David Kessler
15 Stunden
David Kessler
15 Stunden
Buch
15 Stunden hat Clayton Burrow noch zu leben, dann wird sein Todesurteil vollstreckt. Auch wenn Burrow stets seine Unschuld beteuerte, wurde über ihn ein eindeutiges Urteil gesprochen: In den Augen der Jury bestand kein Zweifel daran, dass er seine ehemalige Klassenkameradin Dorothy Olsen, die er schon zu Schulzeiten sadistisch drangsalierte, brutal vergewaltigt und ermordet hat. So hat Burrows Anwalt Alex Sedaka auch kaum Hoffnung auf Erfolg, als er beim Gouverneur von Kalifornien um Gnade für seinen Mandanten ersucht. Umso größer seine Verwunderung, als dem Gesuch stattgegeben wird – unter einer Bedingung: Burrow soll seine Schuld eingestehen und verraten, wo er die Leiche der jungen Frau vergraben hat. – Doch Burrow schlägt das Angebot aus und beharrt selbst mit dem sicheren Tod vor Augen weiter auf seiner Unschuld. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass sein vermeintliches Opfer gar nicht tot ist, sondern unerkannt einen perfiden Rachefeldzug gegen ihn ausführt. Angesichts dieser dramatischen Wendung weiß Alex Sedaka bald nicht mehr, was er glauben soll: Spielt Burrow ein letztes perverses Spiel mit ihm, oder soll in wenigen Stunden tatsächlich ein Unschuldiger hingerichtet werden?
Autor
Mit fünfzehn Jahren brach David Kessler die Schule ab und schrieb ein Drehbuch für einen Fernsehfilm, der zwar nie produziert wurde, Kessler aber die Augen dafür öffnete, dass seine Berufung im Schreiben liegt. Im Laufe seiner schriftstellerischen Karriere hat er in England und Amerika bereits mehrere Thriller veröffentlicht und in einem Buch sogar den Täter in einem tatsächlichen Mordfall benannt, bevor dieser 9 Jahre später aufgrund eines DNA-Tests der Tat überführt werden konnte.
Mit seiner Thrillerserie um den in San Francisco lebenden Anwalt Alex Sedaka erscheint David Kessler erstmals auf Deutsch.
David Kessler
15 Stunden
Thriller
Aus dem Englischen
von Verena Kilchling
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Mercy« bei Avon,
a division of HarperCollinsPublishers.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2012
Copyright © der Originalausgabe 2009 by David Kessler Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Redaktion: Alexander Groß
An · Herstellung: Str.
Satz: IBV Satz- u. Datentechnik GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-06763-2
www.goldmann-verlag.de
Für Mai, Shir und Romi
Anmerkung des Autors
Die Tageszeiten am Anfang jedes Kapitels (normalerweise in Pazifischer Sommerzeit angegeben) beziehen sich auf den Beginn der Ereignisse im jeweiligen Kapitel. Die einzelnen Kapitel können sich also mit nachfolgenden Kapiteln überschneiden. Dies sollte der Leser zum besseren Verständnis der Abläufe berücksichtigen.
09.30 Uhr Pazifische Sommerzeit
(14. August 2007)
Es fällt schwer stillzusitzen, wenn man einen Mandanten hat, dessen Todesurteil in fünfzehn Stunden vollstreckt werden soll.
Alex Sedaka verspürte das altvertraute Verlangen, aufzuspringen und wie ein Löwe im Käfig hin und her zu laufen. Aber er wusste, dass das nicht ging. Es wäre würdelos gewesen – und dem Büro des Gouverneurs wohl kaum angemessen. Also saß er stattdessen angespannt in dem braunen, lederbezogenen Mahagonisessel, während das Leben seines Mandanten am seidenen Faden hing.
»Ich weiß, dass er einen fairen Prozess hatte, Sir. Deshalb kann ich auch kein Gericht dazu bewegen, seinen Fall wieder aufzunehmen. Aber Gerechtigkeit ist kein Spiel, sondern die Suche nach der Wahrheit – zumindest sollte es so sein.«
Alex spürte misstrauische Blicke auf sich ruhen, und seine Schultern krümmten sich unter der Last der Aufgabe, die ihm bevorstand. Seit er die fünfzig überschritten hatte, war er bezüglich seines Aussehens ein wenig unsicher geworden, obwohl er sich mit Tennis und Klettern schlank und fit hielt und immer braungebrannt war.
