Paul Heyse

In der Geisterstunde und andere Spukgeschichten

Paul Heyse

In der Geisterstunde und andere Spukgeschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962811-64-8

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Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

In der Geis­ter­stun­de

I. Die schö­ne Abi­gail.

II. Mit­tags­zau­ber.

III. ’s Li­sa­beth­le.

IV. Das Wald­la­chen.

Mar­tin der Stre­ber

Das Haus »Zum un­gläu­bi­gen Tho­mas«

Dan­ke

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Widmung


Mei­ner lie­ben Freun­din
Frau Emma Rib­beck
zu­ge­eig­net.

In der Geisterstunde

(1892)

I. Die schöne Abigail.

Wir hat­ten nach dem Abendes­sen in ei­nem be­freun­de­ten Hau­se bei Bow­le und Ci­gar­re bis in die spä­te Nacht hin­ein ge­plau­dert, zu­letzt über die Ent­lar­vung ei­nes spi­ri­tis­ti­schen Gauk­lers, die ge­ra­de vor we­ni­gen Ta­gen ge­lun­gen war und bei Gläu­bi­gen und Spöt­tern großen Lärm ge­macht hat­te. An den Be­richt über den Vor­gang – Ei­ner aus un­se­rem Krei­se war zu­ge­gen ge­we­sen – hat­te sich ein end­lo­ses Ge­spräch über das Für und Wi­der je­ner rät­sel­haf­ten Er­schei­nun­gen ge­knüpft, die auf der hell­dunklen Gren­ze zwi­schen See­len- und Ner­ven­le­ben ste­hen und selbst von der hoch­mü­tigs­ten Wis­sen­schaft nicht län­ger mit Schwei­gen und Ach­sel­zu­cken ab­zu­fer­ti­gen sind. In das leb­haf­te Ge­wir­re der wi­der­strei­ten­den Mei­nun­gen hin­ein er­klang plötz­lich der tie­fe Ton der al­ten Stand­uhr, die Mit­ter­nachts­stun­de an­kün­di­gend. Als der letz­te der zwölf har­ten, lang­sa­men Schlä­ge ver­hallt war und eine klei­ne Stil­le ent­stand, hör­ten wir aus dem So­fa­win­kel her­aus die hel­le Stim­me der jun­gen Schwes­ter der Haus­frau, die in ih­rer drol­lig tro­ckenen Ton­art aus­rief: So! die Geis­ter­stun­de wäre nun glück­lich an­ge­bro­chen. Ich er­lau­be mir den Vor­schlag zu ma­chen, dass jetzt die De­bat­te über Sug­ge­s­ti­on, Te­le­pa­thie, Au­to­hyp­no­se, und wie der kon­fu­se Spuk sonst noch hei­ßen mag, ge­schlos­sen wird und wir uns end­lich mit et­was So­li­de­rem be­schäf­ti­gen, ich mei­ne, mit ech­ten und rech­ten Ge­s­pens­ter­ge­schich­ten, wie sie zur Geis­ter­stun­de pas­sen. Ich glau­be zwar an die tan­zen­den Non­nen in »Ro­bert der Teu­fel« so we­nig wie an den flie­gen­den Hol­län­der, trotz­dem aber kann ich mich ei­nes an­ge­neh­men Gru­selns nicht er­weh­ren, wenn sie gut ge­spielt und ge­sun­gen wer­den, und nichts hab’ ich lie­ber, als wenn mir – in gu­ter Ge­sell­schaft – die Haut ein bi­schen schau­dert und das Haar zu Ber­ge steht. Gera­de dass man weiß, es ist Al­les Un­sinn, und doch hat es die­sen wun­der­li­chen Ef­fect, ist das Hüb­sche dar­an, wie man es ja auch bei al­lem Poe­ti­schen er­fährt, das uns mit fort­reißt, ob­wohl wir wis­sen, es ist ein Spuk der Fan­ta­sie. Ver­zei­hen Sie, Herr Dok­tor, wand­te sie sich lä­chelnd zu mir, ich schwat­ze da sehr un­be­schei­den über Din­ge, die Sie bes­ser ver­ste­hen. Aber warum sind Sie Alle, nach­dem die Uhr Zwölf ge­schla­gen, so wie auf Verab­re­dung ver­stummt? Der Ers­te, der den Mund öff­net, wenn ein En­gel durchs Zim­mer ge­flo­gen ist, sagt be­kannt­lich im­mer et­was Dum­mes.

Alle sie­ben Wei­sen könn­ten nichts Klü­ge­res über die Wir­kung der Poe­sie sa­gen, als was Sie eben ge­äu­ßert ha­ben, lie­bes Fräu­lein, er­wi­der­te ich, mich ge­gen sie ver­nei­gend. Ich freue mich, eine so tap­fe­re Idea­lis­tin in Ih­nen zu be­grü­ßen, wel­cher Schil­ler, wenn er sie hät­te re­den hö­ren, sei­ne Hochach­tung be­zeu­gen wür­de als ei­ner wer­ten Ge­sin­nungs­ge­nos­sin. Denn in der Tat mein­te er ja auch: was sich nie und nir­gend hat be­ge­ben, das al­lein ver­al­tet nie. Aber las­sen wir die­se äs­the­ti­schen Prin­zi­pi­en­fra­gen und kom­men zu un­se­rer mit­ter­näch­ti­gen Ta­ges­ord­nung. Sie wol­len Spuk­ge­schich­ten hö­ren? Wenn nun aber Nie­mand von uns eine recht aus­bün­di­ge, die nicht gar zu kin­disch und köhler­gläu­big wäre, in Be­reit­schaft hat?

Nein, sag­te das klu­ge Mäd­chen la­chend, das ver­steht sich, es darf nicht etwa auf einen blo­ßen Ba­de­man­tel hin­aus­lau­fen, der, zum Trock­nen auf­ge­hängt, vom Win­de hin und her ge­weht wird und sich für ein Ge­s­penst aus­gibt, wie ich selbst als klei­nes Mäd­chen ein­mal er­lebt habe. Es muss Et­was sein, was ei­nem ver­nünf­ti­gen Men­schen, und der kein Ha­sen­fuß ist, was auf­zu­ra­ten gibt, und wo­für auch nicht gleich eine pro­sa­i­sche Auf­klä­rung bei der Hand ist. Wie wär’s, wenn wir Um­fra­ge hiel­ten, und wer nichts der­art aus ei­ge­ner Er­fah­rung oder nach glaub­wür­di­ger Mit­tei­lung zu er­zäh­len wüss­te, müss­te ein Pfand ge­ben?

Dann rücke du selbst nur gleich mit dei­nem Pfand her­aus, sag­te ihre Schwes­ter lä­chelnd, denn schwer­lich sind dir au­ßer je­nem Ba­de­man­tel über­ir­di­sche Ge­sich­te zu Teil ge­wor­den.

