Magda Trott
 
DIE
PATENKINDER
DER
SEKUNDA

 

1
Waltraut hat eine Idee

Jeden Tag, wenn dem Gymnasium die hundertachtzig Schülerinnen entströmten, war der sonst so stille Ring von lautem Stimmengewirr erfüllt. Das Auseinandergehen des jungen Volkes ging nicht immer rasch vonstatten. Überall sah man eifrig plaudernde Gruppen, in denen die Ereignisse der Schulstunden besprochen wurden.

Für die drei Freundinnen, die einem hohen, altertümlichen Giebelhaus zustrebten, schien der Gesprächsstoff noch lange nicht erschöpft zu sein. Ihre hellen Stimmen klangen erregt durcheinander. Waltraut, die rotblonde Tochter des Rechtsanwalts Eberle, wirbelte die Mappe mehrmals durch die Luft.

»Ich habe den Kram nicht begriffen! Du mußt mir alles nochmals erklären, Anneliese. Wenn doch der scheußliche Mathematikunterricht verboten würde! Es wäre eine Großtat!«

»Ich hab’ es auch nicht begriffen«, stimmte Kati Wangler ein. »Daran ist nur die Fledermaus schuld!«

»Schrei nicht so laut!« lachte Waltraut. »Dort drüben geht er.«

»Pah – er weiß doch, daß er den Spitznamen hat. Also, Anneliese, wann kommst du heute?«

Anneliese Remsner, ein hübsches junges Mädchen mit blitzenden braunen Augen, überlegte ein Weilchen.

»Hast du um fünf Uhr Zeit, Waltraut?«

»Ich habe immer Zeit. – Du hast es gewiß begriffen, Anneliese?«

»Da brauchst du gar nicht erst zu fragen, Waltraut«, sagte Kati Wangler, »Anneliese ist in Mathematik der Stolz der Klasse. Menschenskind, wo hast du nur den Verstand her?«

»Natürlich vom Vater, er hat eine Zeitung, und Zeitungsleute sollen immer hervorragend begabt sein.«

»Na, Waltraut«, entgegnete die Gelobte, »wenn man den Verstand vom Vater hat, brauchst du dich auch nicht zu verstecken. In ganz Radlau gilt Rechtsanwalt Eberle als ein hervorragend tüchtiger Verteidiger. Also abgemacht, ich komme um fünf Uhr zu dir.«

»Ich auch!«

»Natürlich, Kati, komm auch zu mir.«

Die drei Freundinnen drückten sich abschiednehmend die Hand, dann eilten sie nach verschiedenen Richtungen auseinander.

Waltraut Eberle schleuderte mit einer Gebärde des Grimmes die Schulmappe daheim auf einen Ledersessel.

»Wenn die Woche mit einer Mathematikstunde anfängt, ist sie für mich verdorben. Einen einzigen Wunsch hätte ich, daß sich Dr. Fledermaus den Winter über in irgendeinem Keller zum Winterschlaf an den Füßen aufhinge.«

Dr. Fleder, der Mathematiklehrer des Gymnasiums, machte der gesamten Obertertia viel zu schaffen. Er begriff es nicht, daß den meisten jungen Mädchen die Mathematik geradezu verhaßt war. Gerade diejenigen, die ihm am wenigsten folgen konnten, wurden immer wieder von ihm befragt; er war unermüdlich im Erklären, trotzdem gab es noch viele, die in der Mathematik vollkommen versagten. Dazu gehörte auch Waltraut Eberle, die sonst eine recht gute Schülerin war. Gerade, weil sie als intelligent galt, glaubte Dr. Fleder, daß er ihr die Geheimnisse der Mathematik beibringen müsse, doch Waltraut faßte diese liebevolle Fürsorge als Schikane auf und lehnte sich des öfteren gegen den Lehrer auf.

In ihren Augen war Dr. Fleder eine komische Figur. Wenn er in seinem grauen Pelerinenmantel, den er seit vielen Jahren trug, mit großen Schritten durch die Straßen eilte, kicherte manch eine Gymnasiastin hinter ihm her: »Fledermaus – Fledermaus!« Er trug diesen Namen seit Jahren, er vererbte sich von Klasse zu Klasse, und nicht einer war im Gymnasium, der diesen Spitznamen nicht kannte.

