Wolfgang Mertens

Psychoanalytische Erkenntnishaltungen und Interventionen

Schlüsselbegriffe für Studium, Weiterbildung und Praxis

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2. Auflage 2014

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ISBN 978-3-17-024372-9

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. 1     Einige Überlegungen zur Weiterentwicklung psychoanalytischer Erkenntnishaltungen und Interventionen
  3. 2     Psychoanalytische Erkenntnishaltungen und Interventionen
  4. Adaptives Handeln fördern
  5. Affektive Blindheit überwinden
  6. Anerkennung
  7. Anti-Regression beachten
  8. Arbeitsbündnis herstellen und aufrechterhalten
  9. Arbeiten mit dem Unbewussten
  10. Atmosphäre, emotionale
  11. Außer-Übertragungsdeutung – Übertragungsdeutung außerhalb der analytischen Beziehung oder Deutung der außertherapeutischen Situation
  12. Autonomie fördern
  13. Autorität, funktionale ausüben
  14. Behandlungspraxis, explizite und implizite
  15. Beobachten, behavioral und empathisch-introspektiv
  16. Beobachten der Körpersprache
  17. Bestätigung kleinster Lernfortschritte
  18. Bewältigungsmotiv anerkennen
  19. Beziehungsregulierung, achten auf die
  20. Bindungstheoretische Orientierung
  21. Biographisches Kontextualisieren
  22. Blinde Flecken, Umgang mit blinden Flecken des Analytikers
  23. Coaching, sich vom Patienten coachen lassen/Lernen vom Patienten
  24. Container/Contained
  25. Denkprozesse, Wahrnehmung der eigenen
  26. Deutung
  27. Deutung als Sprechhandlung
  28. Deutung, analytikerzentriert, patientenzentriert
  29. Deutung, genetische
  30. Deutung, mutative
  31. Deutung, neurowissenschaftliche
  32. Deutung, prozessbezogene (»Deutungen zweiter Ordnung«)
  33. Deutung, virtuelle
  34. Dialoghandeln
  35. Durcharbeiten
  36. Eigenübertragung
  37. Einfühlung
  38. Einsicht fördern
  39. Emotionszentrierte Interventionen
  40. Enactment, Erkennen des und Umgang mit dem
  41. Entwicklungstheoretische Orientierung
  42. Erklären, kausales und intentionales
  43. »Etwas mehr« als Deutung
  44. Fokaltherapeutisch konzeptualisieren
  45. Fragen stellen
  46. Freie Assoziation, zulassen und fördern
  47. Gegenübertragung erkennen
  48. Gegenwartsmoment
  49. Gemeinsames Regredieren
  50. Gleichschwebende Aufmerksamkeit für die Inhalte des freien Assoziierens
  51. Handhabung der Übertragung
  52. Handlungsdialog
  53. Ich-Funktionen ansprechen und fördern
  54. Ich-Funktionen stärken (auf niedrigem Strukturniveau)
  55. Ichpsychologische Orientierung
  56. Implizites Beziehungswissen beachten
  57. Innerer Analytiker
  58. Inszenierende Interaktion
  59. Interaktionelles Prinzip
  60. Interaktionelle Mikroanalyse der Beziehung
  61. Interkulturelle Sensibilität entwickeln
  62. Interpersonelle Orientierung
  63. Intersubjektive Orientierung
  64. Introspektion
  65. Klarifizieren
  66. Kleinianische Orientierung
  67. Körperinszenierungen erkennen
  68. Körperpsychotherapeutische Interventionen
  69. Komplementäre Identifizierung
  70. Konfrontieren
  71. Konkordante Identifizierung
  72. Kontext bezogenes Intervenieren
  73. Korrigierende emotionale Erfahrung
  74. Kreditierung
  75. Lebenskunst
  76. Lokale Ebene
  77. Mentalisierung fördern
  78. Metaphern verwenden
  79. Metaphernbildung beim Analysanden anregen und fördern
  80. Mitteilen der Gegenübertragung
  81. Neutralität, eine neutrale Erkenntnishaltung einnehmen
  82. Nichtdeutende Mechanismen
  83. Nichtwissen ertragen können
  84. Nonverbale Kommunikation beachten
  85. Oberfläche, von der Oberfläche ausgehen
  86. PAM – Prototypische affektive Mikrosequenzen
  87. Prinzip Antwort
  88. Projektive Identifizierung, Umgang mit der
  89. Prosodie, auf die Prosodie achten
  90. Prozessmonitoring, engmaschige Beobachtung des assoziativen Prozesses
  91. Prozessorientiert vorgehen
  92. Prozessphantasien (des Patienten) berücksichtigen
  93. Rahmen, Umgang mit dem
  94. Regression ermöglichen
  95. Relationale Orientierung
  96. Respekt
  97. Role-responsiveness, Rollenbereitschaft
  98. Selbstanalyse fördern
  99. Selbstenthüllung/-mitteilung
  100. Selbstobjekt-Übertragung
  101. Selbstpsychologische Orientierung
  102. Selbstregulierung/Fremdregulierung, interaktive Regulierung
  103. Sicherheit ermöglichen
  104. Sprechhandeln
  105. Strukturniveau beachten
  106. Suggestion
  107. Supportive Intervention
  108. Szenisches Verstehen
  109. Teilnehmende Beobachtung
  110. Theorien verwenden
  111. Theory of Mind, Entwicklung einer Theory of Mind fördern
  112. Tiefenpsychologisches Intervenieren
  113. Traumaspezifische Techniken
  114. Traumatisierende Übertragung
  115. Traumdeutung entsprechend einem Traumklassifikationsdiagramm
  116. Übertragung – Arbeit in der Übertragung, Arbeit an der Übertragung
  117. Übertragung der Gesamtsituation
  118. Übertragungsdeutung im Hier und Jetzt
  119. Übertragungsdeutung, klassische
  120. Übertragungsfokussierung
  121. Übertragungsneurose, Herstellung einer
  122. Verändern lassen, sich
  123. Widerstand beachten
  124. (Zu-)Hören
  125. Literatur
  126. Personenregister

