Titelangaben



Theodor Herzl

  


Der Judenstaat

 

Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage




 







Theodor Herzl

Theodor Herzl (1860-1904) war ein österreichisch-ungarischer Jurist, Schriftsteller und Journalist. Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich veröffentlichte er 1896 sein bekanntestes Werk: „Der Judenstaat“. Darin äußerte er die Überzeugung, dass die Juden in der weltweiten Diaspora eine Nation angehörten und dass wegen sowie zur Abhilfe des verbreiteten Antisemitismus von ihnen ein jüdischer Staat zu gründen sei. Für ihn war die Judenfrage eine nationale Frage, die nur gelöst werden könne, wenn man sie zu einer Weltfrage der weltbestimmenden Nationen mache. Herzl gilt als Hauptbegründer des politischen Zionismus.

 

1897 organisierte er den ersten Zionistischen Weltkongress in Basel und wurde dort zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation gewählt. Im gleichen Jahr veröffentlichte Herzl das Theaterstück „Das neue Ghetto“ und gründete in Wien „Die Welt“ als monatlich erscheinende Informationsschrift der zionistischen Bewegung. 1899 schuf er in London den Jewish Colonial Trust zur Beschaffung und Bereitstellung von Kapital zum Ankauf von Land in Palästina. Vom britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain wurde der Zionistischen Weltorganisation ein Gebiet in Ostafrika angeboten. Das sogenannte Uganda-Programm scheiterte allerdings.

 

1904 erkrankte Herzl an einem Herzleiden. Geschwächt durch eine Lungenentzündung starb er am 3. Juli 1904 in Edlach an der Rax und wurde zunächst auf dem Döblinger Friedhof an der Seite seines Vaters begraben. 1949, kurz nach der Gründung Israels, wurden die Särge von Theodor Herzl und seiner Eltern nach Jerusalem verbracht und auf dem Herzlberg in Jerusalem beigesetzt.



„Nun würde allerdings die staatsbildende Bewegung …“


Nun würde allerdings die staatsbildende Bewegung, die ich vorschlage, den israelitischen Franzosen ebenso wenig schaden wie den „Assimilierten“ anderer Länder. Nützen würde sie ihnen im Gegenteil, nützen! Denn sie wären in ihrer „chromatischen Funktion“, um Darwins Worte zu gebrauchen, nicht mehr gestört. Sie könnten sich ruhig assimilieren, weil der jetzige Antisemitismus für immer zum Stillstand gebracht wäre. Man würde es ihnen auch glauben, dass sie bis ins Innerste ihrer Seele assimiliert sind, wenn der neue Judenstaat mit seinen besseren Einrichtungen zur Wahrheit geworden ist und sie dennoch bleiben, wo sie jetzt wohnen.

 

Was Sie über dieses Buch wissen sollten


Die jüdische Sehnsucht nach einer Rückkehr nach „Zion“ – ein biblisches Wort für Jerusalem – ist Jahrtausende alt. Doch aus einem Gefühl wurde Ende des 19.Jahrhunderts ein politischer Plan: Es war der österreichisch-ungarische Journalist Theodor Herzl, der den Zionismus in ein politisches Projekt verwandelte. Obwohl er Jahrzehnte vor der Verwirklichung dieses Projekts starb, wird Herzl heute als Israels Gründungsvater angesehen. Sein Grab befindet sich auf dem israelischen Nationalfriedhof in Jerusalem und auf seinen Geburtstag wurde Israels Nationalfeiertag gelegt.

 

Noch als junger Mann glaubte Herzl an die Eingliederung der Juden in die europäische Kultur. Allerdings verlor er im Laufe der Zeit diese Überzeugung. Schließlich hielt er eine jüdische Assimilation für sinnlos, um den grassierenden Antisemitismus dauerhaft zu beseitigen. Er entwickelte stattdessen die Idee, dass die europäischen Juden auswandern und einen eigenen, unabhängigen Staat gründen sollten. Genau diese Idee trägt er in seiner Schrift „Der Judenstaat“ vor und schlägt gleichzeitig einen detailliert-praktischen Plan für dessen Gründung vor. Allerdings glaubte Herzl nicht, dass der jüdische Staat zwangsläufig im Nahen Osten gegründet werden müsste. Er betrachtete sowohl Palästina (damals unter osmanischer Herrschaft) als auch Argentinien als Optionen. Später unterstützte er sogar die Idee eines jüdischen Staates in Ostafrika.