Die Schülerinnen der Obertertia hielten fest zusammen. Auch zu den Jungen bestand ein gutes Verhältnis. Galt es einen Streich auszuführen, war man immer einig. Nur eine war darunter, die sich stets abseits hielt, Bianka Cornelius, die verzogene und verwöhnte Tochter des Hotelbesitzers Cornelius. Da sie aber das meiste Taschengeld aller Klassenkameradinnen hatte und oftmals Leckereien in die Schule mitbrachte, stellte sich niemand ihr gegenüber feindlich ein.

Am treuesten hielten Waltraut Eberle, Anneliese Remsner und Kati Wangler zusammen. Äußerlich waren die drei Mädchen ganz verschieden. Waltraut mit ihrem langen, rötlichen Schopf war von großer, stattlicher Figur und wirkte erheblich älter als die zarte, hellblonde Kati Wangler, die Tochter einer Majorswitwe. Anneliese Remsner trug wegen ihrer rundlichen Molligkeit den Spitznamen »der Pfannkuchen«, doch das störte sie wenig. Ihre braunen Augen blitzten so lebensfroh in die Welt hinein, als könne sie durch nichts aus ihrem seelischen Gleichgewicht gerissen werden. Diese Anneliese Remsner mußte in Mathematik bald hier, bald dort aushelfen, und wenn auch Dr. Fleder schon öfters die Mahnung ausgesprochen hatte, man solle sich mit Fragen lieber an ihn als an eine Mitschülerin wenden, wurde doch die braune Anneliese immer wieder in Anspruch genommen, da sie, wie allgemein behauptet wurde, mehr pädagogisches Talent besaß als alle Fledermäuse zusammen.

Durch das alte Haus schrillte der Gong. Es war Essenszeit. Waltraut steckte im Flur die Nase schnuppernd in die Luft und klopfte sich mit der Hand zärtlich auf den Magen.

»Mein Leibgericht! – Heute am Montag? Merkwürdig! Sonst wird bei uns nicht oft gebraten.«

Beim Betreten des Eßzimmers fiel ihr ein, daß heute Fräulein Fulge im Hause sei, das alte Fräulein, das für die weiblichen Familienmitglieder seit Jahren Kleider und Mäntel nähte. War Fräulein Fulge anwesend, so gab es immer Schweinebraten mit Schmorkohl, dafür sorgte die Mutter.

In ihrer stürmischen Art begrüßte Waltraut die Eltern und die Hausschneiderin.

»Es ist geradezu ein Glück, daß Sie hier sind, Fräulein Fulge. Auf all die Aufregungen des heutigen Tages brauche ich ein nahrhaftes Essen. Darum freue ich mich, daß Sie gekommen sind.«

»Aufregungen?« lächelte der Anwalt zu seiner Tochter hinüber. »Was hat es denn schon wieder gegeben?«

»Mathematik!« erwiderte Waltraut mit einem schweren Seufzer.

»Ach so!«

»Dich nennen sie einen tüchtigen Anwalt, Papa. Du hast dich bestimmt nicht mit Mathematik abzuquälen brauchen!«

»Ich war in Mathematik sogar sehr gut.«

»Dann löse mir doch mal folgende Aufgabe: B plus A plus D. Das wird hundertsechzig mal genommen und in die Mehrzahl übersetzt. Was kommt dabei heraus?«

»Das ist eine merkwürdige Aufgabe.«

»Siehst du, Papa, du kannst sie auch nicht lösen. In der nächsten Stunde gibt sie Hans Roller der Fledermaus auf. Er hat es gesagt. Wissen Sie, was herauskommt, Fräulein Fulge?«

»Ich habe niemals Mathematik gehabt, Fräulein Waltraut.«

»Na, Papa, nun rate einmal. B plus A plus D.«

»Weiß nicht.«

»Es ist sehr einfach. – Es ist eine Badeanstalt mit hundertsechzig Zellen. B-A-D mit hundertsechzig Zellen, also eine Badeanstalt.«

»Ja, wenn ihr solche Aufgaben in der Mathematikstunde habt …«

»Heute nachmittag kommt Anneliese.«

»Ich brauche Sie auch heute nachmittag, Fräulein Waltraut, Sie müssen das neue Kleid anprobieren.«

