Thomas Köhler

Der Charme des Todes

Rätselhafte Todesfälle und kuriose posthume Schicksale berühmter Persönlichkeiten

herausgegeben von Wulf Bertram

Wulf Bertram, Dipl.-Psych. Dr. med, geb. in Soest/Westfalen, Studium der Psychologie, Medizin und Soziologie in Hamburg. Zunächst Klinischer Psychologe im Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf, nach Staatsexamen und Promotion in Medizin Assistenzarzt in einem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Provinz Arezzo/Toskana, danach psychiatrische Ausbildung in Kaufbeuren/Allgäu. 1986 wechselte er als Lektor für medizinische Lehrbücher ins Verlagswesen und wurde 1988 wissenschaftlicher Leiter des Schattauer Verlags, 1992 dessen verlegerischer Geschäftsführer. Aus seiner Überzeugung heraus, dass Lernen Spaß machen muss und solides Wissen auch unterhaltsam vermittelt werden kann, konzipierte er 2009 die Taschenbuchreihe »Wissen & Leben«, in der mittlerweile mehr als 50 Bände erschienen sind. Bertram hat eine Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie sowie in Psychodynamischer Psychotherapie und arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis.

Für seine »wissenschaftlich fundierte Verlagstätigkeit«, mit der er im Sinne des Stiftungsgedankens einen Beitrag zu einer humaneren Medizin geleistet hat, in der der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Mittelpunkt steht, wurde Bertram 2018 der renommierte Schweizer Wissenschaftspreis der Margrit-Egnér-Stiftung verliehen.

Impressum

Prof. Dr. med. Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas Köhler

Oberstraße 98

20149 Hamburg

thomas.koehler@uni-hamburg.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besonderer Hinweis

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Schattauer

www.schattauer.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © istock/EzumeImages

Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Marion Drachsel, Berlin

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani, Stuttgart

ISBN 978-3-608- 40054-0

E-Book: ISBN 978-3-608-12099-8

PDF-E-Book: 978-3-608-20513-8

Venit mors velociter, rapit nos atrociter, nemini parcetur

(Der Tod kommt schnell und rafft uns grausam dahin; kein Einziger bleibt verschont)

Aus dem Studentenlied »Gaudeamus igitur«

Vorwort

Die Monate der Abfassung dieses Büchleins und – mit ziemlicher Sicherheit – auch die seines Erscheinens sind beileibe nicht die günstigsten: Der Tod und die Maßnahmen zu seiner Verhinderung sind durch die Corona-Krise so sehr in den Lebensalltag gerückt, dass es gegenwärtig keineswegs eine nahe liegende Freizeitlektüre sein dürfte, sich mit den faszinierenden (zuweilen grotesken) Aspekten des Todes zu befassen. Vielleicht – so hoffe ich – ist es für einige aber jetzt gerade die geeignete Zeit, dem Thema Tod ins Auge zu sehen, und zwar nicht mit tiefschürfenden Gedanken, die schließlich doch zu nichts führen. Die hier präsentierte Mischung aus Geschichte und Biologie, die in der Regel längst verstorbene Personen betrifft, ist möglicherweise genau das Richtige: aus angemessener Distanz sich mit etwas zu befassen, was wir uns schwer als eigene Realität vorstellen können, es gleichwohl sein wird. Jenes »Media vita in morte sumus« (mitten im Leben sind wir im Tod) wurde den in der westlichen Zivilisation nach dem Zweiten Weltkrieg lebenden Menschen nie so klar wie jetzt vor Augen geführt. Aber wie auch immer: Dank der unleugbaren Fortschritte der Medizin werden die Covid-19-Jahre irgendeinmal Geschichte sein und das Buch wird hoffentlich spätestens dann jenes Interesse finden, das sich der Autor bei der Planung und in den ersten Monaten der Abfassung erhofft hat.

Dass in einer Reihe mit dem Titel »Wissen & Leben« ausgerechnet ein Buch über den Tod erscheint, mag widersinnig erscheinen, ist es aber ganz gewiss nicht. Das Sterben ist ein vollwertiger Akt im Leben, wenn auch der letzte; erst mit seinem Abschluss hat das Leben seine endgültige Gestalt angenommen. Es verhält sich so wie in der Grammatik mit dem Punkt: Er schließt zwar den Satz ab, beendet seine Aussage, ohne ihn bliebe der Satz aber unvollständig.