Vorwort

Die moderne Psychoanalyse weist eine Vielzahl an Erkenntnishaltungen, Methoden und behandlungstechnischen Vorgehensweisen auf. In der Regel kennen Außenstehende aber lediglich das Deuten von unbewussten Beweggründen als genuin psychoanalytische Vorgehensweise. In den hundert Jahren ihres Bestehens hat sich das Repertoire ihrer Behandlungstechnik jedoch sehr verbreitert. Die beherrschende Stellung der nordamerikanischen Ichpsychologie ging mittlerweile zurück, neue psychoanalytische Richtungen, wie Objektbeziehungstheorien, Selbstpsychologie, interpersonelle Psychoanalyse, lacansche und postlacansche Theorien, und vor allem auch ein neues »postmodernes« Paradigma – die intersubjektive Psychoanalyse – breiteten sich in der weltweiten psychoanalytischen Gemeinschaft aus. Auch die Berücksichtigung von Befunden aus der Kleinkind-, Gedächtnis-, Interaktions- und Emotionsforschung hat das interdisziplinäre Wissen um nichtbewusste Kommunikationsvorgänge in den letzten Jahren bereichert. Diese Erkenntnisse erweisen sich als sehr anschlussfähig an Konzepte psychoanalytischer Praktiker, die aufgrund ihres Professionswissens zu ähnlichen Erkenntnissen kommen. Des Weiteren wurden neben der klassischen Psychoanalyse modifizierte Verfahren entwickelt, wie z. B. die analytische Psychotherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Kurz- und Fokaltherapien, die körperorientierte Psychotherapie, die strukturbezogene Psychotherapie, die analytische Traumatherapie, psychodynamische Therapien von Panik- und Borderlinestörungen u. a. m. Diese am Patienten orientierten, jeweils unterschiedlichen Vorgehensweisen und Interventionen scheinen auf den ersten Blick allerdings recht heterogen zu sein. Dennoch liegen allen Verfahren eine oder auch mehrere Erkenntnishaltungen zugrunde, welche die verschiedenen Modi der Beziehung zwischen Therapeut und Patient v. a. hinsichtlich ihrer unbewussten Abläufe kontinuierlich zu reflektieren und soweit es sinnvoll und angebracht ist, zu thematisieren versuchen. Dies macht ihre psychoanalytische Schnittmenge aus.

In diesem Buch werden die wichtigsten psychoanalytischen Erkenntnishaltungen und behandlungstechnischen Vorgehensweisen definiert, unterschiedliche Auffassungen und Handhabungen aufgrund verschiedener Richtungen aufgezeigt sowie etwaige Engführungen, die sich aufgrund der Überbetonung einer zu einseitig verfolgten Richtung ergeben, problematisiert und diskutiert. Die Erläuterung der Gemeinsamkeiten, aber auch der Unterschiede in den einzelnen Auffassungen lässt neue Überlegungen entstehen, wie psychoanalytische Erkenntnishaltungen, Interventionsmodi und explizite sowie implizite Theorien zukünftig besser erforscht werden können.

Der Autor plädiert für ein kritisches Überdenken so mancher, gelegentlich immer noch antreffbarer, konzeptueller und methodischer Engführungen und damit für eine patientengerechtere, prozessorientierte und integrativere psychoanalytische Behandlungseinstellung. Wo es sinnvoll erscheint, werden auch empirische Forschungsmethoden angesprochen. Erläuternde Beispiele dazu sind in der »Einführung in die psychoanalytische Therapie« zu finden (vgl. Mertens 2015).

Herrn Dr. Ruprecht Poensgen danke ich für die Inverlagnahme und die stets gute Zusammenarbeit, Frau Filbrandt für die sorgfältige Betreuung des Manuskripts.

Wolfgang Mertens

München, im Oktober 2013

1          Einige Überlegungen zur Weiterentwicklung psychoanalytischer Erkenntnishaltungen und Interventionen

Obwohl viele Psychoanalytiker heutzutage pluralistisch vorgehen, d. h. aus der Fülle theoretischer Modelle über Entwicklung, Persönlichkeit, Psychogenese von Leidenszuständen, Behandlungstechnik und Krankheit diejenigen Metaphern und Konzepte auswählen, die ihnen für einen bestimmten Patienten passend erscheinen, lassen sich in der Literatur doch immer wieder polarisierende Behauptungen antreffen, bei denen die Überlegenheit des eigenen Ansatzes betont und die Theorien anderer Richtungen zumeist in Schwarz-weiß-Zeichnung abgewertet werden. In dieser Abhandlung wird deshalb dafür plädiert, die Ausschließlichkeit bestimmter polarisierender Behauptungen kritisch zu betrachten und ihre Relativität zu erkennen, denn der psychoanalytische Erfahrungsschatz, der im 20. Jahrhundert entstanden ist, ruht auf den Schultern vieler Praktiker, Theoretiker und Methodiker der Psychoanalyse. Das nimmt zwar einigen Konzepten etwas von ihrer Bedeutsamkeit und verringert das allgegenwärtige Bedürfnis, einzelne Personen idealisieren zu können, trägt aber auch zu einer Verwissenschaftlichung der Psychoanalyse bei, deren Ideen und Hypothesen immer auch in Bezug auf interne und externale Kohärenz und Stimmigkeit überprüft werden müssen. »Schulen«, deren Gründer und Jünger tendieren hingegen eher dazu, sich theoretisch wie institutionell abzuschotten, ihre Hypothesen nicht ausreichend zu explizieren und sich methodisch zu wenig in die Karten schauen zu lassen. Nicht zuletzt auch aus diesem Grund ist es in der Psychoanalyse in den letzten Jahren zu einer nahezu unüberschaubaren Anzahl von Minitheorien gekommen. Nach außen erscheint dies nicht nur wie ein überbordender Theoriekörper, sondern auch wie die Fragmentierung eines einst doch relativ zusammenhängenden Gebäudes. In manchen holzschnittartigen Vereinfachungen der ersten und zweiten Generation von Psychoanalytikern ließen sich Übertragung, Übertragungsneurose, Widerstand sowie Gegenübertragung und Deutung wie ausgestanzte Gebilde beschreiben und handhaben. Nach und nach wurde dann aber der Prozesscharakter dieser Phänomene erkannt und schließlich gehen wir in der Gegenwart von einem komplexen Ineinander von verbalen und nonverbalen Beziehungsfaktoren, Handlungsmustern und Interventionsformen aus. Und im Unterschied zu lehrbuchhaften Handlungsanleitungen muss jeweils für den einzelnen Menschen bzw. für die Therapeut-Patient-Dyade entschieden werden, welche Priorität die verschiedenen Konzepte haben (vgl. Zwiebel 2007).

Wenn es in den zurückliegenden 20 bis 30 Jahren zu einer enormen Erweiterung psychoanalytischer Interventionsformen gekommen ist, dann ist dies in erster Linie natürlich auch den Patienten zu verdanken, die mit ihren unterschiedlichen Leidenszuständen immer wieder etablierte, manchmal auch festgefahrene Vorgehensweisen in Frage gestellt haben. Ein weiterer Grund sind aber sicherlich auch die soziokulturellen Veränderungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts, die zu neuen Auffassungen über eine optimale analytische Vorgehensweise führten, und nicht zuletzt hat auch die Auseinandersetzung mit Theorien und Befunden aus der Kleinkind-, Bindungs-, Emotions-, Gedächtnis- und neurowissenschaftlichen Forschung entweder zu ganz neuen Anregungen, häufig aber auch zu einer präziseren Fassung bereits seit längerer Zeit intuitiv gehandhabter und der Praxis entsprungener Überlegungen und Konzepte geführt.