Wer weiß! ver­setz­te die Mut­wil­li­ge und be­müh­te sich, eine ge­heim­nis­vol­le Mie­ne zu ma­chen. Aber ich kom­me zu­letzt. Der Dok­tor hat jetzt das Wort. Wir bit­ten um ein recht hüb­sches Ge­s­penst, Herr Dok­tor, Wahr­heit oder Dich­tung, in Pro­sa oder in Ver­sen ist uns gleich, nur dass es uns recht eis­kalt da­bei über den Rücken läuft und zu glei­cher Zeit eine sanf­te äthe­ri­sche Hand uns das Ge­sicht strei­chelt.

Da­mit kann ich nun frei­lich nicht die­nen, ver­setz­te ich, wenn ich nicht et­was zu­sam­men­fa­beln will, was ich doch aus dem Steg­reif nicht wa­gen wür­de. Das Höchs­te in die­ser Art hat schon ein Hö­he­rer ge­leis­tet, der Dich­ter der Braut von Ko­rinth. Mir selbst ist nur ein un­schein­ba­res Er­leb­nis in der Erin­ne­rung, das für eine ge­heim­nis­vol­le Wir­kung in die Fer­ne, die längst durch tau­send Tat­sa­chen be­stä­tigt ist, ein neu­es Zeug­nis ab­legt. Ich war als ein jun­ger Mensch von drei­und­zwan­zig Jah­ren in Rom und hat­te in Ber­lin die bei­den Men­schen zu­rück­ge­las­sen, de­nen von all mei­nen Nächs­ten ich am meis­ten fehl­te: mei­ne Mut­ter und mei­ne Braut. Im frü­hen Früh­ling des Jah­res 1853 nun, an ei­nem dunklen, stür­mi­schen Abend, sitzt mei­ne Liebs­te ru­hig mit ei­ner Hand­ar­beit bei ih­ren Ge­schwis­tern, als sie hef­tig un­ten an der Haus­tür klin­geln hört und mit dem Rufe: das ist Paul! hin­aus- und die Trep­pe hin­un­tereilt, um selbst das schon ver­schlos­se­ne Hau­stor zu öff­nen. Nie­mand stand drau­ßen an der Schwel­le, und sie muss­te sich, da sie zu­rück­kam, von den Brü­dern mit ih­rer »bräut­li­chen Fan­ta­sie« ne­cken las­sen. Am an­de­ren Mor­gen be­sucht sie mei­ne Mut­ter, die kommt ihr mit den Wor­ten ent­ge­gen: Den­ke nur, was mir ges­tern Abend be­geg­net ist! – und er­zählt ge­nau den­sel­ben Her­gang, wie sie plötz­lich die Haus­glo­cke ge­hört habe, mit dem leb­haf­ten Ton, den ich an­zu­schla­gen pfleg­te, zu mei­nem Va­ter hin­ein­ge­eilt sei und eben­falls aus­ge­ru­fen habe, das müs­se ich sein, der un­ten ste­he, wor­auf sich auch hier das Gan­ze als eine Sin­ne­stäu­schung er­wie­sen habe. Oder doch als et­was An­de­res? Denn acht Tage spä­ter kam ein Brief aus Rom mit der Nach­richt, dass ich an ei­nem Mala­ri­a­fie­ber be­denk­lich krank ge­le­gen, und ge­ra­de an je­nem Abend die Ge­fahr auf ihre Höhe ge­stie­gen sei.

Wie­der ward eine klei­ne Stil­le in der Run­de. Dann sag­te das Fräu­lein ru­hig: Eine nach­denk­li­che Ge­schich­te, von der ich je­des Wort glau­be. Denn von den Wir­kun­gen der See­len auf ein­an­der ohne die Ver­mitt­lung sinn­li­cher Zwi­schen­trä­ger ha­ben wir ja heu­te Abend schon ge­nug un­wi­der­sprech­li­che Be­wei­se ge­hört. Und so sol­len Sie ohne Pfand sich ge­löst ha­ben, ob­wohl es kei­ne ei­gent­li­che Ge­s­pens­ter­ge­schich­te ist, kei­ne sol­che, die un­glaub­lich ist und uns doch gru­seln macht. Jetzt ist die Rei­he an dem Herrn Obers­ten. Ich fürch­te nur, der wird uns auch im Stich las­sen. Denn so viel ich weiß, ha­ben die Ge­s­pens­ter einen hei­li­gen Re­spekt vor Leu­ten, die Waf­fen tra­gen und schon aus Be­ruf Cou­ra­ge ha­ben müs­sen.

Sie wand­te sich mit die­sen Wor­ten an mei­nen Nach­bar, der sich wäh­rend der letz­ten Stun­de, so lan­ge das Ge­spräch sich um die Ge­heim­nis­se des Zwi­schen­reichs ge­dreht, auf­fal­lend schweig­sam ver­hal­ten hat­te. Ein statt­li­cher Mann, zu An­fang der Fünf­zi­ger, Haar und Bart vor­zei­tig er­graut; die wet­ter­brau­ne Far­be des Ge­sichts stach mit ei­nem ge­wis­sen ko­lo­ris­ti­schen Reiz da­ge­gen ab, und nur ein lei­ses Zu­cken, das dann und wann den fes­ten Mund um­zog, ver­riet ein ge­hei­mes Lei­den. In der Tat hat­te der treff­li­che Mann, der mit Leib und See­le Sol­dat war und im Krie­ge von 70 und 71 mit Aus­zeich­nung ge­dient hat­te, we­gen tief ein­ge­nis­te­ter rheu­ma­ti­scher Be­schwer­den in Fol­ge sei­ner Feld­stra­pa­zen vor zwei Jah­ren den Ab­schied neh­men müs­sen, mit Obers­ten­rang und al­len sons­ti­gen Ehren, die ihn je­doch über sei­ne ge­zwun­ge­ne Un­tä­tig­keit so we­nig zu trös­ten ver­moch­ten, wie die kriegs­ge­schicht­li­chen Stu­di­en, mit de­nen er sei­ne Muße aus­füll­te.

Wir Alle schätz­ten ihn sehr und freu­ten uns, dass er in un­serm Krei­se sei­ner schwer­mü­ti­gen Stim­mung Herr zu wer­den im Stan­de war und bei den wit­zi­gen Tor­hei­ten, auf wel­che die Schwes­ter der Haus­frau zu­wei­len ver­fiel, das dank­bars­te Pub­li­kum ab­gab.

De­sto be­stürz­ter sa­hen wir nun, wie er auf die letz­ten Wor­te des Fräu­leins erb­lass­te, den Blick zu Bo­den kehr­te und eine Wei­le un­schlüs­sig schi­en, was er er­wi­dern soll­te.

