Magda Trott
 
GUSTELS
GESPENSTERSCHLOSS

 

1
Der Störenfried

Gustel Vollhard schlug mit geballter Faust auf die vor ihr liegende Karte. »Verflixt – diese Erdkunde! – Warum ist die Welt so groß? Wäre sie kleiner, brauchte ich das alles nicht zu wissen! – Ich komme nicht darauf – nein, ich komme nicht darauf! – Schließlich ist es auch einerlei, ob die Donau einen Nebenfluß mehr oder weniger hat. Sie bleibt trotzdem der gewaltige Strom, der viele Länder durchfließt.«

Dann stützte sie das Kinn in die Hand und suchte mit den Augen an der Zimmerdecke.

»Iller, Lech, Isar, Inn, fließen nach der Donau hin – Altmühl und – und – und der Regen, fließen auf der anderen Seite daneben. Aber da ist noch ein drittes Biest.«

In diesem Augenblick schlug die Wanduhr die vierte Stunde. Die Fünfzehnjährige sprang auf und klappte den Atlas mit hörbarem Knall zu. »Vier Uhr, die höchste Zeit – bald werden sie hier sein! Gustel Vollhard, verwandle dich sofort in das stolze Burgfräulein Kunigunde aus dem Geschlechte der Kunisten! Jetzt hast du genug gelernt, jetzt bist du Kunigunde, jetzt darfst du wieder, einer Königin gleich, durch die Gemächer des Schlosses schreiten – schreiten, Kunigunde, nicht rennen! Das darf wohl die Tochter des Schloßverwalters, das darf aber nicht das edle Burgfräulein aus dem Eibenschloß, das viele hundert Jahre in dem Eibengrunde steht, in dem Geschlechter und wieder Geschlechter lebten, in dem edle Ritter kämpften und starben, in dem Minnesänger ihrer Schönen die herrlichsten Liebeslieder sangen.«

Das blondhaarige Mädchen mit den blitzenden braunen Augen hatte während dieser Selbstunterhaltung die Schulbücher zusammengelegt, trat an den Schrank und entnahm ihm eine blaue Papptüte, die aus einem Konfitürengeschäft stammte. Man pflegte derartige Tüten den Kindern an ihrem ersten Schultage zu schenken. Aber Gustel hatte dafür eine andere Verwendung. An die Tüte war eine duftige Gardine genäht; beides bildete den Kopfputz für Kunigunde aus dem Eibenschloß, für das stolze Edelfräulein aus dem Geschlechte der Kunisten.

Nun saß dieser eigenartige Kopfputz auf dem blonden Wuschelhaar, und Gustel machte vor dem hohen Spiegel mehrere tiefe Knickse. Voller Begeisterung drehte sie sich auf dem Schuhabsatz mehrmals um sich selbst und summte eine lustige Melodie.

Gustel führte hier ein herrliches Leben. Sie brauchte nicht zu bedauern, daß ihr Vater, der Rechnungsrat Vollhard, schon vor der Zeit in den Ruhestand getreten war. Ein Autounglück war der Grund der frühzeitigen Amtsenthebung gewesen. Aber Rechnungsrat Vollhard hatte durch Zufall vor zwei Jahren die Verwaltung eines uralten Schlosses erhalten. Das Eibenschloß, ein schöner Barockbau, lag etwa eine Viertelstunde von Seehausen entfernt. Seit einem Jahrzehnt gehörte das Eibenschloß einem Fabrikbesitzer aus dem Rheinland, der aber in all dieser Zeit nur einmal auf seiner Besitzung gewesen war, weil er für den uralten Bau wenig Interesse zeigte. Es lag längst in seiner Absicht, das Eibenschloß wieder zu verkaufen, doch schien sich Herr Frisch niemals energisch um den Verkauf zu bemühen, sonst hätte der herrliche Besitz sicher bald einen Liebhaber gefunden.

Das Schloß hieß von jeher das »Eibenschloß«, weil es von uralten Eiben umstanden war. Man hatte vor vielen Jahren diesem stilechten Barockbau einen Seitenflügel angebaut, in dem Rechnungsrat Vollhard mit seiner Frau und seiner jüngsten Tochter Gustel wohnte. Seine vier anderen Töchter waren in Berlin und Stuttgart in Stellung, die beiden Ältesten bereits verlobt.