Aber es waren nicht die Jahre, die ihn hatten altern lassen, es war seine Arbeit. Drei Jahrzehnte beruflicher Zynismus, in denen er den letzten Abschaum verteidigt hatte, hatten den jugendlichen Charme aus dem Gesicht vertrieben, in das sich Melody einst verliebt hatte – oder ihm Charakter verliehen, wie sie zu sagen pflegte. Noch an diesem Morgen hatte er mit einer Mischung aus Freude und Schmerz auf sein Hochzeitsfoto gestarrt und war schockiert gewesen, wie sehr er sich verändert hatte.
Aber jetzt war er nicht wegen seines Aussehens unsicher, sondern weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Schon oft hatte die Freiheit eines Menschen in seiner Hand gelegen, aber dies war das erste Mal, dass man ihm das Leben eines Menschen anvertraut hatte.
Prompt attackierte ihn die Stimme des Gouverneurs erneut mit leisem Zynismus: »Seit wann gehört es zu meinen Pflichten, die Gerichte zu kritisieren?«
Im Hinterkopf hatte Alex eine Frage, die ihm keine Ruhe ließ: Bitte ich um Gerechtigkeit oder um Gnade? Lege ich die Betonung auf die fortbestehenden Zweifel, oder stelle ich die Ethik einer »Auge um Auge«-Justiz generell in Frage? Er musste sich sofort entscheiden.
»Nein, Sir, natürlich ist es nicht Ihre Aufgabe, die Gerichte zu kritisieren. Aber manchmal schlüpft ein ungewöhnlicher Fall eben durchs System. Und Sie haben die Macht, daran etwas zu ändern.« Er suchte das Gesicht des Gouverneurs nach einer Reaktion auf diese kriecherische Schmeichelei ab, aber es blieb neutral. Alex nahm es als grünes Licht und fuhr fort: »Die Gerichte sind in ein starres Regelkorsett geschnürt, aber manchmal stößt das Vorschriftenbuch eben an seine Grenzen. Jeder Fall ist anders, und dieser Fall ist ein klassisches Beispiel. Der Prozess fand in einer Atmosphäre der Wut und der Rachegefühle statt. All die Vergleiche mit Carrie …«
»Carrie?«
»Das Buch von Stephen King … über das Mädchen mit den übernatürlichen Kräften, das in der Highschool von seinen Mitschülern tyrannisiert wird.«
»Ach ja«, sagte der Gouverneur und unterdrückte ein Lächeln. »Ich hab den Film gesehen.«
Alex krümmte sich innerlich. »Wie dem auch sei … Die Presse zog jedenfalls Vergleiche und gab einfach keine Ruhe.«
Der Gouverneur kratzte sich am Kopf und machte einen irritierten Eindruck. Er hatte Alex‘ schriftliches Gnadengesuch vor einigen Tagen abgelehnt, sich aber zu diesem persönlichen Treffen in letzter Minute in seinem Büro in San Francisco bereit erklärt, das sie wegen seiner Nähe zu San Quentin anderen möglichen Treffpunkten wie L.A., San Diego, Fresno oder Riverside vorgezogen hatten.
»Denken Sie nicht, ich wollte mich über Sie lustig machen – das ist ganz sicher nicht meine Absicht –, aber jetzt widersprechen Sie sich. Sie sagten doch, Burrow hätte einen fairen Prozess gehabt.«
»Ja, Sir. Im Gerichtssaal. Aber was ist mit dem Medienzirkus, der dem Prozess vorausging? Das hat die Atmosphäre vollkommen vergiftet. Als der Prozess eröffnet wurde, hatten sich die Leute bereits ihre Meinung gebildet. Das Volk lechzte geradezu nach Blut. Aber Rache ist nicht dasselbe wie Gerechtigkeit.«
Er hatte den Begriff »Volk« mit Absicht benutzt, um der Vorliebe des Gouverneurs für populistische Phrasen entgegenzukommen.