Es war of­fen­bar, dass ir­gend eine wun­de Stel­le in sei­nem In­nern be­rührt wor­den war, und dass er nach sei­ner an­ge­bo­re­nen Tap­fer­keit sich be­müh­te, den Schmerz zu ver­win­den und nichts da­von zu Tage kom­men zu las­sen.

Eben woll­te das be­trof­fe­ne Mäd­chen, das bei all sei­nem Über­mut einen fei­nen Her­zen­stakt be­saß, die un­lieb­sa­me Übe­rei­lung wie­der gut ma­chen und un­ter ei­nem scherz­haf­ten Vor­wan­de den Oberst von der Pfän­der­pflicht frei­spre­chen, als die­ser die Au­gen mit ru­hi­gem Ent­schluss wie­der auf­hob und sag­te:

Ich hät­te al­ler­dings et­was zu er­zäh­len, was den An­for­de­run­gen, die Sie an eine rich­ti­ge Spuk­ge­schich­te stel­len, hin­läng­lich ent­spre­chen möch­te. Ich müss­te aber, um ver­ständ­lich zu ma­chen, warum dies Er­leb­nis mir so nahe ging, ziem­lich weit in mei­ne Ver­gan­gen­heit zu­rück­grei­fen und al­ler­lei Her­zens­aben­teu­er be­rüh­ren, die Ih­nen nicht sehr in­ter­essant sein kön­nen. Zu­dem ist die Po­li­zei­stun­de längst über­schrit­ten –

Das Fräu­lein ließ ihn nicht aus­re­den. Ich bin nicht die Haus­frau, sag­te sie mit ei­nem lieb­li­chen Er­rö­ten, und habe wohl über­haupt schon zu dreist das Wort ge­führt. Aber wie ich mei­ne Schwes­ter ken­ne – von dem lie­ben Schwa­ger gar nicht zu re­den – so ist es ihr nie zu spät, eine merk­wür­di­ge Ge­schich­te er­zäh­len zu hö­ren, zu­mal wenn es sich um Her­zens­aben­teu­er ei­nes so ver­ehr­ten Haus­freun­des han­delt. Über­dies ist die Bow­le noch nicht zur Hälf­te aus­ge­trun­ken, was mich, die ich sie ge­braut habe, krän­ken muss. Las­sen Sie mich also Ihr Glas wie­der fül­len, dann will ich mäus­chen­still sein und recht mit Won­ne mich grau­len.

Sie merk­te, dass sie doch nicht den rech­ten Ton ge­fun­den hat­te, denn auf sei­nem Ge­sicht er­schi­en kein Lä­cheln, wie sonst bei ih­rem schalk­haf­ten Ge­plau­der. Auch wir An­dern ge­rie­ten in eine et­was be­klom­me­ne Stim­mung, da wir den Freund jetzt auf­ste­hen und ein paar Mal das Zim­mer durch­schrei­ten sa­hen. Er stand end­lich an dem längst er­lo­sche­nen Ofen still, lehn­te sich mit dem Rücken dar­an und be­gann sei­ne Ge­schich­te.

Was ich Ih­nen er­zäh­len will, liegt schon eine ziem­li­che Stre­cke Zeit hin­ter mir, über zehn Jah­re. Doch bei der lei­ses­ten Erin­ne­rung dar­an steht Al­les wie­der so leib­haft vor mir, als hät­te sich’s ges­tern zu­ge­tra­gen, und ich habe ganz die­sel­ben Schau­er von Glut und Frost in mei­nem Blu­te zu über­ste­hen, wie in je­ner wun­der­sa­men Nacht.

Ich schi­cke dies vor­aus, da­mit Sie mich nicht im Ver­dacht ha­ben, Ih­nen einen lee­ren Traum vor­zu­tra­gen. Träu­me pfle­gen zu ver­schäu­men. Was ich da­mals er­leb­te – doch ich will ohne wei­te­re Vor­re­de zur Sa­che kom­men.

Es war also im Jah­re 1880, im Hoch­som­mer. Ich hat­te mir vier Wo­chen Ur­laub aus­ge­wirkt, da mein rheu­ma­ti­sches Lei­den eben da­mals an­fing, mich un­er­träg­lich zu pei­ni­gen. Das Wild­bad aber, auf das ich mei­ne Hoff­nung ge­setzt hat­te, tat Wun­der. Nach drei Wo­chen fühl­te ich mich wie neu ge­schaf­fen, und da die Hit­ze in je­nen Tal­grün­den mir im Üb­ri­gen nicht wohl­tat, sprach der Ba­de­arzt mich nach den üb­li­chen ein­und­zwan­zig Bä­dern frei und riet mir, den Rest mei­ner Fe­ri­en in ei­ner küh­le­ren Ge­gend zu­zu­brin­gen, mit al­ler Vor­sicht frei­lich, um nicht wie­der einen Rück­fall her­auf­zu­be­schwö­ren.

Nun hat­te ich in B. einen Ju­gend­freund, mit dem ich seit dem Frie­den nicht wie­der zu­sam­men­ge­kom­men war. Nach dem Krie­ge, den er als Re­gi­ments­arzt ge­ra­de in mei­ner Kom­pa­nie mit­ge­macht, hat­te er in die­ser sei­ner Va­ter­stadt die Lei­tung des Kran­ken­hau­ses über­nom­men, sich ver­hei­ra­tet und nur durch die Zu­sen­dung der Ge­burts­an­zei­gen sei­ner fünf oder sechs Kin­der die Fä­den un­se­rer al­ten Freund­schaft fort­ge­spon­nen.

Um so wohl­tu­en­der war mir’s, da ich ihn jetzt un­vor­be­rei­tet über­fiel, den gu­ten Ka­me­ra­den ganz so herz­lich ge­sinnt wie­der­zu­fin­den wie da­mals, als ich von ihm Ab­schied nahm, um nach mei­nem Wund­bet­te in Mainz eva­ku­iert zu wer­den. Ich muss­te zu Ti­sche bei ihm blei­ben – die ein­zi­ge Zeit des Ta­ges, neck­te ihn sei­ne lie­bens­wür­di­ge Frau, wo er nicht dem Ers­ten Bes­ten mehr ge­hör­te als sei­nem ei­ge­nen Fleisch und Blut –, und da ihn in den nächs­ten Stun­den sei­ne Stadt­pra­xis wie­der in An­spruch nahm, ver­ab­re­de­ten wir, dass ich ihn Abends nach dem Thea­ter in ei­nem Wein­hau­se, das er mir be­zeich­ne­te, er­war­ten soll­te.