Für Rechnungsrat Vollhard war hier nicht gerade viel zu tun. Er mußte die Abgaben pünktlich bezahlen und darauf achten, daß der Besitz nicht verfiel. Es war eine durchaus angenehme und selbständige Stellung, die er innehatte und die außerdem pekuniär recht einträglich war. Kein Wunder, daß sich Gustel als Schloßherrin fühlte, zumal sie oft mit der Mutter durch die Räume ging, um die Zimmer zu lüften und nach dem Rechten zu sehen. In dem phantasievollen Kopfe des jungen Mädchens erstand gar bald eine herrliche Schloßgeschichte. Da sie von der Vorgeschichte des Eibenschlosses nichts wußte, erfand sie mit ihren beiden Freundinnen eine interessante Vergangenheit. Da war das Schloßfräulein Kunigunde aus dem Geschlechte der Kunisten, das einen entfernten Verwandten, den edlen Ritter Kunibert, heiß liebte. Aber Kuno der Finstere, ein alter grimmiger Verwandter, der ebenfalls aus dem Geschlechte der Kunisten stammte, duldete die Liebe des schönen Schloßfräuleins nicht und fuhr stets mit Krach dazwischen.

Wenn sich Gustel dann die Bonbontüte auf den Kopf stülpte, mit der Gardine die Schultern umhüllte, wenn sie heimlich die Zimmerschlüssel der Mutter entwendete und durch die Schloßgemächer schritt, kam sie sich wirklich wie diese arme Kunigunde vor, die im sechzehnten Jahrhundert hier gelebt haben mußte.

Außer der Vollhardschen Familie beherbergte der Seitenflügel des Eibenschlosses noch den alten Gärtner Blimel und dessen Frau. Schloßbesitzer Frisch hatte gewünscht, daß der Garten nicht in Unordnung geriete. So hatte er die Gärtnersleute, die schon lange dort wohnten, im Schloß belassen, ihnen sogar noch einen jungen Gärtner zur Hilfe gegeben. Mit diesem jungen Mann, Peter Herzog, neckte sich Gustel weidlich; sie bekam auch von ihm die schönsten Äpfel und Birnen, die im Schloßgarten reiften.

Nun war es vier Uhr, und Gustel erwartete in Kürze ihre beiden Freundinnen, Maria Berber und Fränze Glane. Es war natürlich, daß sich diese drei jungen Mädchen eng aneinander schlossen. Alle drei hatten bis zur Schule einen ziemlich weiten Weg. Marias Vater war Förster im Forsthaus Eibengrund, das zehn Minuten vom Eibenschloß entfernt lag. Fränzes Vater besaß im Eibengrund eine Schneidemühle, die ebenfalls in zehn Minuten vom Eibenschloß zu erreichen war. So fanden sich die drei Freundinnen häufig, von rechts und links kommend, im Eibenschloß ein, um dort ihre abenteuerlichen Spiele abzuhalten.

Seit einem Monat probten die drei an einem Stück, das die Vergangenheit des alten Schlosses darstellen sollte. Die Försterstochter Maria hatte dieses Stück in Versen niedergeschrieben, und Fränze, das Mädchen mit der tiefen Stimme, studierte die Sache ein. Gustel, von der man behauptete, daß sie eine erstklassige Schauspielerin sei, erhielt die Hauptrolle. Sie spielte die schöne Kunigunde. Maria war der treue Kunibert, während Fränze die Rolle Kunos des Finsteren bekommen hatte. Wenn Fränze mit ihrer tiefen Stimme zwischen die Liebenden fuhr, wenn sie brüllte, daß der große Saal im Eibenschloß nur so dröhnte, jubelten Kunibert und Kunigunde vor Entzücken über so vieles Können.

Ob man dieses Theaterstück einmal vor den Mitschülerinnen oder gar vor einem geladenen Kreise aufführen wollte, stand noch nicht fest. Zunächst machten die Proben den drei Mädchen das denkbar größte Vergnügen; mit Feuereifer waren die Rollen gelernt worden.

