Ein verbreitetes Verständnis des Mittelalters sieht das Leben im europäischen Kontinent als ein über tausend Jahre relativ statisches, langweiliges Dasein innerhalb sehr begrenzter Horizonte und Gewohnheiten, wie die damalige bildende Kunst je nach Betrachtungsweise belegen kann, da sie vom Verfall des römischen Reiches bis zur Renaissance in unbeholfenen, unklassischen Formen zu stagnieren scheint. Tatsächlich war diese lange Ära historisch, politisch und gesellschaftlich nicht monolithischer als die darauffolgenden fünfhundert Jahre bis zu unserer Zeit und kulturell nachweislich spannender als manchmal propagiert oder wahrgenommen.
Es war ein Jahrtausend, in dem große Massen und auch zahlreiche Individuen die euroasiatische Welt andauernd durchquerten und für einen ständigen Austausch von Waren, Diebesgut und geistigen Gütern sorgten. In der ersten Hälfte dieses Zeitalters mischten gewaltige Völkerwanderungen die Situation in Europa kräftig auf und löschten die homogene römische Zivilisation weitgehend aus. Händler, Kreuzzügler, Pilger, Prediger, Künstler, Könige und Kaiser mit ihrem wandernden Hof erkundeten aus den verschiedensten Gründen auch entlegenste und nicht ungefährliche Winkel zwischen der Nordsee und dem Mittelmeer, um schließlich zu ihrer Heimat zurückzukehren und neue Erkenntnisse mit dem angestammten Wissen zu vermengen. Die inzwischen von verschiedensten Beiträgen erneuerte und extrem differenziert werdende Kunst dieses Erdteils erlebte vom 11. bis zum 13. Jahrhundert ein erstes Wiederaufflammen klassisch-römischer Stilelemente: Die Romanik beginnt.
Selbst ohne die hier nur angerissenenen, zahlreichen und bisweilen sehr langen Reisen wies jedes Land eine ethnisch und religiös gemischte Lage auf, bei der das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen sich mal friedlicher, mal spannungsreicher gestaltete. Die romanische Kunst entstand aus dem Dialog u.a. zwischen den Ländern, die wir heute Frankreich, Deutschland und Italien nennen und denen, die damals Byzanz, Arabien und Persien hießen, zwischen der christlichen, der jüdischen und der muslimischen Welt. Aus diesen vielfältigen, gleichzeitigen Fermenten entfaltete sich in jeder Region eine einzigartige Bildsprache, die zu einer neuen, interkulturellen Identität beitrug.
Die Romanik ist übrigens die erste mittelalterliche Stilepoche, von der einige Namen von Künstlern bekannt sind, weil anerkennende Zeitgenossen sie schriftlich erwähnt oder die Urheber selbst ihre Werke signiert haben, so dass das sonst als anonym betrachtete Mittelalter spätestens in dieser Phase ein Stück persönlicher und lebendiger erscheinen muss. Oft waren es Bildhauer, die sich durch ihre Unterschrift oder gar ein stilisiertes Selbstbildnis verewigten: Das taten sie auf bescheidene Weise, indem sie sich in anbetender oder büssender Haltung beschrieben, wie es sich in jenem frommen Zeitalter gehörte.
Strategisch gelegen zwischen Morgen- und Abendland nahm die Region am Absatz des italienischen Stiefels im Mittelalter sowohl die westliche als auch die orientalische Kultur auf. So verleibt sich die romanische Kunst, die sich zuerst unter byzantinischer Herrschaft, dann zur Zeit der normannischen und schwäbischen Präsenz in Süditalien entwickelte, Elemente aus beiden Welten ein. Während der Regierung des Staufers Friedrich II. entstanden die berühmtesten romanischen Schlösser und Kathedralen Apuliens: Majestätisch und würdevoll, geometrisch und modern sind sie zeitlose und unerreichte Meisterwerke der Weltkunst.
Unteritalien öffnete sich in jener Zeit einer neuen architektonischen und bildhauerischen Sprache aus Oberitalien und Frankreich. Nach einem „gemütlichen” Übergang, in dem die vertrauten byzantinischen Formen schrittweise verlassen wurden, fand Apulien in der ausgehend von lokalen Materialien im eigenen Dialekt gebeugten Romanik ein neues Selbstverständnis, von dem es wiederum ungern Abstand nahm, so dass im fortgeschrittenen 13. Jahrhundert nur sehr vorsichtige Annäherungen an die inzwischen ganz Europa erobernde Gotik stattfanden. Von heute aus betrachtet vereinen romanische Bauten und Skulpturen aus Apulien westliche und östliche, nordische und südländische Merkmale in sich und prägen das Gesicht der Region noch mehrere Jahrhunderte später.