So befremdend es klingen mag: Mir hat die Abfassung Spaß gemacht. Es ist lehrreich, zu sehen, wie zufällig und schicksalhaft zugleich der Tod ist: Wäre der Chauffeur des Erzherzogs Ferdinand in Sarajewo nicht aus Versehen in die falsche Straße abgebogen, so hätte der Attentäter Gavrilo Prinzip nie sein Ziel so perfekt präsentiert bekommen und der Erste Weltkrieg wäre nicht oder vielleicht erheblich später ausgebrochen – viele junge Männer, die elend auf den Schlachtfeldern umkamen, hätten noch Jahrzehnte gelebt, ihre große Liebe gefunden und ein zufriedenes bürgerliches Leben führen können. Wäre Caesar nicht an den Iden des März in den Senat gegangen – trotz zahlreicher Warnungen und böser Vorahnungen –, sondern hätte sein Fernbleiben durch Unwohlsein entschuldigt, hätten ihn Brutus und Cassius und andere Senatoren dort nicht erdolchen können; der Verlauf der Weltgeschichte wäre sicher ein gänzlich anderer gewesen.

Dem Schattauer-Verlag, mit dem ich seit Jahrzehnten harmonisch zusammenarbeiten darf, speziell Wulf Bertram und in besonderem Maße Frau Nadja Urbani, danke ich herzlich für diese Gelegenheit, meine Gedanken in Druckform einer hoffentlich interessierten und zahlreichen Leserschaft präsentieren zu können. Mein alter Freund und Kollege Reinhold Schwab gab mir wertvolle Anregungen und ebenfalls einer meiner wenigen Freunde, Michael Wuchner, hat mir mit seinen bemerkenswerten historischen Kenntnissen dank seiner Korrektur manche Peinlichkeit erspart. Frau Marion Drachsel danke ich sehr für die gründliche Lektorierung und Herrn Fabian Beermann für die effektive Beschaffung von Literatur. Wie immer hat meine liebe Frau Carmen die Abfassung ertragen, manchmal etwas grummelig über die Unordnung im gemeinsamen Wohnzimmer und ungeduldig, weil ich andere Aufgaben immer wieder aufzuschieben verstand; wahrscheinlich aber war sie unter dem Strich ganz froh, so wenigstens für einige Stunden täglich in Ruhe gelassen zu werden.

Hamburg, im November 2020 (anno coronae primo)

Thomas Köhler

1 Zur Physiologie des Todes und der postmortalen Zersetzungsvorgänge

1.1 Der Akt des Sterbens

Als Tod (Exitus letalis) wird das irreversible Aussetzen aller lebenserhaltender Funktionen bezeichnet. Der Übergang vom Leben zum Tod wird Sterben genannt, wofür es einerseits weniger drastische Ausdrücke gibt (z. B. entschlafen, verscheiden), andererseits auch zahlreiche ausgesprochen salopp-schnoddrige Bezeichnungen (etwa: ins Gras beißen, abkratzen, den Löffel abgeben).

Festzulegen, wann die lebenserhaltenden Funktionen wirklich unumkehrbar verloren sind, ist nicht immer einfach. So gibt es bekanntlich nach einem Herzstillstand nicht selten erfolgreiche Wiederbelebungsversuche und der »Scheintod« war früher offensichtlich keineswegs selten.