Gustel fand, daß ihre Freundin Maria eine fabelhafte Dichterin sei. Was hatte sie für herrliche Verse gemacht! So dramatisch. – Es klang wie Musik, wenn Kunigunde, von Weh durchrüttelt, beim Abschied von Kunibert schluchzte:

»Seele und Leib lösen sich auf in Tränen,
Ich bin nichts als ein einziges Sehnen!«

Gustel verließ das Zimmer. Sie wollte im Vorgarten auf die Freundinnen warten, die in Kürze kommen mußten. Sie trug den Kopfputz des Burgfräuleins.

Vor dem Schloß stand der alte Gärtner Blimel im Gespräch mit Frau Vollhard. Der freundliche Mann schmunzelte, als er Gustel mit dem Kopfputz daherkommen sah. Auch Frau Vollhard lächelte über ihre Tochter.

»Na, Gustel, die Kunigunde wird nicht mehr lange im Eibenschloß ihr Unwesen treiben dürfen.«

»Warum nicht, Mutti?«

»Das Schloß soll verkauft oder verpachtet werden. Der Herr, der es bekommen soll, trifft wahrscheinlich morgen schon hier ein.«

Gustel blieb vor Schreck der Mund offenstehen. »Unser Schloß soll verkauft werden?«

Vater Blimel lachte. »Die schöne Kunigunde muß umziehen.«

»Das wäre ja unerhört!« brauste Gustel auf. »Was fällt dem fremden Mann ein? Wir haben uns hier so behaglich eingenistet, wir wohnen im Eibenschloß. – Mutti, hat der neue Herr schon gekauft?«

»Wir wissen noch nichts Genaues, mein Kind«, besänftigte die Mutter die erregte Tochter. »Es wurde heute telephonisch angefragt. Das Sekretariat des Herrn Frisch teilte uns mit, daß wahrscheinlich morgen zwei Herren ankommen werden, die im Schloß Wohnung nehmen wollen. Ob sie das Schloß kaufen oder nur vorübergehend mieten wollen, war dem Gespräch leider nicht zu entnehmen. – Nicht wahr, Vater Blimel, Sie sind auch nicht recht klug daraus geworden?«

»Nein, Frau Vollhard! Mich hat Herr Frisch auch anrufen lassen. Wir sollen eins der Fremdenzimmer herrichten, sollen dafür sorgen, daß der Herr hier sein Frühstück bekommt und sich behaglich fühlt. Mehr wissen wir nicht.«

»Das ist ja unerhört! – Was will ein Fremder hier? – Wie kommt Herr Frisch dazu, das Eibenschloß zu verkaufen?«

»Aber Gustel, das ist doch sein gutes Recht!«

»Nein, Mutti – er muß uns zuvor benachrichtigen. Er kann uns doch nicht von heute auf morgen hinaussetzen. Behaglich sollen wir es diesem Störenfried machen? – Pah, wir denken gar nicht daran! Vater Blimel, Sie geben ihm das garstigste Zimmer des Hauses. Im Frühling kann er sich leicht Reißen holen, wenn er das feuchteste Zimmer bekommt. Dann kauft er gewiß nicht! – Unser Schloß, unser schönes Eibenschloß! – Hat man jemals solch eine Dreistigkeit gehört?«

»Rede nicht ein so törichtes Zeug, Kind! Das Schloß ist Eigentum des Herrn Frisch, er darf damit machen, was er will.«

»Mein schönes Schloß! – Wir haben uns die Geschichte des Hauses ausgedacht, wir haben den alten Bau erst interessant gemacht. Möge ihm Kuno der Finstere im Traume erscheinen. – Dieser scheußliche Eindringling, dieser Störenfried! – Ach, Mutti, es ist gar nicht auszudenken!«

»Na, na, Gustel, beruhige dich nur«, sagte der alte Gärtner freundlich, »noch brauchst du nicht fort von hier. So schnell kommt ein Verkauf nicht zustande!«

»Seien Sie ehrlich, Vater Blimel! Ist es nicht eine unerhörte Dreistigkeit, in unser Eibenschloß zu kommen, hier wohnen zu wollen, hier zu schlafen, zu frühstücken … und gleich zwei Mann kommen?«

»Nein, wir sollen nur für einen Herrn ein Zimmer zurechtmachen.«

»Wenn einer kommt, ist einer zuviel«, grollte Gustel.