»Wird alles gemacht.«

»Auch ich habe einen Auftrag für dich, Waltraut. Du wirst nach dem Essen einen Korb zu Frau Schnerf in die Wiesenstraße drei bringen. Es handelt sich um eine Kranke mit mehreren kleinen Kindern, die nicht in der Lage ist, sich zu beköstigen. Du nimmst Meta mit und siehst einmal nach dem Rechten.«

»Ich kenne die Frau doch gar nicht, Mama.«

»Das macht nichts, mein Kind, die Not soll groß sein. Auch mir ist Frau Schnerf unbekannt, ich kann aber heute nachmittag nicht fort, sonst ginge ich persönlich hin. Du bist groß genug, um mir diesen Gang abzunehmen.«

»Sie werden eine ordentliche Familie antreffen, Fräulein Waltraut. Mir ist Frau Schnerf persönlich bekannt; ich habe Ihre liebe Mama auf die große Not aufmerksam gemacht, die dort herrscht.«

»Sie haben an jedem Finger eine Familie hängen, die in Not ist, Fräulein Fulge. Ich glaube, Sie gucken in ganz Radlau herum.«

»Ich komme durch meinen Beruf in viele Häuser, Fräulein Waltraut, und höre von mancher Not …«

»Und versuchen immer zu helfen, liebes Fräulein Fulge«, sagte Frau Eberle herzlich. »So mancher kann sich an Ihnen ein Beispiel nehmen.«

»Nicht doch, Frau Eberle, Sie wissen ja, daß es mir unverdient gutgeht. Meine alte Patin sorgt in rührender Weise bis auf den heutigen Tag für mich; so kann ich manchem etwas zukommen lassen. Außerdem hat mir der liebe Gott meine guten Augen und meine gesunden Glieder gelassen. Ich bin daher in der Lage, mir den Lebensunterhalt zu verdienen. Warum sollte ich denen nicht helfen, die nichts als Not und Kummer um sich sehen?«

»Sie haben noch eine Patentante, Fräulein Fulge?« Waltraut lachte übermütig. »Sie sind doch selber schon – na, sagen wir – hoch an Jahren.«

»Meine gute Frau Oberförster Weidenbaum ist kürzlich achtzig Jahre alt geworden, aber ihr Patenkind hat sie nicht vergessen. Wie oft hat sie mich schon eingeladen, ich solle für immer zu ihr kommen. Das tut jedoch nicht gut. Solange ich noch arbeiten kann, mag ich mich nicht auf die faule Bärenhaut legen. Zudem ist bei Frau Weidenbaum noch ein altes Mädchen, das ihr in der Wirtschaft hilft. Ich wäre also überflüssig.«

»Und diese Patentante kümmert sich noch immer um Sie, Fräulein Fulge? – Mama, ich habe doch auch zwei Patentanten?«

»Freilich, Waltraut, doch deine Patentanten haben genug mit sich selbst zu tun.«

»So will ich mich in Erinnerung bringen. – Sag mal, Papa, sind Patentanten gesetzlich verpflichtet, für ihre Patenkinder zu sorgen?«

»Nein, Waltraut.«

Das junge Mädchen wandte sich wieder an die Hausschneiderin. »Ihre Patin tut es also freiwillig – ohne jeden Zwang!«

»In früheren Zeiten war es wohl anders als heute, Fräulein Waltraut, da fühlten sich die Paten verpflichtet, auf ihre Patenkinder ein wachsames Auge zu haben. Heutzutage ist die Patenschaft meistens nur eine Formsache. Und doch wäre es gut, wenn gerade in den schweren Jahren, die wir gegenwärtig durchleben, die Paten ihrer Pflicht eingedenk sein wollten.«

»Papa sagte eben, daß man nicht verpflichtet ist, für sein Patenkind zu sorgen.«

»Gesetzlich allerdings nicht, doch gibt es auch moralische Verpflichtungen, Fräulein Waltraut.«

»Sie haben sicherlich davon gelesen, Fräulein Fulge«, warf der Anwalt ein, »daß man heute moralische Patenschaften einrichtet. Wohlhabende Familien sollen Bedürftige ausfindig machen und ihnen beistehen. Sie sollen sich sozusagen Patenkinder suchen, denen sie Schutz und Hilfe angedeihen lassen.«

»Ich habe es gelesen. In dem Hause, in dem ich wohne, ist bereits etwas Derartiges im Gange, und zwar ist es ein liebes Mädchen, das sich zur Patin eine alte, blinde Dame aussuchte und ihr durch Vorlesen die Zeit verkürzt, Einkäufe für sie macht und sie spazieren fährt.«