 

Herzls Vision eines jüdischen Staates wurde übrigens sowohl von liberalen Juden als auch von orthodoxen Juden kritisiert. Dennoch wurde er 1897 zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation gewählt, die für ein rechtlich gesichertes Territorium für das jüdische Volk eintreten sollte. In dieser Funktion traf sich Herzl später mit dem deutschen Kaiser Wilhelm II. und dem osmanischen Sultan Abdul Hamid II., um ihre Unterstützung für die zionistische Sache zu gewinnen. 1903 sicherte er sich die Unterstützung des britischen Weltreiches für die Errichtung eines jüdischen Staates in Ostafrika. Diese Idee wurde schließlich 1905 zurückgestellt.

 

Wer sich für die moderne Geschichte der Juden und Israels interessiert, kommt an einer Lektüre von Herzls „Der Judenstaat“ nicht vorbei. Wie alle Werke der ofd edition wurde auch dieser Text sorgfältig lektoriert und an die aktuellen Rechtschreibregeln angepasst.



Der Judenstaat

  

Vorrede

 

Der Gedanke, den ich in dieser Schrift ausführe, ist ein uralter. Es ist die Herstellung des Judenstaates.

 

Die Welt widerhallt vom Geschrei gegen die Juden, und das weckt den eingeschlummerten Gedanken auf. Ich erfinde nichts, das wolle man sich vor allem und auf jedem Punkte meiner Ausführungen deutlich vor Augen halten. Ich erfinde weder die geschichtlich gewordenen Zustände der Juden noch die Mittel zur Abhilfe. Die materiellen Bestandteile des Baues, den ich entwerfe, sind in der Wirklichkeit vorhanden, sind mit Händen zu greifen; jeder kann sich davon überzeugen. Will man also diesen Versuch einer Lösung der Judenfrage mit einem Worte kennzeichnen, so darf man ihn nicht „Phantasie“, sondern höchstens „Kombination“ nennen.

 

Gegen die Behandlung als Utopie muss ich meinen Entwurf zuerst verteidigen. Eigentlich bewahre ich damit nur die oberflächlichen Beurteiler vor einer Albernheit, die sie begehen könnten. Es wäre ja keine Schande, eine menschenfreundliche Utopie geschrieben zu haben. Ich könnte mir auch einen leichteren literarischen Erfolg bereiten, wenn ich für Leser, die sich unterhalten wollen, diesen Plan in den gleichsam unverantwortlichen Vortrag eines Romans brächte. Aber das ist keine solche liebenswürdige Utopie, wie man sie vor und nach Thomas Morus so häufig produziert hat. Und ich glaube, die Lage der Juden in verschiedenen Ländern ist arg genug, um einleitende Tändeleien überflüssig zu machen.

 

Um den Unterschied zwischen meiner Konstruktion und einer Utopie erkennbar zu machen, wähle ich ein interessantes Buch der letzten Jahre: „Freiland“ von Dr. Theodor Hertzka. Das ist eine sinnreiche Phantasterei, von einem durchaus modernen, national-ökonomisch gebildeten Geist erdacht, und so lebensfern wie der Äquatorberg, auf dem dieser Traumstaat liegt. „Freiland“ ist eine komplizierte Maschinerie mit vielen Zähnen und Rädern, die sogar ineinander greifen; aber nichts beweist mir, dass sie in Betrieb gesetzt werden könne. Und selbst wenn ich Freilandsvereine entstehen sehe, werde ich es für einen Scherz halten.

 

Hingegen enthält der vorliegende Entwurf die Verwendung einer in der Wirklichkeit vorkommenden Treibkraft. Die Zähne und Räder der zu bauenden Maschine deute ich nur an, in aller Bescheidenheit, unter Hinweis auf meine Unzulänglichkeit und im Vertrauen darauf, dass es besser ausführende Mechaniker geben wird, als ich einer bin.

 

Auf die treibende Kraft kommt es an. Und was ist diese Kraft?


  

Die Judennot

 

Wer wagt zu leugnen, dass diese Kraft vorhanden sei? Wir werden uns damit im Kapitel über die Gründe des Antisemitismus beschäftigen.

 

Man kannte auch die Dampfkraft, die im Teekessel durch Erhitzung des Wassers entstand und den Deckel hob. Diese Teekesselerscheinung sind die zionistischen Versuche und viele andere Formen der Vereinigung „zur Abwehr des Antisemitismus“.

 

Nun sage ich, dass diese Kraft, richtig verwendet, mächtig genug ist, eine große Maschine zu treiben, Menschen und Güter zu befördern. Die Maschine mag aussehen, wie man will.

