresgleichen (s. Anhang: Erkenntnistheorie).
Dadurch, dass die Organismen mit den Dingen der Außenwelt in Berührung gebracht werden und sich an ihnen reiben, lassen sie sich von ihnen beeindrucken und nehmen sie so zur Kenntnis. Bei diesem Vorgang der Anpassung empfängt der Organismus Informationen über seine Umwelt, im wahrsten Sinne des Wortes. Dies geschieht auch, wenn Signale unser Gehirn erreichen, doch darauf kommen wir noch zurück.
Von allen tastenden Versuchen, der Welt zu genügen, müssen solche erhalten werden, die Erfolg haben. Da aber das Leben auf jeder Stufe der Evolution nur so viel Information über seine Umwelt in sich aufgenommen hat, wie es zum Überleben braucht, ist es nicht imstande, die ganze Wirklichkeit zu erfassen. Unser Weltbild enthält keine Information über Zusammenhänge, die für uns nicht überlebensnotwendig gewesen sind. Diese bleiben uns entweder verborgen oder unanschaulich, wie zum Beispiel der Welle-Korpuskel-Dualismus. Alle unsere Vorfahren sind in einem Mesokosmos, an einer Welt mittlerer Größe, ausgebildet worden.59 Die uns angeborenen Formen der Anschauung haben sich stets an jenen mittleren Dimensionen bewähren müssen, die eben näherungsweise wie eine lineare Zeit und ein davon unabhängiger dreidimensionaler euklidischer Raum erscheinen. Das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum, dessen wirkliches Vorhandensein wir auf Grund von Berechnungen annehmen müssen, ist in seiner kosmischen Dimension kein Lebensproblem irgendeines unseres Vorfahren gewesen. Das für uns unerreichbare „Ding an sich“ steht darum nicht hinter unserer Wirklichkeit, sondern wäre eher eine allwissende Rundumsicht der Wirklichkeit, die unsere Beschränktheit nicht zulässt. Doch der uns zugängliche Teil, mag er auch klein, oberflächlich, einseitig und oft falsch sein, ist wirklich (s. Anhang: Erkenntnistheorie).
Dem genetischen Wissen der Lebewesen gesellt sich schließlich das synaptische Gedächtnis eines zentralisierten Nervensystems (Gehirn) hinzu. Der Mensch kann so Augenblicksinformationen verarbeiten und speichern, aus den heute gemachten Erfahrungen lernen und sie bei der Problemlösung von morgen nutzen.60 Durch das Zusammenspiel von Genom und Gehirn gelingt es dem Organismus, immer mehr Information zu sammeln und sich weiter zu formen, zu differenzieren. „In zunehmend rascherer Folge schafft Komplexität“ „neue, höhere Komplexität“.61 Schließlich entwickelt sich durch immer weitere Reflexion eines Individuums sein Bewusstsein.
Es wird deutlich, dass Evolution Schritt für Schritt, Stufe um Stufe radikal Neues schafft, das auf die Eigenschaften der darunterliegenden Schichten nicht rückführbar ist, obwohl es sich aus bekannten Elementen und im Rahmen der bestehenden Naturgesetze entwickelt hat. Wir sprechen von Emergenz. Für Chemiker stellt dieses Phänomen nichts Ungewöhnliches dar. Verschmelzen beispielsweise drei Heliumatome stufenweise miteinander, wie das in Sternen passiert, so entsteht dabei nicht etwa ein Superhelium im Sinne eines additiven Effektes. Es entsteht vielmehr etwas völlig anderes: Das Kohlenstoffatom. Obwohl es keine anderen Bauelemente enthält als die Heliumatome, aus denen es hervorgegangen ist, bringt die spezifische Kombination dieser Bauelemente etwas hervor, das nichts, aber auch gar nichts mehr mit dem Edelgas Helium zu tun hat: Eine neue Form höherer Komplexität mit ganz neuen Eigenschaften.62
Als wichtige emergente Ereignisse in der Geschichte des Universums können sicher die Entstehung der Elemente, des Lebens, des Gehirns, des Bewusstseins und der Sprache gesehen werden.63 Alle mentalen Zustände und Prozesse sind emergent in Bezug auf die Zustände und Prozesse der zellulären Komponenten des Zentralnervensystems.64
Wir haben einige wichtige Grundlagen natürlicher Prozesse beschrieben. Doch interessiert uns vor allem die Biosphäre, die Ordnung des Lebens als die komplexeste Spielart der Natur. Will man sie verstehen, ist das nicht möglich ohne den „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.“
40 Dürr, H.-P. 1989, 38
41 Aster, E. v. Bd. 108 1954, 97
42 Vollmer, G. 1994, 86; vgl. Schriefers, H. 1982
43 Weizsäcker, E. v. 1974, 10
44 Schriefers, H. 1982, 129
45 vgl. Dürr, H.-P. 1989 28-46; Vortrag 1996
46 Weizsäcker, C. F. v. 1992, 343
47 Dürr, H.-P. 1989, 28-46; Vortrag 1996
48 Dürr, H.-P. 1989, 28-46; Vortrag 1996
49 Dürr, H.-P. 1989, 39, 41; Vortrag 1996
50 Dürr, H.-P. 1989,39
51 Schriefers, H. 1982, 132
52 Dürr, H.-P. 1989, 28-46; Krieger, D. J. 1998, 11; vgl. Fritzsch, H. 1994
53 Dürr, H.-P. 1989, 40
54 Weizsäcker, C. F. v. 1994, 34
55 Weizsäcker, C. F. v. 1994, 34
56 vgl. Schriefers, H. 1982
57 Weizsäcker, C. F. v. 1989, 24
58 Haken, H. 1995, 10
59 Vollmer, G. 1994, 161, 162
60 Schriefers, H. 1982, 134, 135
61 Schriefers, H. 1982, 135
62 Schriefers, H. 1982, 49
63 Popper, R. K.; Eccles, J. C. 1977, 383-385
64 Schriefers, H. 1982, 139