Scheintod

Als Scheintod(1) (Vita reducta) bezeichnet man einen Zustand extrem tiefer Bewusstlosigkeit, in dem sich ohne eine sehr genaue Untersuchung Lebenszeichen nicht nachweisen lassen, andererseits aber die sicheren Zeichen des Todes (Totenflecken(1), Totenstarre) fehlen. Heutzutage dürfte er in unserem Teil der Welt angesichts der zwingend erforderlichen Leichenschau zur Erlangung des Totenscheins eine extreme Rarität darstellen; er war aber früher angesichts der Feststellung des Todes mittels eines nicht tastbaren Pulses oder einer unter die Nase gehaltenen, sich nicht bewegenden Feder (bzw. eines sich nicht beschlagenden Spiegels) offenbar etwas nicht ganz Ungewöhnliches, u. a. deshalb, weil die Ärzte sich für viele Jahrhunderte vorzugsweise um die noch lebenden Kranken kümmerten und die Feststellung des Todes einer Person deren Angehörigen oder Bekannten überlassen wurde; auch gebildete Personen hatten oft eine panische Angst vor einem solchen Schicksal. (2)Scheintote dürften deutlich häufiger ins Grab gelegt worden sein, wenn Krankheitsepidemien herrschten und man die scheinbare Leiche rasch aus dem Haus bzw. weg von der Straße haben und unter die Erde bringen wollte.

Auf Betreiben des renommierten Mediziners Hufeland wurden im 18. Jahrhundert mehr und mehr Leichenhallen auf den Friedhöfen angelegt, in denen die Verstorbenen für einige Zeit vor der Beerdigung aufgebahrt sein mussten. Diese Leichenhallen haben sich bekanntlich bis heute gehalten, dienen aber mittlerweile dazu, der Öffentlichkeit Gelegenheit zu geben, einen Blick auf den Toten bzw. seinen meist bereits geschlossenen Sarg zu werfen.

Der Scheintod ist ein durchaus beliebtes Motiv in der Literatur, keineswegs nur in Form billiger Gruselgeschichten. Werner Bergengruen hat in seinem Novellenband »Der Tod von Reval« in der köstlichen Erzählung »Die wunderliche Herberge« das Thema humoristisch behandelt: Ein Arzt, der sich, je mehr er seinem eigenen Ende entgegensah, zunehmend mit dem Scheintod beschäftigte, sich auch diesbezüglich mit diversen Eingaben an die Behörde wandte, verfügte schließlich in seinem Testament den Bau einer »Herberge für Scheintote« nahe des außerhalb der Stadt liegenden Friedhofs. Sie hatte drei Zimmer, in die sich die gerade noch dem Unglück Entronnenen flüchten konnten, jedes mit Möbeln voller Kleidung ausgestattet, in der kalten Jahreszeit ständig beheizt, auch mit Schreibzeug versehen, damit die Geretteten ihren Angehörigen und den Behörden Mitteilung von ihrem nicht erfolgten Ableben machen konnten. Zur Hüterin der Herberge hatte der Stifter – unter Zahlung einer nicht unbeträchtlichen Rente – seine einstige Haushälterin bestimmt. Diese war natürlich einerseits sehr froh über die lebenslange Absicherung, begann sich andererseits allmählich zu langweilen, nachdem im Laufe vieler Jahre kein einziger Scheintoter Zuflucht gesucht hatte. Es war deshalb durchaus eine willkommene Abwechslung, als ihre Nichte sie bat, ihr lediglich für eine Nacht eines der Zimmer für ein Treffen mit ihrem Geliebten zur Verfügung zu stellen. Die Nichte kam wieder, auch mit anderen Liebhabern, und bald hatte sich die Gelegenheit unter anderen Pärchen herumgesprochen. Die Herbergsmutter verdiente sich so zusätzlich noch ein wenig Geld durch Kuppelei und hatte angenehme Unterhaltung. Eine Störung dieser bequemen Situation trat allerdings dergestalt auf, dass tief in der Nacht – alle Zimmer waren mit Lebenden bzw. Liebenden besetzt – stürmisch die Glocke geläutet wurde und ein Mann, nur mit einem Hemd bekleidet, energisch Einlass begehrte; es war also ganz offensichtlich ein Scheintoter, für den eine der Kammern geräumt wurde und welcher der Dame des Hauses sowie ihren Gästen drastisch sein gerade noch geglücktes Entkommen aus dem Sarge schilderte. Am nächsten Morgen war er allerdings verschwunden, hatte sich mit den bereitgelegten Kleidern versehen, dafür aber sein Hemd zurückgelassen. Im Laufe des Tages erschien ein Polizist, der von einem ausgebrochenen Sträfling erzählte und bei der Inspektion das in der Strafanstalt gebräuchliche Hemd fand. Um sich von dem Vorwurf der Fluchtbegünstigung zu befreien, nannte die Hausverwalterin alle dabei in der vergangenen Nacht anwesenden Zeuginnen und Zeugen, womit die Kuppelei aufkam. Um das Andenken des seligen Stifters nicht zu beschmutzen, kehrte man allerdings das Ganze unter den Teppich und es traf sich gut, dass im Rahmen des Baus einer Bahntrasse das Haus ohnehin abgerissen werden musste und die Stadt für das Grundstück eine nicht unerhebliche Summe bot. Mit einer guten Rente ausgestattet und mit einem Teil der Entschädigung versehen, verbrachte die alte Dame den Rest ihres Lebens in einem komfortablen Witwenstift.