»Man weiß doch noch nicht, ob ihm das Schloß gefällt, ob er es überhaupt kauft. Von heute auf morgen kauft kein Mensch solch alten Besitz. Es kann noch Monate dauern.«

»Es soll überhaupt keiner das Eibenschloß kaufen, hier haben wir uns behaglich eingenistet, hier wohnen wir!«

»Gustel – Gustel!« – Eine dunkle Stimme schallte durch den Garten.

»Das ist Fränze, es ist Kuno der Finstere. – Sie muß mir helfen!«

Dann eilte Gustel davon. Sie mußte der Freundin die Neuigkeit mitteilen.

Kurz darauf stellte sich auch Maria Berber, die Försterstochter, ein. Gustel berichtete, was sie soeben gehört hatte, und alle drei Mädchen waren höchst ergrimmt über den Störenfried, der nach dem Eibenschloß kommen wollte, um alle ihre Pläne zu nichte zu machen.

»Wir haben schon alle Zimmer in Gedanken so herrlich eingerichtet.«

»Wo will er denn wohnen?«

»In einem der Fremdenzimmer.«

»Das eine liegt gerade neben Kunigundes Seufzergemach.«

»Freilich«, rief Gustel erregt, »und gerade gegenüber ist Kunigundes Trauerzimmer.«

»Schade«, warf Fränze ein, »daß ich nicht nebenan meine Schreckenskammer habe. Ich würde gegen die Wand donnern und dann, getreu meiner Rolle, rufen:

Ha, hüte sich ein jeder, der hier lebt!
Kuno der Finstere durch die Räume schwebt!
Kuno der Finstere läßt nicht mit sich spielen,
Ihr sollt es fühlen!«

»Was machen wir nur? Vielleicht kommt der fremde Herr schon morgen.«

»Mein herrliches Dichtwerk«, klagte Maria, »meine ganze Seele habe ich in die Verse gelegt. – Ach, es wäre so schön geworden. Jetzt ist mir alle Lust vergangen.«

»Wir wollen heute nochmals durch die Räume wandern«, schlug Fränze vor, »wir wollen Abschied nehmen von den Schloßgemächern.«

»Ach was, er wird nicht so rasch kaufen«, tröstete Maria. »Er wird sich den alten Kasten besehen, er wird ihm nicht gefallen und dann fährt er wieder fort.«

»Kann schon sein«, pflichtete Fränze ihr bei. »Mein Onkel wollte auch mal ein Haus kaufen. Er hat sich dabei wohl zwanzig Häuser angesehen – also ist die Sache nicht so gefährlich. – Du bist immer hier, Gustel, du mußt also dem Störenfried zu verstehen geben, daß es sich im Eibengrund nicht gut lebt.«

»Daß es geradezu gefährlich ist«, pflichtete Maria bei.

»Ich werde nicht viel mit ihm reden dürfen«, meinte Gustel bekümmert, »das wird alles der Vater abmachen. – Ich könnte mich allerdings hinter Vater Blimel oder hinter Peter stecken.«

»Ich weiß was«, flüsterte Maria. »Der Fremde versteht bestimmt nichts von Bäumen. Er wird kaum wissen, daß alles hier uralte Eiben sind. Wir sagen ihm, Eiben hauchen giftige Dünste aus, Eiben sind gefährliche Bäume, die verursachen Halsschmerzen und Augenbrennen.«

»Wäre es nicht besser«, meinte Fränze, »wenn ich abends als Kuno der Finstere käme und in den hallenden Fluren dreimal ›wehe‹ riefe?«

»Fränze«, Gustel schlug der Freundin so derb auf die Schulter, daß sie leise aufschrie, »Fränze, du hast großartige Gedanken! Wir drei spuken und verjagen den Störenfried.«

»Das machen wir«, sagte Maria. »Wir geistern durch das Eibenschloß. Der alte Bau hat doch seine Geschichte. Im Eibenschloß kann es auch eine weiße Frau geben. Hier ist es Kunigunde. – Der Käufer kommt aus der Stadt. Stadtleute sind ängstlich. Wenn man diesem Herrn von vornherein steckt, daß es im Eibenschloß nicht geheuer ist, daß dort zur mitternächtlichen Stunde Kunibert und Kunigunde umhergeistern …«

»Zur mitternächtlichen Stunde«, warf Fränze ein, »da möchte ich nicht mitmachen. Das Eibenschloß ist ohnehin entsetzlich unheimlich.«