Aber der Gouverneur war ihm bereits einen Schritt voraus: »Sprechen wir hier über Gerechtigkeit für den Mörder oder Gerechtigkeit für das Opfer?«
Während der letzten Tage hatte Alex in seinem Büro verschiedene Argumentationsentwürfe getestet, und Juanita und Nat hatten den Ball in Form von Gegenargumenten zurückgegeben, mit denen er unweigerlich konfrontiert werden würde. Je mehr er geübt hatte, desto banaler war ihm alles vorgekommen. Die Debatte war versteinert, er hatte ihr nichts Neues hinzuzufügen. Alles, was er zu bieten hatte, war eine langweilige Wiederholung.
Doch es gab auch einige Aspekte, die für ihn sprachen. Am wichtigsten war vielleicht die Tatsache, dass der amtierende Gouverneur – Charles Dusenbury – selbst ein Gegner der Todesstrafe war. Nicht viele Politiker hätten ihren Kopf riskiert, indem sie sich offiziell zu einer derart unpopulären politischen Ansicht bekannt hätten. »Chuck« Dusenbury war einer der wenigen. Die Meinung der Bevölkerung zur Todesstrafe war zwar durchaus geteilt, aber im Gegensatz zu den Gegnern neigten die Befürworter dazu, ihre Wahlentscheidung nur nach diesem Thema auszurichten.
Das kümmerte Dusenbury wenig. Er stand kurz vor der Pensionierung und saß nur noch seine letzte Amtsperiode ab. Öffentlich vertrat er den Standpunkt, dass er nicht vorhabe, seine politische Laufbahn zu verlängern, weder auf bundesstaatlicher noch auf Bundesebene, sondern sich in eine Blockhütte am See zurückzuziehen gedenke, wo er seine besten Jahre mit Golfspielen und Angeln verbringen wolle. Es konnte jedoch durchaus sein, dass er dabei die stark verbreitete Praxis im Auge hatte, am Heimatort plötzlich in politischen Aktionismus zu verfallen. Manche Leute – Dusenbury nannte sie die »Medienzyniker« – argwöhnten, er habe immer noch Ambitionen und sei auf größere Fische aus, als man sie in einem See angeln könne. Bei Dusenbury konnte man nie wissen.
Alex holte tief Luft und probierte eine andere Taktik: »Da gibt es noch etwas, was ich Sie dringend bitte zu bedenken. Es bestehen immer noch berechtigte Zweifel an seiner Schuld.«
»Sie beziehen sich auf die Tatsache, dass die Leiche nie gefunden wurde?«
»So ist es.«
»Warum haben Sie dann nicht vor Gericht mit dem Fehlen des Corpus Delicti argumentiert?« Der Gouverneur nahm ihn auf den Arm – sein Lächeln verriet es.
»Corpus Delicti bedeutet ›Gegenstand des Verbrechens‹, Sir, nicht ›Leichnam des Opfers‹. Das wissen Sie genau.«
»Natürlich«, erwiderte der Gouverneur scharf. »Darum frage ich mich auch, warum Sie mir mit diesem Schwachsinn kommen.«
Die plötzliche Wut des Gouverneurs ließ Alex zusammenzucken, aber er bekam seine fünf Sinne und seine Nerven schnell wieder unter Kontrolle. »Weil es trotz der rein formellen Existenz eines Corpus Delicti möglich ist, dass das angebliche Opfer noch lebt. Bringen Sie es wirklich fertig, einen Mann in die Todeskammer zu schicken, solange solche Zweifel über dem Fall schweben?«
»Schauen wir uns die Sache doch mal genauer an: Man hat Brustgewebe des Opfers in einer Plastiktüte gefunden, die ganz hinten in Clayton Burrows Gefrierschrank gestopft war. Zusätzlich hat man den blut- und spermabefleckten Slip des Opfers unter den Dielen in Clayton Burrows Schlafzimmer gefunden. Am selben Ort befand sich außerdem ein blutbeschmiertes Messer mit einem perfekten Satz von Clayton Burrows Fingerabdrücken. Mittels DNA-Analyse wurde festgestellt, dass das Blut Dorothy Olsen und das Sperma Clayton Burrow gehörte. Ich weiß nicht, wie Sie das nennen, aber ich nenne es ein Corpus Delicti!«