Eine Bestandsaufnahme lässt so manche bislang als identitätsstiftend betrachtete Interventionsform in den Hintergrund treten, rückt zeitgenössische Auffassungen dementsprechend stärker in den Vordergrund, macht aber auch gemeinsame Schnittmengen zwischen vormals als unvereinbar betrachteten Positionen sichtbar und hilft vielleicht auch, den immer wieder aufflackernden »Schulenstreit« konzeptuell ein wenig zu entschärfen. Denn das dogmatische Insistieren auf der »Richtigkeit« eines einzigen theoretischen Modells lässt gerade die psychoanalytische Erkenntnis von der prinzipiellen Unabgeschlossenheit einzelner Erkenntnisperspektiven unberücksichtigt (Gabbard 2007, Mertens 2010–12).

Denn während noch in der amerikanischen Ichpsychologie die Übertragungsdeutung so etwas wie psychoanalytische Identität verbürgen konnte, gibt es in Zeiten einer pluralistischen Psychoanalyse eine Vielzahl an Vorgehensweisen, die je nach Schulrichtung die Geltung für sich beanspruchen, der jeweils primäre Wirkfaktor zu sein. Glen O. Gabbard und Drew Westen (2003) haben deshalb für eine multimodale Auffassung von psychoanalytischen Wirkfaktoren plädiert, anstelle der früheren normativen »Übertragungsdeutungs-Psychoanalyse«, einer ausschließlich ich- oder selbstpsychologischen Herangehensweise oder der aus heutiger Sicht allzu einfach erscheinenden Zweiteilung »psychoanalytisch« versus »psychotherapeutisch«, wobei Letzteres mit dem Stigma des Zweit- oder gar Drittklassigen behaftet war. Mehr und mehr hat sich auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine psychoanalytische Kur für jeden einzelnen Patienten maßgeschneidert sein sollte im Sinne von »Legt die Lehrbücher oder die Manuale beiseite«. »Multimodal« könnte dann bedeuten, dass z. B. auch supportive Interventionen, die lange Zeit als antianalytisch galten, für eine analytische Psychotherapie bedeutsam werden, weil sie den Bedürfnissen eines Patienten nach Orientierung hinsichtlich seiner äußerst prekären nichtbewussten Interaktionserwartungen zunächst einmal entgegenkommen, statt ihn durch eine zu stark abstinente Haltung – die für einen anderen Patienten oder in einer späteren Phase der Behandlung durchaus angezeigt sein kann – zusätzlich zu verunsichern.

Mit der Einstellung, dass entsprechend einem schulenspezifischen Denken nur bestimmte Vorgehensweisen als genuin psychoanalytisch gelten, stand und steht zum Teil immer noch die Psychoanalyse in der Gefahr, einen sehr engen Indikationsbereich für sich zu beanspruchen bzw. darauf festgelegt zu werden. Patienten, die überwiegend psychosomatisch erkrankt waren, wurden für psychoanalyseuntauglich erklärt; Patienten, denen eine körperbezogene Intervention geholfen hätte, wofür sich die Psychoanalyse aber nicht zuständig erklärte, wurden an Körperpsychotherapeuten verwiesen; für schizoide und narzisstische Patienten mit präödipalen Erkrankungen wie schizoiden oder narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, die Schwierigkeiten mit Reflexion und Symbolisierung hatten, schien nur eine stützende Psychotherapie indiziert; Patienten mit schweren Kindheitstraumatisierungen wurden an eigens dafür ausgebildete Traumaspezialisten weitergereicht; zwischen Einsicht und als suggestiv eingeschätzten Beziehungsfaktoren wurde vereinzelt immer noch eine strikte Trennungslinie gezogen u. a. m. Es schien, als sei der Olymp der Psychoanalyse nur einigen wenigen Patienten vorbehalten. Und in dieser derartigen Engführung der Psychoanalyse wurde lediglich der metakommunikative Diskurs, das Erleben und Thematisieren der Beziehung im Hier und Jetzt als i. e. S. psychoanalytisch eingeschätzt.

Eine metareflexive Kompetenz ist bei nicht wenigen Patienten durch frühe Traumatisierungen und Erfahrungs- sowie Lerndefizite in verschiedenen präverbalen und verbalen Erlebnisbereichen dermaßen eingeschränkt, dass es einer Münchhauseniade gleichkäme, zu glauben, ihnen von Anfang an allein mit verbalen Beziehungsdeutungen zu mehr selbstanalytischer Reflexionsfähigkeit verhelfen zu können. Denn diese Patienten neigen dazu, ihren augenblicklichen Stimmungs- und Affektzustand für die Gesamtheit ihres Erlebens zu halten; das damit einhergehende Pars pro Toto-Denken ist ihnen reflexiv nicht zugänglich. Ebenso überwiegen voneinander getrennt gehaltene affektive Bewertungen des eigenen Selbst und anderer Menschen. Dieser Mangel an Ambivalenztoleranz führt zur Unfähigkeit, intrapsychische Konflikte zwischen Liebe und Abneigung bzw. Hass zu erleben. Projektive und introjektive Vorgänge führen zu Externalisierungen eigener Affektzustände in andere Menschen oder zu einer blitzschnellen Affekt- und Stimmungsansteckung, denen sich der Betreffende hilflos ausgeliefert fühlt. Überhaupt herrschen dysphorische, depressive, verzweifelte und gelegentlich auch Aufmerksamkeit erheischende, grandiose und manische Gefühlszustände und/oder unmentalisierte körperliche Spannungszustände vor. Weil sie häufig kein Gespür für ihre eigene Feindseligkeit haben, die sie in Mimik, Sprache und Handlungen ausstrahlen, erleben sie sich zumeist als Opfer von vermeintlichen oder per projektiver Identifizierung erzwungenen Unverschämtheiten und Zumutungen anderer Menschen. Es fällt ihnen schwer, Affektzustände zu verbalisieren, weshalb sie zum motorischen Agieren, zum Somatisieren und zur unmittelbaren Affektabfuhr neigen. Sprechen wird oft zum Sprechhandeln, von dem etwas Aggressives, Zwingendes und Beherrschenwollendes ausgeht. Ebenso können Erinnerungen nicht als Vorstellungen repräsentiert werden, sondern müssen unmittelbar als Beziehungserfahrung ausgelebt werden. Es kann nicht ausbleiben, dass schwere Beeinträchtigungen der Selbstwertregulierung in Form von starker Selbstüberschätzung, vernichtend empfundener Minderwertigkeit, übermäßiger Idealisierung und massiver Entwertung anderer Menschen ebenfalls das Erleben charakterisieren.