Mein ein­sa­mer Nach­mit­tag ver­ging rasch ge­nug. Ich kann­te zwar, au­ßer mei­nem Kriegs­ka­me­ra­den, kei­ne le­ben­de See­le in der schö­nen al­ten Stadt, die ich als Fähn­rich vor lan­gen Jah­ren ein­mal flüch­tig durch­wan­dert hat­te. Aber es gab an al­len Ecken und En­den so viel Merk­wür­di­ges zu schau­en, so Man­ches reiz­te mich, ein paar Stri­che in mei­nem Skiz­zen­buch zu ma­chen, und das Wet­ter war so lieb­lich durch ein Mor­gen­ge­wit­ter ge­kühlt wor­den, dass ich das Thea­ter – eine sehr frag­wür­di­ge Som­mer­büh­ne – fah­ren ließ und die Zeit bis zu un­serm Stell­dich­ein lie­ber mit ei­nem Spa­zier­gang in der stil­len Abend­luft die baum­rei­chen Flus­sufer ent­lang aus­füll­te.

Ich hat­te mich da­bei so in mei­ne Ge­dan­ken ein­ge­spon­nen, dass ich erst an den Rück­weg dach­te, als es völ­lig Nacht ge­wor­den war. Eine Nacht frei­lich, in der sich’s so an­mu­tig lust­wan­del­te wie am Tage: denn der Mond ging fast schon mit sei­nem vol­len Schein über den Er­len­wip­feln auf und er­hell­te die Ge­gend der­ge­stalt, dass man an den fla­chen Ufer­stel­len die Kie­sel durch die Wel­len wie klei­ne Sil­ber­ku­geln schim­mern se­hen konn­te.

So auch er­schi­en die Stadt von ei­nem sil­ber­nen Duft um­wo­ben, wie aus ei­nem Mär­chen vor mich hin­ge­pflanzt, als ich mich ihr wie­der nä­her­te. Es schlug schon Neun von der al­ten Dom­kir­che, ich war müde und durs­tig von mei­nem lan­gen Streif­zu­ge und hat­te mir die Rast in dem Wein­hau­se, zu dem ein ge­fäl­li­ger Bür­gers­mann mich hin­wies, wohl ver­dient. Da ich mei­nen Freund noch nicht vor­fand, ließ ich mir et­was zu es­sen ge­ben und einen Schop­pen leich­ten Weins, mit dem ich den ers­ten Heiß­durst lösch­te. Noch im­mer ließ der Dok­tor auf sich war­ten. Er muss­te nun aber je­den Au­gen­blick kom­men, und so be­stell­te ich im Voraus einen feu­ri­gen Rau­entha­ler, von dem er mir bei Ti­sche ge­spro­chen hat­te, um ihm gleich in die­sem ed­len Trop­fen Will­kom­men zu­zu­trin­ken, so­bald er ein­trä­te. Es war wirk­lich ein »Trank voll sü­ßer Labe«, wür­dig, die Blu­me al­ter Freund­schaft da­mit zu be­gie­ßen. Doch ver­fehl­te er sei­nen Zweck. Statt mei­nes gu­ten Ka­me­ra­den er­schi­en, so ge­gen Zehn, ein Bote mit ei­ner Kar­te, auf der der Freund sein Aus­blei­ben zu ent­schul­di­gen bat; er sei über Land ge­ru­fen wor­den zu ei­nem schwe­ren Pa­ti­en­ten und kön­ne nicht ab­se­hen, ob er in die­ser Nacht über­haupt zu­rück­keh­ren wür­de.

So war ich auf mich selbst an­ge­wie­sen und auf den Wein, der mich lei­der nicht hei­ter zu stim­men pfleg­te, wenn ich ihn nicht in freund­li­cher Ge­sell­schaft trank. Seit ich mei­ne Frau ver­lo­ren habe, da­mals ging es ins drit­te Jahr, über­fiel mich bei der ein­sa­men Fla­sche re­gel­mä­ßig eine tie­fe Me­lan­cho­lie, die ge­flis­sent­lich zu näh­ren ich nicht mehr jung und sen­ti­men­tal ge­nug war. Um ihr auch dies­mal nicht zu ver­fal­len, griff ich nach den Zei­tun­gen, die mir fast alle zu Ge­bo­te stan­den, da die we­ni­gen Stamm­gäs­te an ih­ren ab­ge­son­der­ten Ti­schen sich eif­rig ih­rer Scat- oder Schach­par­tie hin­ga­ben.

Was mir zu­nächst – auf der letz­ten Sei­te des Lo­kal­blat­tes – ins Auge fiel, war die Lis­te der städ­ti­schen Se­hens­wür­dig­kei­ten. Da ich den gan­zen mor­gi­gen Tag noch zu blei­ben ge­dach­te, war mir die­ser Weg­wei­ser ganz er­wünscht, und ich no­tier­te mir Ei­ni­ges, was mei­ne Neu­gier­de reiz­te, in mein Ta­schen­buch. Da fiel mein Blick auf eine An­zei­ge, die mei­ne Ge­dan­ken plötz­lich in eine weit ent­le­ge­ne Zeit zu­rück­lenk­te: »Je­den Mon­tag und Don­ners­tag ist die Wind­ham’­sche Ge­mäl­des­amm­lung im Erd­ge­schoss des Rat­hau­ses un­ent­gelt­lich ge­öff­net.«

Wind­ham! Nein, ich irr­te mich nicht; das war der Name ge­we­sen. Ein Wind­ham hat­te im letz­ten Ka­pi­tel mei­nes Ju­gen­dro­mans die Haup­trol­le ge­spielt. Nun däm­mer­te es auch in mir auf, dass ich spä­ter ein­mal ge­hört hat­te, die­ser Wind­ham habe sich mit sei­ner jun­gen Frau hier in B. nie­der­ge­las­sen. Seit­dem war er mir ver­schol­len ge­blie­ben. Und nun hier so un­ver­hofft an ihn er­in­nert zu wer­den! –

Aber Sie kön­nen ja nicht ver­ste­hen, was mich an der un­schein­ba­ren Zei­tungs­no­tiz so selt­sam auf­reg­te. Ich muss nun doch noch wei­ter aus­ho­len.