Unfreiwillig humoristisch behandelte die »schlesische Nachtigall« Frederike Kemper den Sachverhalt in ihrem viel zitierten Reim: »Wisst ihr nicht, wie weh es tut, wenn man wach im Grabe ruht?« Ihre nur bedingt entwickelte poetische Ader sollte aber nicht vergessen machen, dass diese wohlhabende Dame sich eifrig sozialen Projekten widmete, u. a. eben den durchaus legitimen Anliegen von (3)Scheintoten.

Tritt der Tod nicht »schlagartig« auf, z. B. durch Herzstillstand nach einem Infarkt oder durch schwere Herzrhythmusstörungen (oder durch einen Unfall bzw. Gewaltakt), ist davon auszugehen, dass die Organe sukzessive in ihrer Funktion nachlassen. Zuerst stellen Leber und Niere ihre Tätigkeit weitgehend ein, womit sich diverse, darunter hirnschädigende Substanzen in hohen Konzentrationen bilden; diesen ist es zu verdanken, dass die Sterbenden die (1)Agonie, den »Todeskampf«, meist nicht bei vollem Bewusstsein erleben. Später lässt die Lunge in ihrer Funktion nach mit der Folge des röchelnden Atems. Schließlich schlägt das Herz zunehmend schwächer und unregelmäßiger, weshalb zuweilen im Stadium der (2)Agonie bereits Totenflecken(2) auftreten; schließlich hört es völlig auf zu schlagen (Herztod(1)). Damit erhält das Gehirn auch den nötigen Sauerstoff nicht mehr und stellt seine neuronale Aktivität ein (Hirntod(1), gekennzeichnet u. a. durch »Null-Linien« im EEG). Dies geschieht aber offenbar nicht sofort, sondern ist möglicherweise sogar mit einer kurzfristigen Steigerung synaptischer Übertragungen verbunden, die zu interessanten psychischen Reaktionen führt. So soll Papst Johannes Paul II.(1) direkt vor Eintritt des Todes einen seligen Ausdruck in seinem von der Parkinson-Krankheit sonst erstarrten Gesicht gezeigt haben. Auch die immer wieder beschriebenen »Nahtod-Erfahrungen(1)« von Personen, die ins Leben zurückgeholt wurden, sind vielleicht auf diese eigenartigen neuronalen Aktivitäten zurückzuführen.

Zudem verändert sich der Gesichtsausdruck der sterbenden Person. Diese »Facies hippocratica(1)« ist vornehmlich gekennzeichnet durch eine spitze Nase und eine eigenartige Blässe im Bereich von Nase und Mund sowie eingesunkene Augen und Wangen.