Andere Vorgehensweisen, die sich in einem zeitgenössischen Verständnis jedoch alle als psychoanalytisch begreifen lassen, sind für die Behandlung dieser strukturell beeinträchtigten Menschen notwendig und sie sind in der psychoanalytischen Literatur ausgiebig beschrieben worden (vgl. z. B. Bergmann-Mausfeld 2006, Kernberg et al. 1993, Riesenberg-Malcolm 2003, Robbins 1983, 1988, 1996, Rosenfeld 1981, Rohde-Dachser & Wellendorf 2004, Steiner 1998). Selbst eine psychoedukative Maßnahme kann, wenn sie in ein psychoanalytisches Verständnis der bewussten und unbewusst ablaufenden Beziehung eingebettet bleibt, durchaus als angemessen gelten.

Das Kriterium der Analysierbarkeit war viele Jahre so etwas wie ein Gütesiegel der Psychoanalyse; nur wer über eine ausreichende Introspektionsfähigkeit und psychological mindedness verfügte, kam in den Genuss einer psychoanalytischen Behandlung. Damit wurde aber auch der Kreis der Menschen, für die eine Psychoanalyse überhaupt in Frage kam, sehr stark eingeschränkt. »Times have changed in many ways«: Wilma Bucci (2002) hat – wie viele andere Psychoanalytiker der Gegenwart – darauf aufmerksam gemacht, dass im Fall einer nicht erfolgreichen analytischen Behandlung die Frage nach der Eignung eines Patienten in den zurückliegenden 15 bis 20 Jahren der Einschätzung gewichen ist, ob es nicht vielmehr die analytische Standardtechnik ist, die sich als ungeeignet für diesen Patienten erweist.

Gabbard und Westen (2003) betonen, dass Psychoanalytiker immer mehr erkannt haben, dass Einsicht und Deutung der Übertragung bzw. der Beziehung im Hier und Jetzt kein Entweder-Oder darstellen, wie es z. B. noch vor 20 Jahren gang und gäbe war, sondern synergistisch wirken, wobei bei manchen Patienten in bestimmten Therapieabschnitten mehr die Einsichtsgewinnung, bei anderen wiederum mehr Übertragungsdeutungen Wirksamkeit entfalten. Es gibt keine scharfe Trennungslinie mehr zwischen Deutung und Beziehung (vgl. Pulver 1992, Daser 1999). Diese Gegenüberstellung wird sogar zunehmend als überholt betrachtet. Psychoanalytische Interventionen treten zumeist in gemischter Form auf und sind als Kontinua zu betrachten (vgl. Waldron et al. 2004). Deshalb kann auch in der gegenwärtigen Psychoanalyse ein viel größeres Augenmerk auf beziehungsförderliche Faktoren, ja sogar auf supportive, anerkennende und selbstwertstützende Interventionen gelegt werden, ohne damit in den Verdacht zu geraten, dass dies nichts mehr mit einer psychoanalytischen Vorgehensweise zu tun hat (vgl. z. B. Levy & Inderbitzin 1997, Jiménez 2006). Bereits für Sandler und Sandler (1983) war es wichtig, eine nichtverurteilende Atmosphäre für den Analysanden zu schaffen, wozu sicherlich nicht nur Schweigen und taktvolle Zurückhaltung gehören, in der Annahme, damit den Auftrieb des Unbewussten zu fördern, – aber auch nicht nur temperamentvolle Beziehungsdeutungen – sondern eine auf jeden einzelnen Patienten individuell abgestimmte Vorgehensweise, welche die Interventionen auf die jeweilige Schamanfälligkeit für die implizit regressiven Aspekte des analytischen Settings wohl zu dosieren versteht und den Patienten auch entsprechend seiner jeweiligen Symbolisierungs- und Mentalisierungsfähigkeit an dem Punkt abholt, an dem er sich gerade befindet.

Das klassische sprachphilosophische Paradigma mit seinem semantisch-logischen Bezugssystem und dem Schwerpunkt auf dem Wahrheitsgehalt von Aussagen beachtete nicht die pragmatische Funktion der menschlichen Sprache bzw. ordnete diese völlig der repräsentativen semiotischen Funktion der Zeichen unter. Es berücksichtigte somit nicht, dass die Pragmatik menschlichen Sprechens zur Bedeutung von Aussagen in einem entscheidenden Ausmaß beiträgt und die Intersubjektivität der ausgetauschten Bedeutungen überhaupt erst ermöglicht. Die »pragmatische Wende«, die in der Sprachphilosophie vor allem anhand der Arbeiten von John L. Austin (1962) und John R. Searle (1969) eingeleitet wurde, ermöglicht demgegenüber ein völlig neues Verständnis von Sprache als einer »Sprechhandlung«, das mit vielen psychoanalytischen Überlegungen über Sprache und Sprechen Überschneidungen aufweist. Der verbale Inhalt ist in Therapien meistens nur deshalb wirksam, weil er eine emotionale Erfahrung auslösen kann, und nicht, weil die darin enthaltene inhaltliche Botschaft die hauptsächliche Bedeutung hätte. Allerdings wird die pragmatische Funktion des Sprechens in der Psychoanalyse ergänzt durch die psychodynamisch unbewusste Wirkabsicht und – worauf es in diesem Buch besonders ankommen wird – durch die nichtbewusste Emotionsregulierung, die »unterhalb« der Sprache verläuft.

Wallerstein (1998) spricht hinsichtlich der US-amerikanischen Verhältnisse von einem Paradigmenwechsel, der durch den Wandel von einer tendenziell als elitär und autoritär eingeschätzten Psychoanalyse zu einer intersubjektiven Psychoanalyse zustandegekommen ist, die eine ungleich größere Sensibilität für die Belange eines Patienten aufweise.

Es wäre jedoch mehr als bedauerlich, wenn der Eindruck entstünde, die Psychoanalyse sei aufgrund ihrer Anforderungen an die Reflexionsfähigkeit, Belastbarkeit und psychische Stabilität Relikt einer zu Ende gegangenen Epoche und deshalb nur noch einem kleinen nostalgischem Kreis besonders reflexionsfähiger und introvertierter, vielleicht auch autoritätshöriger und zu wenig für notwendige Wandlungsprozesse aufgeschlossener Personen vorbehalten und zu empfehlen, vielleicht schließlich nur noch solchen Menschen, die dieses Verfahren wegen einer Ausbildung zum Psychoanalytiker erlernen wollen.

Die vorliegende Abhandlung zielt in die entgegengesetzte Richtung: Es lässt sich so viel Psychoanalyse durchführen wie möglich, vorausgesetzt, man zwingt Patienten nicht, sofort in den obersten Stockwerken einzusteigen, sondern lädt sie ins Erdgeschoss ein und bemüht sich dann darum, einen Weg zu finden, wie die Betreffenden mit sich selbst und mit ihrem Analytiker selbstreflexiver umgehen können, weniger gezwungen zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und zum Ausagieren in Krankheitssymptomen und ständigen Konflikten mit anderen Menschen und mit zunehmender Freude daran, immer komplexere Bedeutungszusammenhänge über sich und ihr interpersonelles Handeln zu erfahren und sich gefühlsmäßig zu Eigen machen zu können. Vielleicht kommt nicht jeder im obersten Stockwerk an, aber der Weg dorthin ist allein schon mit vielen fruchtbaren Lernerfahrungen verbunden.