Sie wis­sen, dass ich als Spröss­ling ei­ner un­ter­frän­ki­schen Sol­da­ten­fa­mi­lie im Ka­det­ten­hau­se zu Mün­chen er­zo­gen wor­den bin und es in dem Jah­re vor Aus­bruch des fran­zö­si­schen Krie­ges zum Ober­leut­nant ge­bracht hat­te. Ich war neun­und­zwan­zig Jah­re alt und hat­te au­ßer mei­nem Be­ruf, dem ich mit Leib und See­le an­hing, nicht viel er­lebt. Eine sehr idea­le Fähn­richs­lie­be, die ein al­ber­nes Ende nahm, hat­te mich vor den man­cher­lei Ver­ir­run­gen mei­ner Al­ters­ge­nos­sen be­wahrt, mir aber das weib­li­che Ge­schlecht nicht im bes­ten Lich­te ge­zeigt. Doch po­sier­te ich nicht als Wei­ber­feind, und da ich ein lei­den­schaft­li­cher Tän­zer war, selbst noch auf der Kriegs­aka­de­mie, mach­te ich auch den Kar­ne­val des Jah­res 70 als ei­ner der Flot­tes­ten mit, ohne mir die Flü­gel zu ver­bren­nen.

Bis auch mei­ne Stun­de ge­schla­gen hat­te.

Auf ei­nem der öf­fent­li­chen Bäl­le er­schi­en so um die Mit­te des Fe­bru­ar eine auf­fal­len­de jun­ge Schön­heit, die alle bis­he­ri­gen Ball­kö­ni­gin­nen ver­dun­kel­te.

Sie war erst vor Kur­zem mit ih­rer Mut­ter, da der Va­ter vor Jahr und Tag ge­stor­ben war, aus Ös­ter­reich her­über­ge­kom­men, um, nach­dem sie die Trau­er ab­ge­legt hat­te, noch et­was Win­ter­freu­den zu ge­nie­ßen. Ihre Ge­stalt, ihr Be­neh­men, ihre Art sich aus­zu­drücken, all das hat­te einen fremd­ar­ti­gen Reiz, der schon aus der selt­sa­men Mi­schung ih­res Blu­tes zu er­klä­ren war. Denn ihre Mut­ter, eine hoch­ge­wach­se­ne, röt­lich blon­de Schot­tin von stren­ger, pu­ri­ta­ni­scher Hal­tung und lang­sam un­ge­len­ken Ge­bär­den, hat­te einen stei­ri­schen Edel­mann ge­hei­ra­tet, der sich auf ei­ner Rei­se durch ihr hei­mat­li­ches Hoch­land in das jun­ge Mäd­chen ver­liebt hat­te. Sie war ihm nach sei­nem Gut ge­folgt, hat­te sich aber dort nicht zu ak­kli­ma­ti­sie­ren ver­stan­den. Trotz­dem schi­en sie in ei­ner glück­li­chen Ehe mit dem leicht­blü­ti­gen ka­tho­li­schen Gat­ten ge­lebt zu ha­ben und sei­nen Tod noch im­mer nicht ver­win­den zu kön­nen, als sie mit ih­rer Toch­ter auf Rei­sen ging.

Die­se, da­mals schon in den ers­ten Zwan­zig, hat­te von der Welt bis­her nichts ge­se­hen, als was auf zehn Mei­len in der Nach­bar­schaft ih­res Land­sit­zes sich ihr dar­ge­bo­ten hat­te. Der Va­ter, der im Punkt der ehe­li­chen Treue viel­leicht nicht der Ge­wis­sen­haf­tes­te ge­we­sen war und all­jähr­lich vie­le Mo­na­te in Wien zu­brach­te, hat­te sei­ne Frau den Ver­su­chun­gen der großen Stadt sorg­fäl­tig fern­zu­hal­ten ge­wusst und die Toch­ter vollends vor al­lem Ver­kehr mit jun­gen Män­nern be­hü­tet. Bei­de hät­ten es wahr­lich nicht be­durft, da ihr küh­les Tem­pe­ra­ment sie hin­läng­lich schütz­te. Denn hier­in war A­bi­gail – so war das Fräu­lein nach ei­nem ur­al­ten Brauch der müt­ter­li­chen Fa­mi­lie ge­tauft wor­den – das ech­te Kind ih­rer Mut­ter, der sie äu­ßer­lich durch­aus nicht ähn­lich sah, nicht ein­mal durch die Far­be des Haars, die bei der Toch­ter durch­aus kei­nen röt­li­chen Schim­mer hat­te.

Ich will aber nicht den tö­rich­ten Ver­such ma­chen, Ih­nen die­se rei­zen­de jun­ge Per­son zu be­schrei­ben. Nur Zwei­er­lei fiel mir gleich bei dem ers­ten Be­geg­nen auf und ver­folg­te mich bis in mei­ne Träu­me: der selt­sam glanz­lo­se Blick ih­rer großen grau­en Au­gen, die im­mer ernst blie­ben, auch wenn der Mund lä­chel­te, und dass sie die schöns­ten Arme hat­te, die ich je ge­se­hen. Sie trug sie ge­gen die da­ma­li­ge Sit­te ganz ent­blö­ßt, an den Ach­seln nur durch einen schma­len Flor­strei­fen von den herr­li­chen Schul­tern ab­ge­trennt, was die Da­men, zu­mal die Müt­ter, skan­da­lös fan­den, ob­wohl die Wie­ner Mode die­se Tracht sank­tio­nier­te und das Fräu­lein im Üb­ri­gen sich in Wor­ten und Ge­bär­den aufs Züch­tigs­te be­trug. Aber die Arme wa­ren zu schön, um nicht Auf­se­hen zu ma­chen und so viel Neid wie Be­wun­de­rung zu er­re­gen. Eine Far­be wie et­was ver­gilb­ter wei­ßer At­las, mit ei­nem mat­ten Glanz, und in der Bie­gung des El­len­bo­gens eine zar­te blaue Ader. Selbst die klei­nen, hel­len Nar­ben am lin­ken Obe­r­arm, die von der Na­del des Impf­arz­tes her­rühr­ten, hat­ten einen ei­ge­nen Reiz, als wä­ren sie mit ab­sicht­li­cher Ko­ket­te­rie der glat­ten Haut ein­ge­ätzt wor­den, um de­ren edle Fein­heit de­sto mehr be­merk­lich zu ma­chen.

Und so die Hän­de, als sie beim Sou­per die Hand­schu­he ab­streif­te, der schöns­te Fuß im weiß­sei­de­nen Schuh, ein Eben­maß und eine Schmieg­sam­keit der Glie­der, die sie dem ös­ter­rei­chi­schen blau­en Blut, nicht der schot­ti­schen Hoch­land­ras­se ver­dank­te.

Ich war, so wie ich den ers­ten Blick auf das herr­li­che Ge­schöpf ge­wor­fen hat­te, un­ter dem Zau­ber die­ser frem­den, küh­len Au­gen. So un­be­fan­gen ich sonst selbst den rei­zends­ten Frau­en ge­gen­über­trat, das Herz schlug mir hef­tig, und mei­ne Rede ver­wirr­te sich, als ich ihr vor­ge­stellt wur­de und sie um einen Tanz bat.