Die apulische Romanik erzählt von dynamischen, aufregenden Zeiten, in denen sich nicht nur fremde Eroberer rege abwechselten, sondern die einheimische Bevölkerung bei der Steuerung der eigenen Geschicke durchaus aktiv war: Rebellische Feudalherren forderten ausländische Könige mit ihren Burgen heraus, stolze Gemeinden bestanden auf ihre überzähligen Bistümer, einfache Matrosen brachten begehrte Trophäen aus dem Heiligen Land mit und anspruchsvolle Künstler trugen sich mit ihren Meisterwerken in die Historie ein.
Die vorliegende Publikation ist ein Ausflug in die Geschichte der Region, aus der die venezianische Autorin ursprünglich stammt, und hat insofern neben dem gewohnten, kunsthistorischen Ansatz auch einen persönlichen, sentimentalen Charakter. Damit die folgenden Ausführungen zu den einzelnen Städten und Bauten, die sich gelegentlich Abschweifungen in fantasiegefärbte Bilder und Töne gestatten, eine solidere wissenschaftliche Erdung bekommen, werden ihnen zwei sachlichere Kapitel vorangestellt, welche in die später weitgehend vorausgesetzten historischen und geografischen Kenntnisse einführen.
Als „Kind Apuliens”, „Staunen der Welt” und „getaufter Sultan” bekannt wurde Friedrich II. (1194-1250) bereits zu Lebzeiten von Legenden zu seiner Person begleitet. Unter seiner Regentschaft wurden Wissenschaft und Kunst in Süditalien gefördert und blühte an seinem internationalen Hof eine kosmopolitische Kultur. Der unzeitgemäß tolerante und diplomatisch geschickte Friedrich II. setzte seine Macht auch mit symbolischen Gesten durch und löste seine politischen Konflikte bevorzugt ohne Kriege. Sein Name ist der Einzige, den man weltweit mit der Romanik in Apulien verbindet, so dass eine kunstgeschichtliche Epoche zu Recht oder Unrecht mit ihm identifiziert wird. Wer war Friedrich II.?
Am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1194 in Jesi geboren war Friedrich Sohn des römisch-deutschen Königs Heinrich VI., der darüber hinaus Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Sizilien war. Die Mutter des in Italien geborenen Jungen war die Normannin Constance d'Hauteville, die als Costanza di Sicilia die Herrschaft über ihre Heimatinsel mit in die Ehe gebracht hatte. Väterlicherseits war Friedrich Enkel von seinem illustren Namenspaten, Friedrich Barbarossa, und von Beatrix von Burgund, die also wie die Hautevilles von mütterlicher Seite aus dem jetzigen Frankreich stammte. Friedrich II., der in der heutigen Region Marken geboren wurde, wuchs in Sizilien auf und lebte später hauptsächlich in Apulien, hatte aber keinen festen Wohnsitz und reiste mit seinem wandernden Hof innerhalb Unteritaliens oder nordwärts nach Oberitalien und Süddeutschland sowie mit seiner Armee ostwärts ins sog. Heilige Land. Seine offizielle Residenz legte er in Foggia und Apulien war überhaupt, nach seinem politischen und kulturellen Wirken zu urteilen, die Region, der er seine größte Aufmerksamkeit schenkte.
Friedrich wurde in eine denkbar ungünstige Zeit hinein geboren, als die Frage der Erbbarkeit der deutschen Monarchie noch nicht geklärt war, zahlreiche Kandidaten um die Wahl zum König kämpften und die zerstrittenen Dynastien darum bemüht waren, einflussreiche Verbündete wie den Papst zu gewinnen. Erschwerend kam dazu, dass der Prinz zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters erst vier Jahre alt war. Wie in weiser Vorahnung hatten ihn die Eltern bereits mit zwei Jahren zum römisch-deutschen König und zwei Jahre später zum König von Sizilien mit dem Namen von Friedrich I. ernennen lassen. Weitere Titel folgten in genauso fulminantem Tempo: 1211 wurde er mit siebzehn Jahren deutscher König, im Jahr darauf Herzog von Schwaben mit dem Namen Friedrich VII. und noch im Jahr 1212 erfolgte in Mainz die erste dreier Krönungen als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. 1215 wurde diese in Aachen bestätigt und schließlich 1220 in Rom vom Papst besiegelt: Erst mit diesem weiteren Karriereschritt wurde der junge Staufer zu Friedrich II., da er in der Nachfolge von Barbarossa der Zweite dieses Namens war. Damit war die unglaublich lange Serie seiner Krönungen noch nicht endgültig abgeschlossen, da er 1229 in Folge einer wohl eigens arrangierten Ehe noch zum König von Jerusalem wurde.