Erkenntnisse der Kleinkindforschung, der Gedächtnis- und Emotionspsychologie geben der Psychoanalyse viele Möglichkeiten an die Hand, ihre bisherigen Konzepte noch besser fundieren zu können, manchmal durchaus auch in Abgrenzung zu interdisziplinären Befunden. So hat z. B. die Auseinandersetzung mit der Bindungsforschung deutlich gemacht, dass diese zwar den von Freud eher als selbstverständlich betrachteten Teil mitmenschlicher Bezogenheit differenziert betrachten kann, aber zu den Phänomenen der psychosexuellen Entwicklung und Konflikte bislang wenig zu sagen hat. In der Auseinandersetzung mit der Bindungsforschung mit ihren z. T. irreführenden Behauptungen über ein angeblich beziehungsloses psychoanalytisches Kleinkind sind deshalb wichtige und weiterführende Überlegungen entstanden (vgl. z. B. Cohen 2007, Diamond 2004, Müller-Pozzi 2008, Peskin 2001, Weinstein 2007, Zepf 2006), die zu einer Differenzierung psychoanalytischer Interventionen führen. Überlegungen, ob es eine bindungsorientierte Psychotherapie geben sollte, die statt auf die Triebentwicklung auf die Bindungsentwicklung fokussieren sollte, erscheinen angesichts irreführender Polarisierungen von bindungsbezogenem Kind versus psychosexuellem Kind somit nicht länger haltbar.

Aber auch die Auseinandersetzung mit den Konzepten und Forschungsbefunden der kognitiven und neurobiologischen Gedächtnisforschung hat deutlich gemacht, dass Psychoanalytiker sich vor der neueren Gedächtnisforschung nicht zu verstecken brauchen (vgl. z. B. Koukkou et al. 1998, Leuzinger-Bohleber et al. 1998a, b; Mancia 2007).

Schon des Längeren wird immer wieder daran erinnert, dass die Praxis nicht deduktiv aus theoretischen Grundannahmen abgeleitet werden kann, sondern ihr eigenes Handlungswissen generiert (vgl. Buchholz 1996, 1999). Statt sich ausschließlich mit normativen und idealtypischen Vorgaben und Theorien zu beschäftigen und deren buchstabengetreue Anwendung in der Praxis zu überwachen, sollte deshalb in viel größerem Ausmaß eine Untersuchung der tatsächlichen therapeutischen Praxis stattfinden. Was tun Psychoanalytiker tatsächlich? Wie denken sie? Welche Theorien und Konzepte unterlegen sie – wenn überhaupt – ihrem Vorgehen? Welche impliziten Theorien lassen sich eruieren (vgl. Bohleber et al. 2013, Tuckett 2007, 2012)? Es kommt hinzu, dass bisherige empirische Untersuchungen nicht den Nachweis erbringen konnten, dass bestimmte idealtypisch postulierte Orientierungen oder Richtungen erfolgreicher sind als andere.

Wenn aber die expliziten, theoretischen Orientierungen letztlich keine Unterschiede bezüglich des Behandlungserfolgs aufweisen und wir auch innerhalb der analytischen Richtungen von einem »Äquivalenz-Paradox« ausgehen müssen – zumindest angesichts der heute zur Verfügung stehenden empirischen Forschungsmethoden und deren Resultate –, dann wird die folgende Thematik immer bedeutsamer: Was macht ein Psychoanalytiker wirklich, wenn er sein Vorgehen als psychoanalytisch ausgibt und auch entsprechend als solches erlebt? Welchen Einfluss haben z. B. seine Alltagspsychologie, sein Weltwissen und seine Lebenskunst auf die Behandlung seines Patienten (vgl. Bohleber 2007, Canestri 2006, Gödde & Zirfas 2006, Will 2008)? Dennoch bleibt auch eine Explikation der verschiedenen Orientierungen und Einstellungen – der sog. expliziten Theorien – wichtig, da sie so etwas wie das Selbstverständnis führender Psychoanalytiker ausmachen. Diese Orientierungen stellen zudem generelle Möglichkeiten der Perspektivierung des behandlungspraktischen Vorgehens dar, mit deren Hilfe man sein eigenes methodisches Vorgehen einzuschätzen lernt. Vielleicht sind sie aber auch nur die oberste bewusstseinsmäßige Schicht eines viel komplexeren Beziehungsgeschehens, das jenseits des derzeitigen theoretischen und methodischen Wissensstandes seine eigene Dynamik entfaltet. Deshalb kann auch eine multimethodische und die verschiedenen Perspektiven (behandelnder Psychoanalytiker, Off-line-Forscher, Patient) triangulierende Psychotherapieforschung sehr hilfreich sein, um in das Dunkel der Komplexität von Veränderungsprozessen etwas mehr Licht zu bringen (z. B. Bucci & Maskit 2007, Bucci, Maskit & Hoffman 2012, Freedman et al. 2009). Diese Überlegung führt zu einem letzten Punkt:

Wenn man untersucht, was Psychotherapeuten verschiedener Therapieschulen jenseits ihrer für sich in Anspruch genommenen Identität als kognitiv behaviorale, interpersonelle, psychodynamische oder psychoanalytische Psychotherapeuten tatsächlich tun, kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen. Es ist nämlich keineswegs so, dass kognitiv behaviorale Therapeuten nur Anweisungen bzw. Hausaufgaben geben oder festgefahrene kognitive Überzeugungen in Frage stellen; genauso wenig fokussieren Psychoanalytiker überwiegend nur auf Phantasien und Gefühle und geben permanent Übertragungsdeutungen im Hier und Jetzt. Vielmehr kommt in Wirklichkeit ein breites Spektrum keineswegs nur therapieschulengebundener Interventionen zum Einsatz.

Dies lässt sich mittlerweile auch mit Methoden der modernen psychoanalytischen/psychodynamischen Psychotherapieforschung belegen. Mit Hilfe des von Jones (2000) entwickelten Psychotherapieprozess-Q-Sets haben Jones, Ablon und Mitarbeiter Prototypen für jedes der oben genannten Verfahren bestimmt. Damit lässt sich für jede durchgeführte Therapiestunde angeben, wie hoch sie mit dem idealen Prototypen der jeweiligen Therapieschule korreliert.