Auch fand ich mei­ne Be­sin­nung nicht so bald wie­der, wäh­rend ich mit ihr durch den wei­ten Saal mich um­schwang, und war wü­tend auf mich selbst, dass ich eine so un­be­hol­fe­ne Fi­gur mach­te. Be­stän­dig muss­te ich den­ken: Sie ist kein Weib wie alle an­de­ren. Eine Göt­tin! Kein Wun­der, dass ihre Bli­cke so kühl auf das arm­se­li­ge Men­schen­ge­wühl her­ab­sin­ken. Ist es zu den­ken, dass man einen sol­chen Mund küs­sen dürf­te? Und der Sterb­li­che, um des­sen Hals sich die­se Arme schlän­gen, müss­ten dem nicht die Sin­ne ver­ge­hen und er in die­sem über­mensch­li­chen Glück zu ei­nem Aschen­häuf­chen ver­lo­dern?

Sie se­hen, es war eine rich­ti­ge Be­zau­be­rung. Was man vom Blitz und Schlag ei­ner plötz­li­chen Ver­lie­bung re­det, hat­te ich an mir er­le­ben sol­len.

Ich ge­wann aber bald so viel Herr­schaft über mich, dass ich mich mit gu­ter Ma­nier in mein Schick­sal er­ge­ben und an die­sem ers­ten Abend die Rol­le ei­nes rit­ter­li­chen Ver­eh­rers spie­len konn­te, ohne mich zu so über­schwäng­li­chen Hul­di­gun­gen fort­rei­ßen zu las­sen, wie die Meis­ten mei­ner Ka­me­ra­den. Das kam mir mehr zu Stat­ten, als wenn ich an Schön­heit und Lie­bens­wür­dig­keit Alle über­glänzt hät­te. Denn das selt­sa­me Mäd­chen, ob­wohl dies ihr ers­ter Ball­win­ter war, nahm doch alle Aus­zeich­nun­gen, die ihr zu Teil wur­den, zu­mal die sü­ßen Re­den ih­rer Tän­zer, mit so küh­ler Mie­ne ent­ge­gen, als ob es ihr beim Tanz ein­zig und al­lein auf die Be­we­gung an­käme und die eit­len jun­gen Her­ren, so schön ge­putzt und fri­siert sie wa­ren, ihr nur als Mit­tel zu die­sem Zweck will­kom­men wä­ren.

Das ge­stand sie mir denn auch ganz harm­los, als wir beim Sou­per mit ein­an­der plau­der­ten, und dass es ihr eher läs­tig und lang­wei­lig sei, we­gen ih­rer Schön­heit be­stän­dig be­gafft und um­schmei­chelt zu wer­den. Kei­ne Spur von Ko­ket­te­rie konn­te ich an ihr be­mer­ken, doch einen Hang zur Iro­nie und Men­schen­ver­ach­tung, der in ei­nem min­der rei­zen­den We­sen sehr ab­sto­ßend ge­wirkt hät­te, an Fräu­lein Abi­gail aber nur wie ein selt­sa­mes Schmuck­stück, etwa ein blan­ker Sta­chel­gür­tel um den schmieg­sa­men Leib, sich aus­nahm.

Da ich ihr nicht ein ein­zi­ges schmei­cheln­des Wort sag­te, wur­den wir gleich an die­sem ers­ten Abend sehr gute Freun­de, und ich er­hielt so­gar von der Mut­ter die Er­laub­nis, sie in ih­rem Hau­se auf­zu­su­chen.

Ich mach­te, wie Sie den­ken kön­nen, gleich am an­de­ren Tage da­von Ge­brauch. Ich muss­te doch fra­gen, wie der Ball ih­nen be­kom­men sei, und fand die Da­men in ei­ner mö­blier­ten Woh­nung so be­hag­lich ein­ge­rich­tet, dass mir klar wur­de, sie leb­ten in den be­quems­ten Ver­hält­nis­sen. Gleich­wohl mach­te die Mut­ter kein Hehl dar­aus, dass sie nur ge­kom­men sei, um für die Toch­ter einen Mann zu fin­den, wozu auf dem ab­ge­le­ge­nen Land­sitz kei­ne Aus­sicht sei. Das Mäd­chen hör­te jede Äu­ße­rung, die in die­sem Sin­ne fiel, mit dem äu­ßers­ten Gleich­mut, wie wenn es sich durch­aus nicht um sie selbst da­bei hand­le, son­dern um eine Lau­ne der Mama, die hof­fent­lich auch wie­der ver­ge­hen wer­de.

Das Zu­trau­en, das sie so rasch zu mir ge­fasst hat­te, ent­zog sie mir auch nicht wie­der, son­dern gab mir im­mer neue Be­wei­se, dass ihr mei­ne Ge­sell­schaft an­ge­nehm sei, mei­ne Art, Welt und Men­schen zu be­trach­ten, ihr die rich­ti­ge schei­ne. Sie er­zähl­te mir ihr gan­zes Le­ben, das frei­lich kei­nem Ro­man ähn­lich sah. Ver­liebt war sie nie ge­we­sen und konn­te sich von dem Zu­stand ei­nes lei­den­schaft­li­chen Her­zens über­haupt kei­ne Vor­stel­lung ma­chen. Ge­liebt hat­te sie nur Ei­nen Men­schen, ih­ren Va­ter. Mit der Mut­ter ver­stand sie sich in kei­ner Sa­che und be­ob­ach­te­te alle kind­li­chen Pf­lich­ten fast me­cha­nisch, ohne das Ge­rings­te da­bei zu emp­fin­den. Ja, sag­te sie mir ein­mal, es ist viel­leicht so, wie Sie sa­gen, ich habe kein rich­ti­ges Mäd­chen­herz, und doch –

Da­bei drück­te sie die Au­gen ein, lehn­te den schö­nen blon­den Kopf zu­rück, und ihre halb ge­öff­ne­ten Lip­pen hat­ten einen halb schmerz­li­chen, halb wil­den Aus­druck von Dürs­ten und Ver­lan­gen.

Gleich dar­auf lä­chel­te sie und fing eine spöt­ti­sche Rede an über ge­wis­se jun­ge Da­men, die sie ken­nen ge­lernt und die ih­ren Freun­din­nen be­stän­dig Bulle­tins über die Zu­stän­de ih­rer zärt­li­chen Her­zen zu hö­ren ga­ben.

All die­se Ver­trau­lich­kei­ten wa­ren weit ent­fernt, mich ei­tel zu ma­chen und küh­ne Hoff­nun­gen in mir zu we­cken.