Waltraut kniff die Augen zusammen. »Damit stellt man doch die Dinge auf den Kopf! Ein junges Mädchen kann unmöglich die Patin einer alten Dame sein.«

»Ist das nicht ein recht hübscher Gedanke, Fräulein Waltraut?«

»Eigentlich verrückt, aber – ganz nett!«

»Sogar sehr nett«, sagte Rechtsanwalt Eberle ernst. »Unsere Jugend würde manchen Einblick in Verhältnisse erhalten, die ihr noch fremd sind. Es macht nichts, wenn das junge Volk schon frühzeitig und aus eigener Anschauung die große Not der Gegenwart kennenlernt.«

»Hast recht, Papa, ich kann es mir auch schön denken. – Wie wäre es, wenn ich die Patenschaft über die Frau Schnerf übernähme, zu der ich heute nachmittag mit einem Essenskorb gehen soll?«

Die Schneiderin senkte den Kopf ein wenig tiefer, dann sagte sie leise: »Frau Schnerf hat bereits eine Patin.«

»Schade – vielleicht gibt es irgendwo eine andere Familie. Papa, du mußt mir mein Taschengeld erhöhen, denn ohne Geld ist nichts zu machen. Die ganze Patenschaft wäre Unsinn!«

»Es geht auch ohne Geld, Fräulein Waltraut. Jenes junge Mädchen, von dem ich vorhin sprach, ist aus ganz armer Familie. Trotzdem vermag es unendlich viel Wohltaten zu spenden. Ein Stündchen vorlesen, Besorgungen machen für einen, der nicht gehen kann, kostet gar nichts.«

Der junge, frische Mund preßte sich ein wenig zusammen. Soviel Zeit sollte man opfern? War es nicht besser, man kaufte von dem Taschengeld etwas Obst oder eine Tafel Schokolade? Damit machte man auch Freude. Freilich, man hatte in letzter Zeit häufig gehört, daß es zahlreiche Radlauer gab und dazu viele Flüchtlinge aus dem Osten, die sich kümmerlich durchs Leben schlugen. Die Eltern halfen oftmals aus. Ja, eine solche Patenschaft war etwas Neues. Wenn Anneliese und Kati heute nachmittag kamen, wollte sie die Sache einmal zur Sprache bringen.

Interessierter denn je zuvor beobachtete Waltraut von nun an die Hausschneiderin. Das ältliche Fräulein, das unermüdlich nähte, erschien ihr plötzlich in anderem Licht. Anscheinend war Fräulein Fulge selbst die Patin jener bedürftigen Frau. Sie sorgte für sie und hatte heute der Mutter Mitteilung davon gemacht, daß die Kranke kein warmes Mittagessen habe. Zu merkwürdig, daß Fräulein Fulge, die sich selber mühsam ihr Brot verdiente, von diesem Wenigen noch anderen abgab. So etwas konnte sie doch den Wohlhabenden überlassen. Ob die Patentante dem Fräulein Fulge viel Geld gab? Warum arbeitete die Schneiderin nach wie vor so emsig?

»Sie haben anscheinend ein sehr gutes Herz, Fräulein Fulge, Sie kommen gewiß in viele Häuser. Sie müßten den vermögenden Frauen sagen, daß sie sich mehr um die Not der Mitmenschen kümmern sollen. Damit könnte manches Elend aus der Welt kommen.«

»Den anderen zu helfen, ihre Not zu lindern, ist ein uraltes, moralisches Gesetz. Es gibt leider viele, die es nicht befolgen, die die Not nicht sehen wollen. Glauben Sie mir, Fräulein Waltraut, es könnte vieles anders sein, wenn sich jeder ein wenig um seine Mitmenschen kümmern würde.«

»Ist denn die Not unter den Menschen wirklich so groß?«

»Ja, Fräulein Waltraut, sie ist sehr groß. Besonders im Winter frieren und darben viele Tausende.«

»Ich bin der Meinung, daß schnelle Hilfe die beste Hilfe ist. – Warum sollen wir erst bis zum Winter warten? Ich helfe schon vorher und werde die Schlafenden wachrütteln. – Oh, ich habe allerhand Ideen!«

Die Schneiderin schwieg. Sie kannte das temperamentvolle junge Mädchen schon längere Zeit. Gewiß, an Waltraut konnte man sich später eine wertvolle Hilfe erziehen, denn die hatte das Herz auf dem rechten Fleck.