»Finden Sie nicht, dass das Ganze ein bisschen zu bequem war? Ist es nicht seltsam, dass die Polizei all diese Gegenstände auf einen anonymen Hinweis hin in seiner Wohnung gefunden hat?«
»Glauben Sie, man hat sie ihm untergeschoben? Woher hätte derjenige die Beweise haben sollen?«
»Ich weiß es nicht. Von der Leiche?«
»Die nie gefunden wurde!«
»Warum hätte Burrow die Beweisstücke aufbewahren sollen?«
»Weil er ein Sexualmörder ist und eine Trophäe behalten wollte – deswegen! Wie unzählige Sexualmörder vor und nach ihm!«
»Aber wäre er dumm genug, sie unter den Dielenbrettern seines eigenen Zimmers aufzubewahren?«
»Natürlich! Dieser ungehobelte Klotz hat ein Gehirn von der Größe einer Erdnuss!«
Alex rutschte unbehaglich auf seinem Sessel herum. Er verschwendete seine Zeit. Ein weiterer Richtungswechsel war angesagt: »Und was ist mit ihrem Treuhandfonds? Sechsundachtzigtausend Dollar, die sie ganz zufällig ein paar Tage vor ihrem Verschwinden abgehoben hat?«
»Diesen Einwand hat die Verteidigung schon während des Prozesses vorgebracht. Es war ihr Geld. Sie war gerade achtzehn geworden und wollte endlich frei darüber verfügen.«
»Und was ist mit dem Schmuck, den sie sich davon gekauft hat?«
»Was soll damit sein?«
»Warum hätte sie plötzlich so etwas Verrücktes tun sollen?«
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht wollte sie beim Schulabschlussball Eindruck schinden?«
»Wie kommt es dann, dass der Schmuck danach nie gefunden wurde?«
»Vielleicht hat ihn Burrow gestohlen! Nachdem er sie getötet hat!«
»Warum wurde dann kein einziges Schmuckstück bei ihm gefunden? Oder in seiner Wohnung?«
»Vielleicht hat er ihn verkauft. Er hatte siebzehn Monate Zeit zwischen ihrem Verschwinden und seiner Verhaftung.«
»Wo ist dann das Geld? Er hat nicht gerade einen verschwenderischen Lebensstil gepflegt.«
»Was weiß ich denn? Vielleicht hat er den Schmuck verloren. Der entscheidende Punkt ist doch, dass belastendes Beweismaterial bei ihm gefunden wurde und er keine Erklärung dafür hatte. Klarer kann ein Fall nicht sein.«
Alex Sedaka ließ die Luft aus seiner Lunge strömen. Das hier führte nirgendwohin.
Er hatte all diese Details erst vor kurzem erfahren, weil er mit dem ursprünglichen Gerichtsverfahren überhaupt nichts zu tun gehabt hatte. Burrow war zunächst von einem überarbeiteten Pflichtverteidiger vertreten worden. Nachdem ihn das Gericht schuldig gesprochen hatte, hatte sich eine Anwaltskanzlei mit eher liberalen Ansichten seines Falls angenommen und das Berufungsverfahren hauptsächlich auf den Vorwurf der inkompetenten Vertretung durch die Verteidigung aufgebaut. Als auch diese Bemühungen gescheitert waren – und der Hinrichtungstermin immer näher rückte –, hatte die Anwaltskanzlei Burrow klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich besser einen neuen Verteidiger suchen sollte. Man hatte keinerlei Interesse daran, mit dem fehlgeschlagenen Versuch, einen verurteilten Mörder vor der Hinrichtung zu retten, in Verbindung gebracht zu werden, daher der Rückzug vom Schlachtfeld in letzter Minute.
Ergebnis all dessen war gewesen, dass Alex den Fall vor sechs Wochen übernommen hatte, mit dem Ziel, Clayton Burrow vor dem Tod durch die Giftspritze zu retten.
»Er ist jetzt zu sprechen«, unterbrach eine nüchterne Stimme seine Gedanken.