Ich ver­brach­te aber fast einen Abend wie den an­dern in der Ge­sell­schaft der bei­den Da­men, teils, so lan­ge der Kar­ne­val dau­er­te, bei öf­fent­li­chen Fes­ten, wo ich nun be­reits für den un­zer­trenn­li­chen Ka­va­lier und be­güns­tig­ten Be­wer­ber galt, teils an ih­rem be­hag­li­chen Tee­tisch als ein­zi­ger Haus­freund männ­li­chen Ge­schlechts. Nur dann und wann fand sich eine äl­te­re Dame, eine ös­ter­rei­chi­sche Be­kann­te der Mut­ter, dazu, und es wur­de ein klei­ner Tarok ge­spielt, bei dem Abi­gail die Zuschaue­rin mach­te. Sie ver­hehl­te ihre Lan­ge­wei­le nicht, wie sie über­haupt mit kei­ner ih­rer Emp­fin­dun­gen je zu­rück­hielt. Und doch blieb ein rät­sel­haf­ter dunk­ler Grund in ih­rem We­sen, der zu­wei­len in un­be­wach­ten Stun­den durch­blick­te und mich je­des Mal mit ei­nem lei­sen, un­heim­li­chen Frös­teln über­schau­er­te.

Ich war im Ver­lauf der Wo­chen und Mo­na­te so of­fen­her­zig ge­gen sie ge­wor­den, dass ich selbst die­ses nicht ge­ra­de schmei­chel­haf­te Ge­fühl dem ver­wöhn­ten Mäd­chen nicht ver­hehl­te.

Sie sah ru­hig und mit un­be­weg­li­chen Au­gen über mich hin­weg.

Ich weiß, was Sie mei­nen, sag­te sie. Es ist Et­was in mir, wo­vor ich mich selbst fürch­te, und kann es doch nicht nä­her be­zeich­nen. Vi­el­leicht die Ah­nung, dass ich nie er­fah­ren wer­de, was Glück ist, frei­lich auch An­de­ren kein Glück zu brin­gen be­stimmt bin, ohne ei­ge­ne Schuld, und dass mein in­ners­tes We­sen sich dann em­pört und auf ir­gend Et­was sinnt, um sich für die­se Zu­rück­set­zung zu rä­chen. Wis­sen Sie, wie ich mir vor­kom­me? Wie ein Eis­zap­fen, der eine Flam­me lus­tig fla­ckern sieht und sich schämt, so starr und kalt zu blei­ben, und nun nä­her her­an­rückt und da­bei nichts wei­ter er­reicht, als dass er lang­sam ab­schmilzt; wenn aber die letz­te ei­si­ge Starr­heit ge­schwun­den ist, wird er selbst nicht mehr vor­han­den sein. Das Gleich­nis hin­kt auf bei­den Fü­ßen, ich weiß es wohl; aber es ist doch Et­was dar­an, und Sie wis­sen viel­leicht auch, was mit der Flam­me ge­meint ist.

Es war das ers­te Mal, dass sie auf mei­ne längst nicht mehr ver­bor­ge­ne Nei­gung an­spiel­te, frei­lich un­barm­her­zig ge­nug, da sie mir jede Hoff­nung ab­schnitt. Wer weiß aber, wo­hin das Ge­spräch noch ge­führt hät­te, wenn die Mut­ter nicht da­zu­ge­kom­men wäre.

Und frei­lich hin­k­te das Gleich­nis. Denn auch die Flam­me brann­te nicht so lus­tig, wie ein recht­schaf­fe­nes Lie­bes­feu­er soll, son­dern hat­te wun­der­li­che An­fäl­le von Küh­le und Ver­su­chun­gen völ­li­gen Er­lö­schens.

So recht ins Lo­dern ge­riet sie nur, wenn ich mit dem wun­der­sa­men Mäd­chen un­ter vier Au­gen war oder im licht­er­hel­len Saal ihre gan­ze Schön­heit an mir vor­über­schweb­te. War sie mei­nen Au­gen ent­rückt, so kam sie mir durch­aus nicht aus dem Sinn, ja ich muss­te nun erst recht an sie den­ken, dann aber stets mit ei­ner rät­sel­haf­ten Ab­nei­gung, ob­wohl ich ihr nichts Be­stimm­tes vor­wer­fen konn­te. War’s eine Sün­de, mich nicht zu lie­ben? oder von der Lie­be über­haupt noch kei­nen Hauch ge­spürt zu ha­ben? Und je­ner dunkle Grund, der ihr selbst un­heim­lich war, konn­te er sich nicht ei­nes Ta­ges als ein ganz un­schul­di­ger Hin­ter­grund er­wei­sen, auf wel­chem al­ler­lei lich­te Freu­den sich de­sto far­bi­ger und rei­zen­der aus­nah­men?

Und den­noch, die Tat­sa­che stand fest: ich wünsch­te, ich hät­te das schö­ne Mäd­chen nie ken­nen ge­lernt, das mich doch im­mer von Neu­em zu sich hin­zwang und, wenn ich in ih­rer Nähe war, mei­ne Sin­ne in einen ma­gi­schen Aufruhr brach­te.

Nur Ein­mal mei­nen Mund auf die­se durs­ti­gen Lip­pen zu drücken, nur Ein­mal von die­sen wei­chen, schlan­ken Ar­men um­fan­gen zu wer­den – ich bil­de­te mir ein, da­mit wür­de der Zau­ber ge­bro­chen und ich mir selbst zu­rück­ge­ge­ben wer­den.

Die Mut­ter sah mich kom­men und ge­hen, ohne sich über mein Ver­hält­nis zu ih­rem Kin­de be­son­de­re Ge­dan­ken zu ma­chen. Dass ich ver­liebt war, fand sie nur in der Ord­nung, aber ganz un­ge­fähr­lich bei der Sin­nes­art des Mäd­chens, die sie nur zu gut kann­te und nicht zu be­kämp­fen such­te, da sie ih­rem bei al­ler äu­ßer­li­chen Fröm­mig­keit welt­lich spe­ku­lie­ren­den Geist sehr er­wünscht war. Sie woll­te hö­her hin­aus mit ih­rer ge­fei­er­ten Toch­ter, als ein schlich­ter Ober­leut­nant es ihr bie­ten konn­te, und hoff­te von mir vor Al­lem, dass ich durch mei­ne Be­kannt­schaf­ten ihr den Ein­tritt in die ari­sto­kra­ti­schen Krei­se er­leich­tern wür­de. Dann wür­de es, kal­ku­lier­te sie, auf die Län­ge an ei­nem gräf­li­chen oder gar mor­ga­na­ti­schen Schwie­ger­sohn nicht feh­len.