In einer Weg weisenden Untersuchung einer manualisierten psychodynamischen Kurztherapie für Panikstörungen von Barbara Milrod et al. 1997 (die sich in vorausgegangenen Untersuchungen sowohl der verhaltenstherapeutischen Kurztherapie von Panikstörungen als auch der pharmakologischen Behandlung als gleichwertig und in einer Sechs-Monate-Katamnese als überlegen erwies), gingen Ablon, Levy und Katzenstein (2006) folgendermaßen vor: Zunächst bestimmten sie anhand des Psychotherapieprozess-Q-Sets die Korrelationen mit den idealen Prototypen »kognitiv-verhaltenstherapeutisch«, »psychodynamisch« sowie »interpersonell« und stellten fest, dass diese erfolgreiche psychodynamische Kurztherapie hinsichtlich ihrer am häufigsten eingesetzten Interventionen die größte Nähe zum kognitiv-verhaltenstherapeutischen Prototypen aufwies, was natürlich sehr erstaunlich war, da die psychodynamische Kurztherapie von Milrod entwickelt worden war, um dem verhaltenstherapeutischen Verfahren die Stirn zu bieten. Als Ablon et al. jedoch die Korrelationen zwischen Symptomverbesserung und den einzelnen prototypischen Items berechneten, erwiesen sich die Items der interpersonellen Vorgehensweise, dicht gefolgt von den psychodynamischen Items, als am erfolgreichsten.

Dies ist für die Autoren – abgesehen von dem für die Psychoanalyse letztlich doch wieder beruhigenden Ergebnis – dennoch ein Hinweis darauf, dass die Zukunft der Psychotherapie »jenseits der Markennamen« liegen wird. Was man auch immer von einer einzelnen, empirischen Psychotherapiestudie und von dieser Schlussfolgerung halten mag, so wird auf jeden Fall doch deutlich, dass erst auf der Grundlage einer stärkeren Feinauflösung und differenzierteren Bestimmung dessen, was Psychoanalytiker in ihrer Praxis denn nun wirklich tun, die Auseinandersetzungen über die Überlegenheit bestimmter Theorierichtungen und auch Psychotherapieergebnis- und -prozessforschung sinnvoll werden. Dabei wird die Berücksichtigung unbewusster psychodynamischer Prozesse und nichtbewusster Beziehungsregulierungsvorgänge sicherlich zentral bleiben.

In den folgenden Ausführungen über Erkenntnishaltungen, Methoden und Interventionen, die sich auch als Voraussetzung für die Einschätzung von psychoanalytischen Kompetenzen auffassen lassen (vgl. Tuckett 2005, 2012, Will 2006), werden – soweit es mir sinnvoll erscheint – Methoden der empirischen Psychotherapieforschung zumindest skizzenhaft erwähnt. Denn seit geraumer Zeit existieren gehaltvolle methodische Möglichkeiten, psychoanalytische Prozesse mit diversen Verfahren zu untersuchen. Auch wenn der Aufwand immens ist, so sind viele der in dieser Abhandlung aufgeworfenen Fragen letztlich nur mit Hilfe differenzierter Einzelfallstudien über das konkrete analytische Vorgehen weiter zu klären. Die Explikation der theoretischen Voraussetzungen ist hierfür ein wichtiger Schritt. Denn vor einer empirischen Reduktion sollte die Reflexion über die konzeptuellen und methodischen Grundlagen erfolgen. Und diese Studien können darüber hinaus immer wieder deutlich machen, wie stark psychoanalytische Idealvorstellungen von der praktizierten Wirklichkeit abweichen. Dennoch bleibt der Anspruch aufrechterhalten, dass ein Psychotherapeut in der Bearbeitung unbewusster Probleme seiner Patienten letztlich nur dann erfolgreich sein kann, wenn er seinen eigenen bewussten wie unbewussten Beitrag zur jeweiligen Beziehung reflektieren und einigermaßen gut regulieren kann. Insofern ist dieses psychoanalytische Essential die unverzichtbare Richtschnur, an der sich alle Neuerungen messen lassen sollten.

Und vielleicht kann diese Zusammenstellung verschiedener Erkenntnishaltungen, Methoden und Interventionen auch zu einem flexibleren Umgang mit unseren zeitgenössischen Patienten anregen, auch wenn dabei immer wieder eigene Ängste überwunden werden müssen. »Damit Analytiker innerlich für eine Bandbreite von Möglichkeiten verfügbar bleiben, müssen sie sich besonders in Richtungen offen halten, die ihrem theoretischem Vorverständnis und ihren persönlichen Neigungen eher widerstreben. Es ist kein so großes Problem, in einem psychischen Heimspiel gut zu analysieren. Für konsistent gute Ergebnisse muss man aber auch auswärts gut spielen« (Parsons 2013, S. 118).

2          Psychoanalytische Erkenntnishaltungen und Interventionen

A

Adaptives Handeln fördern

Dies stellt eine grundlegende Vorgehensweise bei Patienten mit gering integrierten Ich-Funktionen in bestimmten Erlebens- und Handlungsbereichen dar. Ausgehend von einer interpersonellen Orientierung liegt der Schwerpunkt therapeutischen Handelns hierbei in der Klarifizierung und Konfrontation mit eingeschränkten oder schlecht angepassten (maladaptiven) Reaktionen des Patienten in zwischenmenschlichen Beziehungen, wie z. B. in Partnerschaft und beruflichen Beziehungen. Die Einschränkung des adaptiven Handelns bei einem Patienten hat seinen Ursprung oftmals bereits in pathologischen Passungserfahrungen im präverbalen Bereich der Mutter-Kind-Interaktion und erfordert dann jenseits sprachlicher Interventionen ein affektives Eingestimmtsein auf früh gestörte Beziehungserfahrungen, die offensichtlich immer noch mehr oder weniger wirksam sind ( Entwicklungstheroetische Orientierung, Implizites Beziehungswissen).

Jahrelang hatte »Anpassung« hierzulande die Konnotation von Mitläufertum, Unterwerfung; die Hartmann’sche Ichpsychologie wurde wegen ihrer metapsychologischen Betonung der Anpassung an die Umwelt heftig kritisiert ( Ichpsychologische Orientierung). Aus heutiger Sicht sind aber die erstaunlichen Anpassungsleistungen von kleinen Kindern ein Forschungsschwerpunkt der Säuglings- und Kleinkindforschung. Sie ermöglichen überhaupt erst Prozesse der affektiven Kommunikation, der geteilten Aufmerksamkeit u. a. m. und sind Ausgangspunkt einer wirkmächtigen Selbstentwicklung. Erst missglückte Affektabstimmungsprozesse führen zu maladaptiven interpersonellen Einstellungen und Handlungsmustern.

In der Analytiker-Patient-Beziehung gilt es, permanent auf beeinträchtigte Anpassungsprozesse zu achten – wie z. B. auf ein Reden ohne Punkt und Komma, was nicht mit freier Assoziation des Patienten verwechselt werden darf –, in dem frühe Beeinträchtigungen der Selbst- und Fremdregulierung zum Ausdruck kommen können, Angst vor dem Überwältigtwerden, aber auch ein eher hysterisch phallisch zu begreifendes Imponiergehabe ( Widerstand).