Alex war so vertieft gewesen in die mentale Generalprobe seiner Verteidigungslinie, dass er gar nicht gehört hatte, wie sie den Raum betreten hatte. Er sah auf und erblickte dieselbe magere, spröde alte Jungfer, die ihn vor einigen Minuten gebeten hatte, hier zu warten. Er hoffte inständig, dass er nicht laut vor sich hin gesprochen hatte, als er allein im Zimmer gewesen war.
Sie führte ihn einen Gang entlang und drehte sich mit einem missbilligenden Blick durch ihre Hornbrille zu ihm um, als er vor einem Gemälde hinter Plexiglas stehen blieb, um sich das schwarze, von grauen Strähnen durchzogene Haar glattzustreichen. Alex spürte, dass diese Frau keinerlei Geduld für Albernheiten aufbrachte.
Sie waren inzwischen vor dem Besprechungszimmer angekommen, und die Frau öffnete die Tür und hielt sie auf, damit er hineingehen konnte. Er sah sie erwartungsvoll an, aber sie machte ihm durch ihre Körpersprache deutlich, dass sie nicht die Absicht hatte, den Raum zu betreten. Als er in das luxuriöse, mahagonigetäfelte Zimmer ging, stand der Gouverneur – eine massige, lächelnde Gestalt in kariertem Hemd und XL-Jeans, teils Fett, teils Muskeln – vom Konferenztisch auf, um ihn zu begrüßen.
In diesem Moment bot sich Alex ein unerwarteter Anblick. Auf einem Stuhl am hinteren Ende des Konferenztisches saß eine schlanke, kleine, zerbrechlich wirkende Frau mittleren Alters mit grauen Haaren.
»Alex Sedaka«, dröhnte Chuck Dusenburys Stimme. Es war eindeutig der Tonfall eines Politikers – der näselnde »Ich bin ein Mann des Volkes«-Tonfall, den Alex eher mit dem Mittleren Westen oder den Rocky Mountains assoziiert hätte. Dusenbury vervollständigte sein Auftreten mit einem festen Händedruck. Alex war froh, dass keine bärenhafte Umarmung folgte.
Statt beim Handschlag dem Blick des Gouverneurs zu begegnen, sah Alex an seiner kräftigen Gestalt vorbei auf die zerbrechliche Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Sie sah aus wie etwa sechzig, aber Alex ahnte, dass sie jünger war. Es war, als hätte eine Tragödie oder Krankheit sie um Jahre altern lassen.
Ihre Anwesenheit stellte Alex vor ein Rätsel. Das lag nicht nur daran, dass dieses Gespräch zwischen ihm und dem Gouverneur eigentlich unter vier Augen hatte stattfinden sollen. Was ihn vor allem überraschte, war die Tatsache, dass er nur allzu gut wusste, wer sie war.
Diese Frau mit den traurigen Augen war die Mutter eben jenes jungen Mädchens, für dessen Ermordung sein Mandant verurteilt worden war.
09.38 Uhr Pazifische Sommerzeit
Der kleine Mann im blauen Ford Lincoln saß angespannt da. Er wusste, dass Warten von Natur aus eine angespannte Tätigkeit ist. Untätigkeit bringt eine stärkere Art von Stress hervor, als es die energischste Form zielgerichteten Handelns je könnte. Aber es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Warten war Teil des Jobs.
Das Auto war geparkt, und der Motor war aus. Aber der Schlüssel steckte im Zündschloss, als könnte die Untätigkeit jeden Moment in Dynamik übergehen.
Nervös berührte er das Headset seines Bluetooth-Handys, das an seinem rechten Ohr befestigt war. An ihm war nichts Auffälliges. Niemand schenkte einem siebenundzwanzigjährigen, blauäugigen und braunhaarigen jungen Mann im dunkelblauen Anzug Beachtung, der einen Styroporbecher mit Kaffee aus dem wenige Meter entfernten Midway Café in der Hand hielt. Genau genommen trug er gar keinen Anzug: Das Jackett hatte er ausgezogen, die Krawatte gelockert und den obersten Knopf des weißen Hemds geöffnet.