Gleich nach Tisch trat Waltraut mit dem Mädchen den Weg nach der Wiesenstraße an. Die Mutter hatte ein schmackhaftes Gericht für die Kranke und deren Kinder bereitet. Der Topf wurde gut in Tücher gewickelt, damit sein Inhalt warm in das bescheidene Stübchen kam und sogleich verzehrt werden konnte.

Es war nicht das erste Mal, daß Waltraut in die Häuser der Armen geschickt wurde. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als zeige man ihr etwas Neues. Mit herzlichen Worten packte sie die gebrachten Sachen aus und stellte sie auf den Tisch. Als sie hörte, in welch selbstloser Weise sich die Schneiderin alltäglich der kleinen Kinder annahm, erwachte in Waltraut das Verlangen, der kleinen Schar gleichfalls etwas Liebes anzutun.

Wenn ich nur Geld hätte, überlegte sie, könnte ich Spielsachen kaufen. Aber ich habe nichts. Die wenigen Mark, die ich besitze, brauche ich für mich!

Sie blickte sich in dem sauberen Stübchen um und betrachtete auch die Kinder. Sie sahen ordentlich gekleidet aus. Waltraut fand nichts zum Helfen.

»Wenn Sie wollen«, sagte sie unsicher, »kehre ich die Stube aus. Ich glaube jedoch, sie ist sauber.«

»Das hat Fräulein Fulge heute früh schon besorgt. Sie hat auch die Kinder gewaschen und gekämmt. Ich danke Ihnen herzlich, Fräulein. Heute abend kommt Fräulein Fulge wieder her und versorgt die Kleinen.«

In der Tertianerin stieg ein Gefühl der Beschämung auf. Das alte Fräulein, das von früh bis abends an der Nähmaschine saß oder emsig den Faden durch den Stoff zog, fand noch immer Zeit, eine andere Familie zu betreuen.

Wenn sie mit ihren Schulfreundinnen darüber sprach, alle aufrief? – Ja, das war das Richtige!

Es wurde Waltraut plötzlich eng im Zimmer; ziemlich hastig verabschiedete sie sich und ging heim.

Beim Anpassen des Kleides war sie diesmal nicht so ungeduldig wie sonst. Und als Fräulein Fulge vor ihr niederkniete, um die Länge des Rockes abzustecken, lief ihr Waltraut plötzlich davon, holte ein Kissen herbei und sagte:

»Knien Sie mal auf das Kissen, Fräulein Fulge, Ihre alten Knochen vertragen gewiß nicht mehr viel. Oder soll ich auf den Tisch steigen, damit Sie sich nicht zu bücken brauchen?«

Die treue Alte lächelte. »Das bin ich gewöhnt, Fräulein Waltraut. Meine Glieder sind noch nicht steif, und so alt, wie Sie glauben, bin ich auch noch nicht. Noch nicht einmal sechzig.«

Ich muß meinen Freundinnen von dieser Heldin erzählen, ging es Waltraut durch den Sinn. Ich glaube, Fräulein Fulge ist eine ganz Große, eine Erhabene! Wenn ich den ganzen Tag über arbeiten müßte, kümmerte ich mich bestimmt nicht mehr um anderer Leute Kinder.

Pünktlich um fünf Uhr kamen Anneliese Remsner und Kati Wangler.

»Kinder«, empfing sie Waltraut, »ehe wir an die Arbeit gehen, muß ich etwas Merkwürdiges erzählen. – Habt ihr schon von einem jungen Ding gehört, das eine alte Frau zum Patenkind hat? – Nein! – Könnt ihr euch denken, daß unsere Hausschneiderin eine Patentante hat, die für sie sorgt? Dabei geht Fräulein Fulge noch weiterhin arbeiten, räumt frühmorgens anderen Leuten die Stuben auf und bringt am Abend die Kinder zu Bett.«

»Wir haben auch eine Aufwartung, die, ehe sie zu uns kommt, in einer Bank saubermacht«, sagte Kati Wangler.