»Unsinn«, rief Gustel entrüstet, »das Eibenschloß ist gar nicht unheimlich! Es wird nur ungemütlich, wenn sich ein Störenfried darin breitmacht. – Wir müssen ihn verjagen! – Seht einmal!« Gustel wickelte sich in die weiße Gardine. »Wenn ich ihm nachts im Vollmondscheine so entgegentrete, wenn ich seufze, wenn ich klage – Kinder, da muß doch jeder anständige Mensch das Gruseln kriegen!«

»Wenn er aber einen Dolch zieht?«

»Hahaha«, lachte Gustel, »er wird doch nicht gleich mit ’nem Dolch umherlaufen, Fränze!«

»Dann vielleicht mit einer Pistole …«

»Dann werde ich ihm erscheinen, wenn er im Bett liegt und keine Waffe bei sich hat.«

»Du bist wohl ganz verdreht, Gustel! Einmal traust du dich nicht um Mitternacht in den Mittelbau zu gehen, zum zweiten kannst du einen fremden Mann nicht im Bett erschrecken.«

»Das geht allerdings nicht«, meinte Gustel nachdenklich. »Trotzdem müssen wir auf Mittel und Wege sinnen, um den Störenfried zu beseitigen!«

»Jammervoll«, klagte Maria, »ich habe gerade meine Rolle so gut gelernt, ich war heute in bester Stimmung.«

»Wenn er uns das Schloß nimmt …«

Maria breitete die Arme weit aus, sie stand da, wie eine Vogelscheuche im Erbsenfeld, steif und unbeweglich:

»O Kunigunde, Kunigunde
Honiggleich fließen die Worte aus deinem Munde!
Mein Herz schlägt wie ein Hammer,
Fühlst du meinen Seelenjammer?
O erbarme, erbarme
Dich und komm in meine Arme!«

»Schön, wunderschön sagst du das«, schwärmte Gustel.

»Aber wie eine Holzpuppe stehst du da«, tadelte Fränze. »Bei solch rührender Stelle muß man mit den Armen zucken und auch im Gesicht muß sich die Seele spiegeln. – Maria, du hast keinen Funken schauspielerisches Talent. Da ist Gustel ganz anders.«

Gustel fühlte sich über das Lob der Freundin recht stolz. Sie begann im Garten umherzutänzeln, schleuderte bald den rechten, dann den linken Arm weit von sich, um sie dann wieder abwechselnd aufs Herz zu pressen und wippte mit dem Oberkörper hin und her. Bald schrie sie, bald flötete sie leise:

»O Sonne, sieh in mein Gemach,
Die Träne, sie rinnt mir vom Auge herab,
Die Blumen verdorren unter meinem Blick,
Doch du kommst nicht zurück!«

»Schändlich, daß wir unser Stück nicht zu Ende spielen können!«

»Ach was, wir tun es trotzdem«, meinte Gustel, »noch ist der Störenfried nicht angekommen. Und wenn er morgen wirklich eintreffen sollte, betrachtet er das Schloß gewiß nur flüchtig und geht bald wieder fort. Er kann unmöglich hier sogleich Wohnung nehmen.«

»Und wenn er es doch tut? Er hat wahrscheinlich eine große Familie, sonst würde er gewiß kein so großes Schloß kaufen wollen. Wäre er kinderlos, begnügte er sich mit einem Siedlungshäuschen.«

»Freilich«, pflichtete Fränze bei, »er ist der Vater einer ganz großen Familie, hat acht bis zwölf Kinder; wahrscheinlich kommen seine alten Eltern auch noch mit, ferner ist noch eine Tante vorhanden, die die Kinder betreut, dazu das nötige Hauspersonal. – Na, das wird aber einen Rummel geben! Diese Menschen brauchen alle Räume, und mit uns ist es Essig!«

»Sie werden in Kuniberts Arbeitszimmer, in Kunigundes Seufzerkammer wohnen, sie werden in dem großen Saale essen, und wir können nicht mehr umhergeistern. – Schrecklich!«

»Aus dem Grunde müssen wir sie eben verjagen«, meinte Gustel. »Wir finden schon Mittel und Wege. – Erst erscheinen wir den Zwei- und Dreijährigen, später den etwas älteren Kindern, schließlich den großen Kindern. Im Eibenschloß wird es nicht mehr recht geheuer sein, sobald die Störenfriede ihren Einzug halten. Außerdem werde ich morgen schon Gelegenheit nehmen, dem Störenfried zu sagen, daß es im Eibenschloß seit Jahrhunderten spukt.«