Der Aufmachung und dem Verhalten nach wäre er beinahe als FBI-Mann außer Dienst durchgegangen, aber seine geringe Körpergröße und sein zierlicher Körperbau lenkten davon ab und verliehen ihm eine Aura der Harmlosigkeit. Wäre er wirklich ein Spion aus Washington gewesen, dann höchstens ein Schreibtischtäter und sicher kein Agent im Außendienst. Es war völlig ausgeschlossen, dass sich jemand von ihm bedroht oder eingeschüchtert fühlen konnte, auch wenn sein raspelkurz geschnittenes Haar – fälschlicherweise – auf einen militärischen Hintergrund hindeutete.
Das warme Glühen der Sonne, die bereits ein gutes Stück über dem Horizont balancierte, wurde von einem dünnen Wolkenschleier gefiltert. Für den Mann im Auto sah das Ganze aus wie eine riesige Wunde im Himmel, aus der das Blut durch den Verband tropfte – keine frische Wunde, sondern eine ältere, die nicht heilen wollte.
Er zog den Kaffeebecher aus dem Glashalter und nahm einen Schluck. Dann stellte er den Becher wieder ab und sah sich um. Die Golden Gate Avenue wirkte ganz normal, weder besonders leer noch außergewöhnlich stark befahren. Nichts verriet, dass weniger als zwanzig Meter von ihm entfernt wichtige Ereignisse ihren Lauf nahmen.
Er starrte auf das gemaserte, glänzend lackierte Holz des Armaturenbretts und bewunderte seine Eleganz. Ein trivialer Gedanke – aber er half, die Langeweile zu vertreiben … zumindest für ein, zwei Minuten.
Der Tag war warm – nicht heiß, nur warm –, daher seine Entscheidung, das Jackett auszuziehen. Er neigte dazu, in jeder Art von unbequemer Kleidung zu schwitzen.
Schließlich erwachte sein Headset knisternd zum Leben.
»Ich nehme an, Sie kennen Mrs. Olsen bereits.«
»Wir sind uns einmal kurz begegnet«, drang Alex‘ peinlich berührte Stimme an sein Ohr. »Aber wir wurden einander nie richtig vorgestellt.«
09.40 Uhr Pazifische Sommerzeit
Alex ging verlegen zu dem Stuhl hinüber, auf dem Mrs. Olsen saß. Er streckte ihr die Hand hin, da er nicht erwartete, dass sie aufstehen würde. Sie ergriff sie kraftlos, und er achtete darauf, dass sein eigener Händedruck entsprechend behutsam geriet.
Aber als er den Mund öffnete, war ein höfliches »Guten Tag« alles, was er herausbrachte.
Was sagte man in einer derartigen Situation? Drückte man nachträglich sein Beileid für ihren schmerzlichen Verlust aus? Entschuldigte man sich dafür, dass man den Mann vertrat, der als Mörder ihrer Tochter verurteilt war? Oder behielt man seine Meinung für sich und schwieg?
Einige Sekunden stand er unschlüssig herum, weil er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Das normale Prozedere bestand darin, dass der Anwalt des zum Tode Verurteilten den Gouverneur entweder alleine oder, was üblicher war, in Anwesenheit eines seiner Mitarbeiter traf. Der Anblick von Mrs. Olsen in diesem Zimmer hatte seine komplette Strategie umgeworfen.
»Setzen Sie sich doch«, bat der Gouverneur freundlich und wies auf einen Stuhl.
Alex stakste unbeholfen auf den leeren Stuhl zu. Er setzte sich und sah dem Gouverneur direkt in die Augen – er hätte alles getan, um Mrs. Olsens unversöhnlichem Blick zu entgehen.
Dusenbury ergriff das Wort: »Ich habe den Burrow-Fall aufmerksam verfolgt und bin sehr beeindruckt von Ihrer Arbeit.«
»Die meiste Arbeit war bereits getan. Ich habe den Fall erst vor sechs Wochen übernommen.«
Alex fiel ein, dass Dusenbury gelernter Anwalt war und ein schlauer Fuchs dazu, nach allem, was man so hörte.
»Nun ja, wenn man den Presseberichten Glauben schenkt, sind Sie in diesen sechs Wochen recht fleißig gewesen«, sagte Dusenbury.