»So meine ich es nicht. Hört mal zu!«

»Ich denke, wir wollen Mathematikarbeiten machen, Waltraut!«

»Später – erst muß mir die Sache, die mich maßlos beschäftigt, wieder aus dem Kopf. – Ich trage mich mit großen Gedanken. Ich möchte auch Patentante werden, aber – Stuben aufräumen und kleine Kinder zu Bett bringen möchte ich nicht. Trotzdem bin ich bereit, armen Leuten eine Stütze und Beraterin zu sein.«

Mit Interesse lauschten die beiden anderen dem Bericht. Schließlich zog Waltraut die Mitschülerinnen hinüber in die Nähstube.

»Fräulein Fulge, Sie müssen mal mit der Arbeit aufhören und uns noch mehr erzählen. Wir möchten alle drei Patentanten werden, wissen aber nicht, wie wir es anfangen müssen, da jede von uns nur wenig Geld hat. Bitte, erzählen Sie uns von dem Mädel und der blinden Dame.«

Mit einem zärtlichen Blick streifte die Näherin die drei jugendfrischen Mädchengestalten.

»Ich habe mir schon immer gedacht, daß die jungen Mädchen von heute mit gutem Beispiel vorangehen müßten!«

»Das wollen wir auch! Schon in aller Kürze geht es los!«

»Welche Freude würden zum Beispiel alte und kranke Personen haben, wenn ein hilfsbereites junges Mädchen käme und durch fröhliches Geplauder Herz und Seele erfrischte. Da ist manch kränklicher Mensch, der es nicht wagt, allein für ein Stündchen an die frische Luft zu gehen. Wäre jemand zur Begleitung da, wäre das eine Wohltat! Ich kenne eine alte Dame, die ist an den Rollstuhl gefesselt, hat aber das Geld nicht, einen Fahrer zu bezahlen. Auch da könnten kräftige junge Hände zugreifen.«

Die Schneiderin schwieg und widmete sich wieder der Arbeit.

Auch die drei Mädchen sagten nichts. Einer jeden stand plötzlich ein Bild vor Augen, das sie bedrückte. Besonders Waltraut senkte den Kopf tief zu Boden. Wie oft hatte sie abends für die Eltern beim Fleischer Wurst geholt. Da war sie mit einem alten Mann zusammengetroffen, der von ihr mit einem spöttischen Blick gestreift wurde, weil er nur für eine ganz kleine Summe Wurstrestchen verlangte. Jetzt wußte sie mit einem Male, daß der Alte wahrscheinlich nur mit Mühe die wenigen Pfennige aufbrachte. Der Wurstabfall war gewiß sein Mittagessen und sein kärgliches Abendbrot. – Wenn sie die Patenstelle bei dem alten Mann übernahm? Zu einer Leberwurst wöchentlich reichte auch ihr Taschengeld. Sie konnte ihm sogar noch ein Stückchen Kuchen zukommen lassen.

Der Kopf hob sich wieder, die jungen Augen blitzten.

»Ich hab’s, Fräulein Fulge, ich weiß nun, was ich tun werde. Mein Pate ist bereits gefunden!«

»So möchte ich Ihnen noch eines sagen, Fräulein Waltraut: Man darf mit seinen Geschenken nicht aufdringlich sein. Es gibt gar viele, die ihre Armut zu verbergen suchen, die sich scheu zurückziehen, wenn sie merken, daß einer kommt, um wohlzutun. Auch das Geben muß gelernt werden. Vor allem braucht es liebevolle Worte, die jede Spende begleiten. Mit warmen Worten verschafft man sich am schnellsten Eingang in die Herzen der körperlich und seelisch Leidenden.«

»Das will ich schon besorgen! – Einfach eine glänzende Idee!«

»Was hast du vor, Waltraut?«

»Ihr müßt euch auch jemanden suchen, für den ihr die Patenschaft übernehmt! – Das ist ein glorreicher Einfall. Wir müssen vor allem Bianka Cornelius gewinnen, sie hat viel Geld! Sie muß die Patentante von einer Familie mit vielen Kindern werden, die nichts zu essen haben. – Ah, fein! – Schon morgen verkünden wir in der Tertia, daß es eigentlich unsere selbstverständliche Pflicht und Schuldigkeit ist, die Augen aufzusperren und Wegweiser für alle die zu sein, die die Not anderer nicht sehen wollen. Kinder, wir werden die Leute schon aufmöbeln! In ganz Radlau soll es nur noch Patentanten. Patenonkel und Patenkinder geben!«

Fräulein Fulge drohte lächelnd mit dem Finger, auf dem der Fingerhut saß.