»Mach es ihm nur recht gruselig!«

»Das will ich schon besorgen. – Und wenn es mir allein nicht gelingt, finde ich sicherlich in meinem treuen Freund Peter, dem jungen Gärtner, eine gute Hilfskraft. Wir gruseln den Störenfried wieder hinaus!«

»Und wir zwei helfen mit!«

So wurde unter den drei jungen Mädchen ein regelrechtes Komplott geschmiedet. Wenn morgen der fremde Herr kam, der das Eibenschloß mieten oder gar kaufen wollte, sollte ihm das Haus gründlich verekelt werden. Natürlich durften die Eltern von diesem Plan nichts wissen. Wahrscheinlich war die Mutter später selbst froh, daß man nicht ausziehen brauchte, denn dem Vater tat die Stille des Eibengrundes und die geringe und gleichmäßige Arbeit gesundheitlich recht gut. Noch immer waren seine Nerven nicht die besten.

»Ich tue alles das für meine Familie«, sagte Gustel und fühlte sich recht beruhigt, als sie am Abend des Tages in ihrem Stübchen überlegte, auf welche Weise es im Eibenschloß umgehen müßte.

2
Er ist da!

Der nächste Tag war ein Mittwoch. Der Nachmittag war schulfrei, und es war daher vereinbart worden, daß sich Maria und Fränze im Eibenschloß einfanden, um den Eindringling zu erwarten. Alle drei lagen auf der Lauer, aber Stunde um Stunde verging, der Abend senkte sich langsam nieder, doch der Erwartete kam nicht.

»Da sieht man wieder einmal, was das für ein unzuverlässiger Mann ist«, triumphierte Gustel. »Erst wird angerufen, daß er eintreffen soll und dann kommt er nicht.«

»Ein solcher Charakter kauft niemals ein altes Schloß«, meinte Maria. »Wir brauchen uns also nicht länger aufzuregen; das Eibenschloß bleibt uns, und unser großartiges Drama kann steigen!«

Beim Abendessen fragte Gustel die Eltern, wo denn der Käufer bliebe.

»Wir wissen nichts Genaues, Gustel, es ist nichts weiter gekommen als ein Anruf aus Köln. Ob der Erwartete ein Käufer, ein Mieter oder nur ein Vermittler ist, wurde nicht gesagt. Das Fremdenzimmer steht bereit, mehr können wir nicht tun.«

»Es wäre schlimm, Vater, wenn er uns hinausschmisse.«

»Das wird natürlich nicht geschehen, mein Kind; müssen wir das Schloß verlassen, so hat eine regelrechte Kündigung zu erfolgen, und wir haben Zeit, uns nach etwas anderem umzusehen.«

»Wie kann ein Mensch überhaupt solch eine alte Bude kaufen!«

»Na, na, Gustel«, mahnte die Mutter, »das Eibenschloß ist ganz bestimmt keine alte Bude. Im Gegenteil! – Ich wundere mich, daß dieses schöne Barockschloß noch keinen Liebhaber gefunden hat.«

»Dem Himmel sei Dank dafür«, erwiderte Gustel.

Vielleicht kam der Fremde überhaupt nicht, hatte sich alles anders überlegt und Gustel könnte nach wie vor als Kunigunde ihr Unwesen treiben.

Am Donnerstagmorgen wurde sie von den Freundinnen sogleich gefragt, ob der Familienvater mit seinen vielen Kindern angekommen sei. Gustel verneinte.

»Ich sage euch, er kommt überhaupt nicht«, lachte Maria. »Ich habe seinen Charakter bereits erkannt. Außerdem ist ihm der Kaufpreis zu teuer.«

»Weißt du denn Näheres?« forschte Gustel.

»Nein – ich weiß gar nichts! Aber ich bilde es mir ein. – Kinder, ich sage euch, er kommt überhaupt nicht!«

Auf Marias Worte konnte man sich immer verlassen, und so gingen die Freundinnen ziemlich beruhigt aus der Schule wieder heim.

Kurz vor dem Schloß begegnete Gustel dem alten Gärtner Blimel.