»Gouverneur …«
»Chuck, bitte«, unterbrach ihn der Gouverneur. »Jeder nennt mich Chuck.«
»Sir …« Er konnte sich nicht dazu überwinden, diesen Mann mit Chuck anzusprechen. »Ich weiß, das klingt unhöflich, aber ich hatte eigentlich erwartet, dass dieses Treffen stattfindet, damit wir über eine mögliche Begnadigung meines Mandanten verhandeln können. Normalerweise läuft das etwas anders ab.«
Alex warf Mrs. Olsen einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie sich von seiner Bemerkung nicht gekränkt fühlte. Ihre Augen blieben neutral, aber er entdeckte die Andeutung eines nervösen Lächelns, fast so, als wollte sie ihm auf eine Art die Hand reichen, die er nicht verstand.
»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß«, erwiderte der Gouverneur. »Aber das hier ist auch ein ungewöhnlicher Fall, oder etwa nicht?«
Das konnte Alex nicht bestreiten.
»Lassen Sie es mich ganz einfach ausdrücken«, sagte der Gouverneur. »Mrs. Olsen ist hier, weil sie mich gebeten hat, Ihrem Mandanten die Begnadigung anzubieten.«
09.43 Uhr Pazifische Sommerzeit
Ich habe in meinem Leben Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Ich habe Dinge getan, die ich nicht hätte tun dürfen. Ich war das Ergebnis meiner Erziehung. Man hat mir nicht immer beigebracht, was richtig und was falsch ist. Stattdessen hat man mir beigebracht, Menschen für Dinge zu hassen, auf die sie keinen Einfluss haben, oder für Dinge, die ich für schlecht hielt, weil ich so erzogen wurde.
Aber wie viel Unrecht ich auch begangen habe, Mord gehört nicht dazu. Ich mag in meiner Jugend ein Tyrann gewesen sein, aber ich war nie ein Mörder. Dorothy Olsen hat unter vielen Menschen gelitten, auch unter mir. Aber ich habe sie nicht getötet.
Clayton Burrow hörte auf zu schreiben und legte den Stift beiseite. Seine Hand schmerzte. Er öffnete und schloss sie mehrere Male, um den Krampf zu lösen. Aber dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu dem Schmerz in seinem Inneren: Schmerz … Angst … Schuld? Er wusste es nicht genau. Er hatte einfach das ständige Bedürfnis zu weinen, was er natürlich nicht tun würde – zumindest nicht jetzt. Weinen war unmännlich, und angesichts der Tatsache, dass vierundzwanzig Stunden am Tag ein Gefängniswärter vor seiner Zelle postiert war, würde er den Schweinehunden bestimmt nicht den Gefallen tun zusammenzubrechen. Aber nachts, wenn die Lichter gedämpft wurden (im Todestrakt wurden sie nie ganz ausgeschaltet), vergrub er das Gesicht in seinem Kissen und gab der Schwäche nach, die er bei Tageslicht erfolgreich verbarg.
Er blickte auf den Brief hinab und überflog seine Worte. Als er sie aufgeschrieben hatte, hatte es sich angefühlt, als würde er das Richtige zur richtigen Zeit sagen. Aber als er sie nun noch einmal durchlas, dachte er nur, wie pathetisch das alles klang. Dies würde sein letzter Brief werden, der Brief, der vor seiner Hinrichtung verlesen werden sollte. Oder doch nicht? Vielleicht würde es sein letztes Gnadengesuch an den Gouverneur werden. Oder sein Brief an Mrs. Olsen, falls ihm die Begnadigung gewährt würde. Er war sich nicht sicher.
Sollte es ein Brief der Versöhnung oder ein Brief der Auflehnung werden … eine Entschuldigung oder ein Dementi? Was wollte er eigentlich schreiben? Noch nicht einmal das wusste er. Er wusste nur, dass er Bitterkeit und Wut verspürte … und Angst … und …
Einsamkeit.