Ist der Tod eingetreten, zeigen sich typische Veränderungen, die im Rahmen der Leichenschau gewissenhaft zu beachten sind. Von diesen sicheren Todeszeichen sind zunächst die Totenflecken(3) zu nennen, die sich zuweilen schon während der (3)Agonie als Folge der verminderten Herzleistung ausbilden können, aber spätestens 30–60 Minuten nach dem Exitus auftreten. Es sind rötlich blaue Hautveränderungen, durch Absinken des Blutes hervorgerufen und an jenen (tief gelegenen) Stellen zu finden, wo der Sterbende nicht auflag (also nicht an den Pobacken, den Schultern, den Waden und Fersen, hingegen deutlich an Oberschenkeln und am unteren Rücken). In den ersten Stunden lassen sie sich noch wegdrücken; später, nachdem der durch Zerfall der roten Blutkörperchen freiwerdende Blutfarbstoff ins Gewebe eingedrungen ist, ist dies nicht mehr möglich und die (4)Totenflecken fließen zusammen. Das zweite sichere Zeichen ist die (1)Totenstarre(1) (Rigor mortis), die nach zwei bis drei Stunden an der Muskulatur des Kiefergelenks einsetzt – deshalb die verbreitete Sitte, mittels eines Tuchs den Unterkiefer in geschlossener Mundstellung zu fixieren. In den nächsten acht bis zehn Stunden ergreift die Totenstarre den gesamten Körper, um sich einige Tage später wieder völlig zu lösen. Zusammen mit der abfallenden Körpertemperatur lässt sich nicht nur der Tod feststellen, sondern auch der Zeitpunkt seines Eintritts schätzen (bei erst später aufgefundenen Leichen kann man beispielsweise anhand der Besiedlung mit Tieren bzw. ihren Eiern mit oft erstaunlicher Präzision den Todeszeitraum eingrenzen).

1.2 Die natürlichen postmortalen Zersetzungsvorgänge (Verwesung, Dekomposition)

Unmittelbar nach dem Tod setzt die Verwesung(1) ein, nachdem die nun funktionsunfähigen Zellen die Auflösung ihrer Strukturen und das Eindringen von Bakterien und anderen Mikroorganismen nicht mehr verhindern können. Diese Erreger waren großteils bereits im lebenden Organismus vorhanden, ohne ihm zu schaden, bildeten beispielsweise die Darmflora. Eine weitere Rolle spielt die Autolyse, die Zersetzung durch körpereigene, trotz des mittlerweile erfolgten Exitus noch arbeitende Enzyme. Am schnellsten laufen die Verwesungsvorgänge im feuchtwarmen Klima ab, insbesondere wenn die Leiche oberirdisch im Freien lagert und Ameisen, Würmer, aasfressende Säugetiere und Vögel sowie weitere Organismen hier reiche Beute finden. Binnen weniger Wochen bleiben oft nur die Knochen übrig, die sich aber dann über Jahrhunderte bis Jahrmillionen halten können.

In der Friedhofserde geht, abhängig von der Bodenbeschaffenheit, die (2)Verwesung langsamer vor sich; frühestens nach drei, spätestens meist nach zwölf Jahren ist nur noch das Skelett vorhanden, welches oft bei der Neubelegung des Grabes (sofern die Angehörigen des gerade Verstorbenen einverstanden sind) dort verbleibt, sonst in »Beinhäusern« (Kärnern) untergebracht wird. Bemerkenswerte Beinhäuser finden sich u. a. in Hallstadt in Österreich oder im Kloster St. Florian in Oberösterreich; besonders eindrucksvoll ist jenes im Katharinenkloster im Sinai (Ägypten), wo die Gebeine der in den vielen Jahrhunderten dort nach einem frommen Leben verstorbenen Mönche untergebracht sind. Äußerst skurrile Beinhäuser findet man in einigen Orten Tschechiens (z. B. in Kutná Hora), wo aus den Knochen Gegenstände wie Wappen oder Leuchter geformt sind.

Die gesetzlichen Ruhefristen, nach denen die Gräber aufgelöst oder neu belegt werden, betragen in Deutschland – abhängig vom Bundesland – 15–30 Jahre, wobei im Falle der »(1)Wachsleichen« auch diese lange Zeit nicht genügt, um ein vollständig von sonstigen Geweberesten befreites Skelett zu erhalten (▶ Abschn. 1.3.5).

Kälte verzögert die Verwesungsvorgänge erheblich; beispielsweise sehen die im sibirischen Permafrostboden gefundenen Wollnashörner oder Mammuts wie lebendig aus. Auch die berühmte Gletscherleiche Ötzi(1) verdankt ihre bemerkenswerte Unversehrtheit der Tatsache, dass Ötzi schon in einer kalten Jahreszeit verstarb, offenbar bald danach eingeschneit wurde und unter Schnee und Eis die nächsten Jahrtausende verbrachte. Nicht ohne Grund bewahren pathologische Anatomen ihre Untersuchungsobjekte in gekühlten Schränken auf.

Die Gletschermumie Ötzi(2)

Zink 20161