Da beeinträchtigte interpersonelle Handlungsmuster auch stets mit unbewältigten intrapsychischen Konflikten und Traumatisierungen zu tun haben, ist die Trennung von interpersoneller Psychotherapie und Psychoanalyse bzw. analytischer Psychotherapie künstlich. Ein Selbsteinschätzungsinstrument, das maladaptive Interaktionsmuster aus Sicht des Patienten erfassen kann, ist das Inventar zur Identifizierung interpersonaler Probleme (IIP-deutsche Version) von Mardi Horowitz et al. (2000).

Affektive Blindheit überwinden

Ausdruck von Rainer Krause (2002a, b, 2005) für das mehr oder weniger habituelle Unvermögen mancher Psychotherapeuten, die affektiven, unbewussten Beziehungsangebote ihrer Patienten wahrzunehmen ( Implizites Beziehungswissen). Dieser nach Krauses Einschätzung nicht selten antreffbare Befund spricht für die Notwendigkeit einer guten Ausbildung von Psychotherapeuten, denn die Wahrnehmungsfähigkeit für die eigene Gefühlswelt ist nicht nur ein Ziel analytisch orientierter Therapien, sondern auch Basiskompetenz in anderen therapeutischen Verfahren. Eine durchgängige affektive Blindheit dürfte unter analytischen Therapeuten eher selten sein, ist aber dann sicherlich ein Hauptgrund für das Scheitern von Therapien. Häufiger jedoch sind Abstufungen dieser Blindheit: Die affektiven Beziehungsangebote des Patienten können zwar wahrgenommen werden, aber der Therapeut verhält sich wie ein Laie, nämlich reziprok: Auf ein Lächeln (das vom Patienten zu Abwehrzwecken eingesetzt wird) reagiert er auch mit Lächeln, auf Ärger mit Ärger usf. Bei einem weiteren Typus verhält sich der Therapeut ebenfalls reziprok und Affekt angesteckt, findet dies aber im Unterschied zum vorhergehenden Typus unangemessen, kann sich jedoch gegen die Affektansteckung nicht wehren. Nach Krause ist dies die häufigste Form des Scheiterns bei gut ausgebildeten Therapeuten. Allerdings wäre hierbei noch zu unterscheiden, ob dies nur bei bestimmten Patienten auftritt und wie der Therapeut mit der Affektansteckung nachträglich umgeht.

Im gelungenen Fall kann ein Therapeut die affektiven Beziehungsangebote wahrnehmen, die affektive Fremdinduzierung ein Stück weit in sich zulassen, aber auch die abgewehrten Gefühle des Patienten in sich nacherleben, wie z. B. die abgewehrte Angst vor Liebesverlust bei häufig lächelnden, angstneurotischen Patienten, ohne sich dabei aber von dem Lächeln anstecken zu lassen. Hier erst beginnt nach Krause die Kunst der Behandlungstechnik ( Beziehungsregulierung, Projektive Identifizierung, Selbst-/interaktive Regulierung).

Ein sehr aufwändiges Beobachtungsinstrument für affektive Blindheiten unterschiedlicher Ausprägung und Typologie ist das EMFACS (Emotional Facial Action Coding System) von Friesen und Ekman 1984 (siehe auch Krause 1997, 2012).

Eine weniger aufwändige Methode, die sich deshalb auch dafür eignet, die Kluft zwischen Psychotherapieforschung und den Interessen und Bedürfnissen der Praktiker zu verringern, sind computerisierte linguistische Maße für das emotionale Engagement, wie das Wörterbuch der Gewichteten Referentiellen Aktivität, das aus der multiplen Code-Theorie von Wilma Bucci hervorgegangen ist (2012). Das Ausmaß der emotionalen Fundierung in den Sprechaktivitäten nicht nur des Patienten, sondern auch des Therapeuten, das überwiegend nicht-bewusst abläuft, scheint für das Gelingen einer Therapie von herausragender Bedeutung zu sein und könnte auch in Supervisionen eingeschätzt werden, um frühzeitig bei nicht erfolgreichen Therapien entgegensteuern zu können.

Anerkennung

Patienten suchen nicht nur in ihrem Alltag, sondern auch in einer Analyse nach der Bestätigung ihres Soseins. Sie wollen endlich die Erfahrung machen, dass sie, so wie sie sind, anerkannt und bestätigt werden. Obwohl sie sich als krank und leidend präsentieren, als unfähig, selbst zu einer Lösung ihrer Probleme zu kommen, als depressiv, liebesunfähig und mit vielen psychosomatischen Symptomen belastet, wollen sie dennoch vom anderen anerkannt werden. Auch sie sind prinzipiell bereit, den anderen, in dem Fall den Analytiker, anzuerkennen, als Fachmann, als Autorität, als jemand, dem sie sich anvertrauen können.

Es verwundert deshalb nicht, dass die Suche nach Anerkennung, so sehr sie im einzelnen Fall auch durch eine Abwehr und entsprechende Widerstände kaschiert sein mag, für die analytische Behandlung zentral ist. Während manche nichtpsychoanalytischen Therapien es viel leichter mit dem Zulassen von Sympathiebezeugungen nehmen, haben es Psychoanalytiker aufgrund ihres Anspruchs, nicht durch überflüssig erscheinende Bekundungen – welche einen manipulativen Einfluss auf die Übertragung nehmen und somit den sich entfaltenden Beziehungsprozess beeinträchtigen könnten – in dieser Hinsicht auf den ersten Blick schwerer. Und so konnte z. B. in der klassischen Psychoanalyse nordamerikanischer Prägung, in der ein Analytiker oftmals über Stunden hinweg überwiegend schweigend den Erzählungen seiner Patienten zuhörte, diese Anerkennung für manche Patienten fragwürdig bleiben: »Hört er mir überhaupt noch zu oder langweilt er sich nicht fürchterlich?«; »Denkt er sich im Stillen, welch ein schrecklicher Mensch ich bin?«; »Eigentlich könnte ich auch ein Selbstgespräch mit mir führen«; »Noch nicht einmal ein ›Mhm‹ kommt über seine Lippen«. Die Annahme, dass der Auftrieb des Unbewussten am besten funktioniert, wenn der Analytiker das freie Assoziieren seines Patienten nicht durch eigene Äußerungen unterbricht – außer zum Zweck einer Deutung und den dazu gehörigen vorbereitenden Schritten, wie Klarifikation und Konfrontation –, ließ jegliche andere Intervention als unanalytisch erscheinen. Manche Analysen verliefen wegen dieses ichpsychologischen Ideals einer möglichst lang durchgehaltenen sensorischen Deprivation über mehrere Stunden hinweg von Seiten des Analytikers schweigend; aber selbstverständlich war dieser dabei nicht unkonzentriert oder gar abwesend. Und natürlich haben viele dieser früheren Patienten auch gespürt, dass sie trotz Schweigsamkeit anerkannt wurden.