 

Ich bin im Tiefsten davon überzeugt, dass ich recht habe – ich weiß nicht, ob ich in der Zeit meines Lebens recht behalten werde. Die ersten Männer, welche diese Bewegung beginnen, werden schwerlich ihr ruhmvolles Ende sehen. Aber schon durch das Beginnen kommt ein hoher Stolz und das Glück der innerlichen Freiheit in ihr Dasein.

 

Um den Entwurf vor dem Verdacht der Utopie zu schützen, will ich auch sparsam sein mit malerischen Details der Schilderung. Ich vermute ohnehin, dass gedankenloser Spott durch Zerrbilder des von mir Entworfenen das Ganze zu entkräften versuchen wird. Ein im Übrigen gescheiter Jude, dem ich die Sache vortrug, meinte: „Das als wirklich dargestellte zukünftige Detail ist das Merkmal der Utopie“. Das ist falsch. Jeder Finanzminister rechnet in seinem Staatsvoranschläge mit zukünftigen Ziffern und nicht nur mit solchen, die er aus dem Durchschnitt früherer Jahre oder aus anderen vergangenen und in anderen Staaten vorkommenden Erträgen konstruiert, sondern auch mit präzedenzlosen Ziffern, beispielsweise bei Einführung einer neuen Steuer. Man muss nie ein Budget angesehen haben, um das nicht zu wissen. Wird man darum einen Finanzgesetzentwurf für eine Utopie halten, selbst wenn man weiß, dass der Voranschlag nie ganz genau eingehalten werden kann?

 

Aber ich stelle noch härtere Zumutungen an meine Leser. Ich verlange von den Gebildeten, an die ich mich wende, ein Umdenken und Umlernen mancher alten Vorstellung. Und gerade den besten Juden, die sich um die Lösung der Judenfrage tätig bemüht haben, mute ich zu, ihre bisherigen Versuche als verfehlt und unwirksam anzusehen.

 

In der Darstellung der Idee habe ich mit einer Gefahr zu kämpfen. Wenn ich all die in der Zukunft liegenden Dinge zurückhaltend sage, wird es scheinen, als glaubte ich selbst nicht an ihre Möglichkeit. Wenn ich dagegen die Verwirklichung vorbehaltlos ankündige, wird alles vielleicht wie ein Hirngespinst aussehen.

 

Darum sage ich deutlich und fest: Ich glaube an die Möglichkeit der Ausführung, wenn ich mich auch nicht vermesse, die endgültige Form des Gedankens gefunden zu haben. Der Judenstaat ist ein Weltbedürfnis, folglich wird er entstehen.

 

Von irgendeinem einzelnen betrieben, wäre es eine recht verrückte Geschichte – aber wenn viele Juden gleichzeitig darauf eingehen, ist es vollkommen vernünftig, und die Durchführung bietet keine nennenswerten Schwierigkeiten. Die Idee hängt nur von der Zahl ihrer Anhänger ab. Vielleicht werden unsere aufstrebenden jungen Leute, denen jetzt schon alle Wege versperrt sind und denen sich im Judenstaate die sonnige Aussicht auf Ehre, Freiheit und Glück eröffnet, die Verbreitung der Idee besorgen.

 

Ich selbst halte meine Aufgabe mit der Publikation dieser Schrift für erledigt. Ich werde das Wort nur noch nehmen, wenn Angriffe beachtenswerter Gegner mich dazu zwingen oder wenn es gilt, unvorhergesehene Einwände zu widerlegen, Irrtümer zu beseitigen.

 

Ist das, was ich sage, heute noch nicht richtig? Bin ich meiner Zeit voraus? Sind die Leiden der Juden noch nicht groß genug? Wir werden sehen.

 

Es hängt also von den Juden selbst ab, ob diese Staatsschrift vorläufig nur ein Staatsroman ist. Wenn die jetzige Generation noch zu dumpf ist, wird eine andere, höhere, bessere kommen. Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben, und sie werden ihn verdienen.

  


Einleitung

 

Die volkswirtschaftliche Einsicht von Männern, die mitten im praktischen Leben stehen, ist oft verblüffend gering. Nur so lässt sich erklären, dass auch Juden das Schlagwort der Antisemiten gläubig nachsagen: Wir lebten von den „Wirtsvölkern“, und wenn wir kein „Wirtsvolk“ um uns hätten, müssten wir verhungern. Das ist einer der Punkte, auf denen sich die Schwächung unseres Selbstbewusstseins durch die ungerechten Anklagen zeigt. Wie verhält es sich mit dem „Wirtsvolklichen“ in Wahrheit? Soweit das nicht die alte physiokratische Beschränktheit enthält, beruht es auf dem kindlichen Irrtum, dass im Güterleben immer dieselben Sachen rundlaufen. Nun müssen wir nicht erst, wie Rip van Winkle, aus vieljährigem Schlaf erwachen, um zu erkennen, dass die Welt sich durch das unaufhörliche Entstehen neuer Güter verändert. In unserer vermöge der technischen Fortschritte wunderbaren Zeit sieht auch der geistig Ärmste mit seinen verklebten Augen rings um sich her neue Güter auftauchen. Der Unternehmungsgeist hat sie geschaffen.