Der Som­mer mach­te zu­nächst einen Strich durch die­se Rech­nun­gen, da die »Ge­sell­schaft« sich zer­streu­te und aufs Land hin­aus­zog. Auch mei­ne bei­den Da­men mie­te­ten eine Vil­la in Te­gern­see, zu mei­nem Leid­we­sen, da ich jetzt nur ein­mal alle sie­ben Tage sie be­su­chen konn­te. Die Ent­beh­rung schür­te nun al­ler­dings die Flam­me der­ge­stalt, dass ich von Sams­tag zu Sams­tag in ei­ner fie­ber­haf­ten Un­ge­duld hin­leb­te, zu­gleich in ste­ter Angst, wäh­rend mei­ner lan­gen Ent­fer­nung möch­te sich ir­gend­je­mand an die ein­sa­men Frau­en he­randrän­gen, der den An­sprü­chen der Mama ge­nüg­te und der Toch­ter nicht un­will­kom­me­ner als ir­gend ein An­de­rer wäre.

Die­se Sor­ge war über­flüs­sig. Da­ge­gen ver­fins­ter­te sich plötz­lich die Luft über der gan­zen deut­schen Welt so dro­hend, dass alle Ein­zel­ge­schi­cke da­von über­schat­tet wur­den.

Der fran­zö­si­sche Krieg brach aus. Ich be­grüß­te ihn freu­dig, auch weil er mei­ner ei­ge­nen un­er­träg­li­chen Si­tua­ti­on ein Ende mach­te. Nur mit ge­nau­er Not, in­dem ich einen nächt­li­chen Ritt dar­an setz­te, konn­te ich die Zeit zu ei­nem Ab­schieds­be­such in Te­gern­see er­schwin­gen. Ich fand, am frü­hen Mor­gen, das schmerz­lich ge­lieb­te Mäd­chen im Gar­ten, da sie mein Kom­men nicht er­war­tet hat­te. Sie hat­te ein Bad im See ge­nom­men, und die Mor­gen­luft schau­er­te über ihre blas­se Haut und das blon­de Haar, das ihr wie ein wei­cher Man­tel über den Rücken hin­ab­hing. Als sie hör­te, was mich zu so un­ge­wohn­ter Zeit hin­aus­ge­führt, wech­sel­te sie die Far­be kei­nen Au­gen­blick, nur ihre Au­gen­li­der senk­ten sich, als ob sie einen Vor­hang über das nie­der­las­sen woll­te, was in ihr vor­ging.

Nun, sag­te sie, da wird ja Ihr sehn­lichs­ter Wunsch er­füllt. Non più far­fallon an­drai amo­ro­so – Sie wer­den Wun­der der Tap­fer­keit ver­rich­ten und als ein be­rühm­ter Sie­ger zu­rück­keh­ren. Ich wün­sche Ih­nen das bes­te Glück und wer­de Ih­rer täg­lich ge­den­ken.

Wer­den Sie das wirk­lich? sag­te ich. Und et­was herz­li­cher als je­des an­de­ren Mut­ter­sohns, der sei­ne Brust pro pa­tria den Ku­geln der fran­zö­si­schen Mi­trail­leu­sen aus­setzt?

Wie kön­nen Sie dar­an zwei­feln! sag­te sie und brach eine Blu­me ab, de­ren Duft sie wie­der mit je­nem sehn­süch­ti­gen Aus­druck ein­sog. Sie wis­sen, dass ich Ih­nen sehr gut bin. Habe ich Ih­nen nicht auch mehr Ver­trau­en be­wie­sen, als noch je ir­gend ei­nem jun­gen Mann? Sind Sie da­mit nicht zu­frie­den?

Nein, Abi­gail, sag­te ich, und Sie wis­sen ja auch sehr gut, warum. Und nun schüt­te­te ich mein gan­zes Herz zum ers­ten Mal – da ich dach­te, es sei viel­leicht das letz­te Mal – in lei­den­schaft­li­cher Er­re­gung vor ihr aus. Ich weiß, schloss ich, Sie emp­fin­den gar nichts Ähn­li­ches. Der Blitz, der in mein Herz ein­ge­schla­gen, hat Ih­nen nicht ein ein­zi­ges Haar Ih­rer Stirn­löck­chen ver­sengt. Ich bin auch nicht so ver­blen­det, zu glau­ben, Sie wür­den aus bloßem Mit­leid, um mich nicht ganz hoff­nungs­los ins Feld zie­hen zu las­sen, ein wär­me­res Ge­fühl heu­cheln. Es muss­te mir aber ein­mal von den Lip­pen, zu mei­ner ei­ge­nen Er­leich­te­rung – und nun emp­feh­len Sie mich Ih­rer Frau Mut­ter, de­ren Mor­gen­toi­let­te ich nicht stö­ren will, und be­wah­ren Sie mir ein ge­neig­tes An­den­ken.

Da schlug sie die Au­gen auf und sah mir ge­ra­de ins Ge­sicht, sehr ernst­haft, wäh­rend ihre sonst im­mer gleich­mä­ßig ge­färb­ten Wan­gen eine leich­te Röte über­flog, die sie sehr ver­schön­te.

Nein, sag­te sie, so dür­fen Sie denn doch nicht von mir ge­hen, und Gott weiß, ob man sich je wie­der sieht. Ich will Ih­nen das Ge­ständ­nis mit auf den Weg ge­ben, dass ich fest über­zeugt bin, wä­ren Sie noch ein paar Wo­chen oder Mo­na­te wie bis­her freund­lich und gut ge­gen mich ge­we­sen, so hät­te sich der be­wuss­te Eis­zap­fen in ein frisch grü­nen­des Reis ver­wan­delt und Blü­ten ge­trie­ben – wie­der ein hin­ken­des Bild, aber Sie ver­ste­hen mich. Vi­el­leicht den­ken Sie an die­ses Früh­lings­mär­chen, wenn Sie im kal­ten Bi­wak1 Nachts nicht ein­schla­fen kön­nen, und er­wär­men dar­an Ihr frös­teln­des Herz.

Ich kann nicht schil­dern, wie mir bei die­sen Wor­ten zu Mute war.

Was ich in dem ers­ten Schwin­del und Tau­mel al­ler Ge­füh­le ge­stam­melt habe, mö­gen die Göt­ter wis­sen. Nur so viel ist mir er­in­ner­lich, dass ich un­ter An­derm die Zu­mu­tung an sie stell­te, nun so­fort zur Mut­ter zu ge­hen, sie um ih­ren Se­gen zu bit­ten und da­durch un­ser Ein­ver­ständ­nis zu ei­ner re­gel­rech­ten Ver­lo­bung zu stem­peln.

Wenn Sie mit mei­ner ei­ge­nen Er­klä­rung nicht zu­frie­den sind, sag­te sie kalt­blü­tig, so tut mir’s leid; zu mehr aber fühl’ ich mich für jetzt nicht auf­ge­legt – wahr­haf­tig, auf­ge­leg­t­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­