»Nicht gar so schnell reiten, Fräulein Waltraut! Nichts überstürzen. Ich glaube, es ist am besten, wenn Sie sich bei der Behörde erkundigen, wo Sie am besten helfen können.«

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. »Das brauchen wir nicht, wir finden, eine jede ganz allein, das Geeignete heraus. Ich habe schon meinen Paten, und ihr anderen werdet euch umsehen. In zwei bis drei Tagen wissen wir, wo wir anfangen.«

»Ich weiß auch jemand«, meinte Kati.

»Und ich will die Zeitungsfrauen fragen, die unser Blatt austragen. Ich glaube, die eine hat auch nicht viel.«

»Wenn du ihr beim Zeitungsaustragen hilfst, Anneliese, ist das auch etwas Großes.«

Anneliese Remsner zog die Nase kraus.

»Frühmorgens, vor der Schule? Da müßte ich ja entsetzlich zeitig aufstehen. – Ich werde schon etwas finden, das mir besser liegt.«

Ein leises, klingendes Lachen kam aus dem Munde der Schneiderin.

»Lassen Sie die Zeitungsfrau nur ruhig allein die Zeitungen austragen, kleines Fräulein, das ist besser und richtiger. Ich glaube, in diesem Falle wäre es nicht einmal die gewünschte Hilfe. Zeit werden Sie freilich opfern müssen! Sie werden überhaupt, wenn Sie es wirklich ernst mit einer Patenschaft meinen, so manche kleine Last auf sich nehmen müssen. Liebesdienste bringen stets Unbequemlichkeiten mit sich, aber gerade das beglückt auf die Dauer. Wenn man nur hilft, ohne daß es das eigene Ich merkt, macht es nicht froh. Es gibt da ein schönes Wort, das heißt opfern. Dahin kommen Sie auch, wenn Sie es mit Ihrer Patenschaft wirklich ernst nehmen.«

Die Unterredung mit der Hausschneiderin wirkte in den drei Mädchen noch lange nach. Vergeblich bemühte sich Anneliese am heutigen Tage, den beiden Freundinnen die Mathematikaufgaben zu erklären. Waltraut hörte nur mit halben Ohren hin, ihre Gedanken galten immer wieder dem alten Mann, der für einige Pfennige Wurstecken kaufte, um damit den Magen zu füllen.

»Du gibst ja nicht acht, Waltraut!«

»Laß nur, Anneliese! Mag sich die Fledermaus mit mir herumärgern, heute habe ich für andere Dinge Interesse als für die dummen Zahlen. Wann kommen wir wieder zusammen? Wann haben wir unsere Patenkinder?«

»Am Donnerstag.«

»Und Bianka Cornelius muß dabeisein. Sie muß Geld hergeben, falls wir was brauchen. Ich muß mal nachsehen, ob mein alter Mann Löcher in den Schuhen hat. Dann muß Papa ein Paar Stiefel herausrücken.«

»Was ist das für ein Mann?«

»Ach, Kati, der muß entsetzlich große Not leiden. Groß und dünn ist er, wahrscheinlich war er früher dick und fett. Nun besteht sein Mittagessen aus Wurstzipfeln, die vielleicht bei ihm liegen, bis sie nicht mehr frisch sind. Schließlich holt er sich noch eine Fleischvergiftung. Wer bezahlt dann den Arzt? Toni muß auch unserer Patenvereinigung beitreten, ihr Vater gibt uns dann die Medikamente für die Kranken.«

»Wie heißt denn dein hungernder Mann?«

»Das weiß ich noch nicht, aber ich will es erkunden.«

»Sieht er sehr zerlumpt aus? Vielleicht kann ich von meinem Bruder einen Anzug bekommen, Waltraut.«

»Warte nur ab, Anneliese. So genau habe ich mir den Mann noch nicht angesehen. Vielleicht treffe ich ihn bald wieder beim Fleischer.«

»Wir kommen mit.«

»So will ich Mama fragen, ob ich etwas holen darf.«

Zu dritt ging man eine halbe Stunde später zum Fleischer. Obwohl man alle Kunden zuvor abfertigen ließ, km der Ersehnte nicht.