Aber dennoch galten beruhigende, tröstende, spiegelnde, aufmunternde, anerkennende und Mut machende Interventionen nicht als analytisch, sondern nur als »psychotherapeutisch«, und waren allenfalls bei Patienten mit gravierenden ichstrukturellen Defiziten berechtigt. Denn diese psychotherapeutischen Maßnahmen versuchten – so war die Annahme – unter Zuhilfenahme der Beziehung mit ihren suggestiven und beschwörenden Anteilen eine Linderung der Symptome oder gar eine Heilung herbeizuführen, die aber – da die zugrunde liegenden unbewussten Konflikte nicht erkannt, geschweige denn durchgearbeitet worden waren – zwangsläufig oberflächlich und deshalb auch von kurzer Dauer bleiben mussten ( Durcharbeiten).

Die Dichotomisierung von »psychotherapeutisch« als stützend, tröstend, anerkennend, möglicherweise sogar suggestiv, und »psychoanalytisch« als auf den Auftrieb des Unbewussten wartend und dann die Übertragung ansprechend sowie kausal analysierend, findet sich bis zum heutigen Tag in fast allen gängigen Lehrbüchern der Psychoanalyse und offiziellen Verlautbarungen zur Abgrenzung der Verfahren von analytisch, tiefenpsychologisch und supportiv. Gegen diesen eingefleischten psychoanalytischen Lehrsatz half auch nicht der Befund von Psychotherapieforschern, wie z. B. Robert Wallerstein (1989), dass sich in der bekannten Untersuchung an der Menninger Clinic in Topeka in nahezu allen Psychoanalysen nicht nur deutende, sondern ebenso stützende psychotherapeutische Elemente fanden; half auch nicht, dass spätestens mit den Objektbeziehungstheoretikern und den Selbstpsychologen faktisch viele Nichtübertragungsinterventionen (die sog. »mütterliche Technik«, vgl. Cremerius 1979) Einzug in die psychoanalytische Vorgehensweise fanden. Aus der Angst heraus, die Psychoanalyse könnte verwässert oder gar zu einer der unzähligen selbstgestrickten dialogischen Therapien und Beratungstechniken werden, in denen der Therapeut auch Tipps und Ratschläge erteilt und von sich selbst spricht, wurde zumindest in der Theorie konsequent an der klassischen Auffassung festgehalten, auch wenn faktisch oftmals – und zumeist mit einem schlechten Gewissen – davon abgewichen wurde ( Bestätigung kleinster Lernfortschritte, Ressourcen ansprechen und fördern, Selbstmitteilung, Supportive Intervention), weil es nicht dem analytischen Ideal entsprach.

Nun soll allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass Psychoanalytiker zu direkter Belobigung übergehen müssen, um ihre Patienten anzuerkennen. Vielmehr sind Psychoanalytiker nach wie vor davon überzeugt, dass Anerkennung in den einzelnen genuin psychoanalytischen Erkenntnishaltungen und Methoden sehr wohl zum Ausdruck kommt (vgl. Miller 1996, Daser 2003, 2005), sofern diese patientengerecht eingesetzt werden. Und die Aufrechterhaltung einer psychoanalytischen Erkenntnishaltung schließt die Kunst, jenseits des methodischen Bewusstseins dennoch natürlich zu sein, selbstverständlich nicht aus.

Marc Schechter (2007) hat sechs Stufen der Anerkennung benannt, die sich sehr gut mit psychoanalytischen Konzepten verbinden lassen: Auf Stufe 1 vollzieht sich die Anerkennung in Form aktiven (Zu-)Hörens und Beobachtens, was dem Patienten signalisiert, dass seine Person und Erzählungen Aufmerksamkeit und Anerkennung verdienen; auf Stufe 2 gibt der Therapeut anhand von Paraphrasierungen zu verstehen, dass er sich in seinen Patienten einfühlt, und Abgleichungen seiner Mitteilungen kraft stellvertretender Introspektion mit den Empfindungen und Einschätzungen seines Patienten geben diesem das Gefühl, eine angemessene Resonanz in ihm zu finden ( Einfühlung). Auf Stufe 3 geht der Therapeut über den Inhalt des vom Patienten Mitgeteilten hinaus, indem er Verbindungen aufzeigt, die dem Patienten nicht bewusst zu sein brauchen und neben dem verbalen auch nonverbales Verhalten einbezieht. Dem Patienten wird auf diese Weise bewusst, dass er auch für dasjenige Verhalten Anerkennung findet, das ihm selbst bislang unverständlich war ( Deutung). Auf Stufe 4 kontextualisiert der Therapeut Verhalten, Erleben, Gefühle und Einstellungen biographisch, was dazu führt, dass der Patient sich auch in seinem Gewordensein anerkannt fühlt ( Biographisches Kontextualisieren). Psychoanalytisch entspricht diese Stufe genetischen und außeranalytischen Übertragungsdeutungen. Auf Stufe 5 gibt der Therapeut seinem Patienten zu verstehen, dass seine Gefühle und Gedanken nicht nur im Hinblick auf seine Vergangenheit und sein Gewordensein zu verstehen sind, sondern auch in Bezug auf die Gegenwart; dies entspricht dem psychoanalytischen Umgang mit der Übertragungsbeziehung im Hier und Jetzt. Auf Stufe 6 sind Therapeut wie Patient auf eine authentische Weise miteinander im Kontakt, jenseits ihrer üblichen Rollen, aber natürlich dennoch im Halt gebenden analytischen Setting. Der Umgang mit dem Gegenwartsmoment und dem Moment der Begegnung (z. B. Stern et al. 1998), das Spüren, dass der Therapeut wirklich von seinem Patienten berührt ist und nicht nur seine Berufsrolle spielt (Viederman 1991) und das »Vergessenkönnen der Lehrbücher und Manuale« (vgl. Hoffman 1996) lässt sich auf dieser Stufe ansiedeln.

Anti-Regression beachten

Mit dem Ausdruck »Anti-Regression« bezeichnen Joseph und Anne-Marie Sandler eine Ich- und Über-Ich-Funktion, gegen eine allgegenwärtige Versuchung anzukämpfen, zu regredieren. Denn es ist anstrengend, über mehrere Stunden ein hohes Funktionsniveau eines wachen und reflexiven Bewusstseinszustands aufrechtzuerhalten, bei dem logisches Denken, Perspektivenübernahme, political correctness, Überwindung von Vorurteilen und möglichst wenige niedrig strukturierte Abwehrmechanismen dominieren. Es bedeutet einen wesentlich geringeren Aufwand, sich Tagträumen von Wunsch erfüllendem Charakter, einem egozentrischen und grandiosen Denken, eigennützigem Verhalten, einfachen Schwarz-weiß-Urteilen, der Externalisierung von Schuldgefühlen sowie der Evakuierung von unerwünschten Selbstanteilen hinzugeben – mit den Begrifflichkeiten von Matte Blanco (1975) symmetrischem Denken gegenüber dem aristotelischen asymmetrischen Denken den Vorzug zu geben.