 

Die Arbeit ohne Unternehmungsgeist ist die stationäre, alte; ihr typisches Beispiel, die des Ackerbauers, der noch genau dort steht, wo sein Urvater vor tausend Jahren stand. Alle materielle Wohlfahrt ist durch Unternehmer verwirklicht worden. Man schämt sich beinahe, eine solche Banalität niederzuschreiben. Selbst wenn wir also ausschließlich Unternehmer wären – wie die törichte Übertreibung behauptet –, brauchten wir kein „Wirtsvolk“. Wir sind nicht auf einen Rundlauf immer gleicher Güter angewiesen, weil wir neue Güter erzeugen.

 

Wir haben Arbeitssklaven von unerhörter Kraft, deren Erscheinen in der Kulturwelt eine tödliche Konkurrenz für die Handarbeit war: Das sind die Maschinen. Wohl braucht man auch Arbeiter, um die Maschinen in Bewegung zu setzen; aber für diese Erfordernisse haben wir Menschen genug, zu viel. Nur wer die Zustände der Juden in vielen Gegenden des östlichen Europa nicht kennt, wird zu behaupten wagen, dass die Juden zur Handarbeit untauglich oder unwillig seien. Aber ich will in dieser Schrift keine Verteidigung der Juden vornehmen. Sie wäre nutzlos. Alles Vernünftige und sogar alles Sentimentale ist über diesen Gegenstand schon gesagt worden. Nun genügt es nicht, die treffenden Gründe für Verstand und Gemüt zu finden; die Hörer müssen zuerst fähig sein zu begreifen, sonst ist man ein Prediger in der Wüste. Sind aber die Hörer schon so weit, so hoch, dann ist die ganze Predigt überflüssig. Ich glaube an das Aufsteigen der Menschen zu immer höheren Graden der Gesittung; nur halte ich es für ein verzweifelt langsames. Wollten wir warten, bis sich der Sinn auch der mittleren Menschen zur Milde abklärt, die Lessing hatte, als er „Nathan den Weisen“ schrieb, so könnte darüber unser Leben und das unserer Söhne, Enkel, Urenkel vergehen. Da kommt uns der Weltgeist von einer anderen Seite zu Hilfe.

 

Dieses Jahrhundert hat uns eine köstliche Renaissance gebracht durch technische Errungenschaften. Nur für die Menschlichkeit ist dieser märchenhafte Fortschritt noch nicht verwendet. Die Entfernungen der Erdoberfläche sind überwunden, und dennoch quälen wir uns ab mit Leiden der Enge. Schnell und gefahrlos jagen wir jetzt in riesigen Dampfern über früher unbekannte Meere. Sichere Eisenbahnen führen wir hinauf in eine Bergwelt, die man ehemals mit Angst zu Fuß bestieg. Die Vorgänge in Ländern, die noch gar nicht entdeckt waren, als Europa die Juden in Ghettos sperrte, sind uns in der nächsten Stunde bekannt. Darum ist die Judennot ein Anachronismus – und nicht, weil es schon vor hundert Jahren eine Aufklärungszeit gab, die in Wirklichkeit nur für die vornehmsten Geister bestand.

 

Nun meine ich, dass das elektrische Licht durchaus nicht erfunden wurde, damit einige Snobs ihre Prunkgemächer beleuchten, sondern damit wir bei seinem Schein die Fragen der Menschheit lösen. Eine, und nicht die unbedeutendste, ist die Judenfrage. Indem wir sie lösen, handeln wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für viele andere Mühselige und Beladene.

 

Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen. Sie ist ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten. Den großmütigen Willen zeigten sie ja, als sie uns emanzipierten. Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher Anzahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch hinwandernde Juden eingeschleppt. Wir ziehen natürlich dahin, wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht dann die Verfolgung. Das ist wahr, muss wahr bleiben, überall, selbst in hochentwickelten Ländern – Beweis Frankreich –, solange die Judenfrage nicht politisch gelöst ist. Die armen Juden tragen jetzt den Antisemitismus nach England, sie haben ihn schon nach Amerika gebracht.