Das war das Schlimmste. Während seiner gesamten siebenundzwanzig – fast achtundzwanzig – Jahre auf dieser Erde hatte er sich immer mit Freunden umgeben. Oder vielleicht war »Kumpels« das bessere Wort. Er umgab sich gerne mit Menschen, die ihn anfeuerten und ihm sagten, was für ein toller Typ er war. Er war zwar nie ein richtig guter Sportler gewesen, aber doch ein ziemlich guter, gut gebaut, mit Muskeln, die eher definiert als aufgepumpt waren. Außerdem war er mit einem hübschen, glatten Gesicht der Marke »Goldjunge« gesegnet, das über sein eher gehässiges Naturell hinwegtäuschte. Und er besaß genügend kindlichen Witz und sportlichen Elan, um bei Mädchen und Jungen gleichermaßen beliebt zu sein. Wenn sich die Meute an der Highschool auf ein Opfer einschoss, stand er immer auf der richtigen Seite, nämlich der überlegenen, gehörte immer zur angesagten Clique, statt sich vor den jeweiligen Außenseiter oder Sonderling zu stellen, der tyrannisiert wurde – ob verbal oder physisch.
Allein war er nur selten gewesen, und das war ihm sehr wichtig – wichtiger, als ihm je bewusst gewesen war. Im Grunde hatte er Angst vor dem Alleinsein, was ihm nie klar gewesen war, bis er sich schließlich in einer Situation wiedergefunden hatte, in der er dem Alleinsein nicht mehr ausweichen konnte. Während seiner fröhlichen, von Spaß und Müßiggang geprägten Highschooljahre war das kein Thema für ihn gewesen. Weil er nie allein gewesen war, hatte er keine Ahnung gehabt, wie hart ihn das Alleinsein treffen würde.
Rückblickend schien es ihm, als hätte er einen eingebauten Abwehrmechanismus gegen Einsamkeit besessen. Wann immer er allein gewesen war, hatte er sich so schnell wie möglich wieder menschliche Gesellschaft gesucht. Er war immer der Erste gewesen, der auf einen Freund oder eine Gruppe zugegangen war und sich in die Unterhaltung eingemischt hatte. Er war immer derjenige gewesen, der neue Klassenkameraden angesprochen und sie in Freund oder Feind eingeteilt hatte. Waren sie Freund, wurden sie als Resonanzboden missbraucht, waren sie Feind, wurden sie tyrannisiert oder zumindest gehänselt.
Selbst zu Hause ging er dem Alleinsein aus dem Weg. Er war zwar ein Einzelkind, hatte aber immer Freunde zu Besuch, die bei ihm übernachteten. Noch öfter übernachtete er jedoch bei ihnen. Das war ihm lieber, weil er sich insgeheim für seine Mutter schämte. Wer sein Vater war, wusste er nicht – genauso wenig wie seine Mutter.
Nun war er zum ersten Mal in seinem Leben gezwungen, Einsamkeit zu ertragen und sich seinen Ängsten zu stellen, und das als junger Mann, der so etwas wie Angst bis dahin nicht gekannt hatte.
Jetzt attackierte ihn seine Furcht vor der Einsamkeit – diese Furcht, die immer da gewesen war, obwohl er sie so lange vor sich selbst verheimlicht hatte – wie ein innerer Dämon, der ihm keine Ruhe ließ.
Seine Mutter besuchte ihn nicht. Sie hatte ihn aus ihrem Leben gestrichen. Und auch seine alten Schulfreunde, die er immer mit seinen Späßen unterhalten hatte, schienen kein Interesse daran zu haben, ihrem gefallenen Idol für einen Augenblick Gesellschaft zu leisten.
Aber es war nicht die Einsamkeit an sich, die er so fürchtete. Die Einsamkeit war nichts als ein Türöffner zu seinem persönlichen Zimmer 101 – jener geheimen inneren Schreckenskammer eines Menschen, in der seine schlimmsten Ängste Realität werden. Die Einsamkeit zwang ihn dazu, sich mit Selbstbeobachtung zu beschäftigen. Und Selbstbeobachtung war das, was er am meisten fürchtete. Durch menschliche Gesellschaft entging man der Notwendigkeit, in sich hineinzuschauen und die elende Verkommenheit der eigenen Seele zu erkennen. Ohne diesen Schutzschild war Selbstbeobachtung alles, was Burrow blieb. In der ohrenbetäubenden Stille seiner Einsamkeit und im Schatten des Todes, der über ihm schwebte, war er gezwungen, einen Blick auf sich selbst zu werfen und sich wahrzunehmen, wie er wirklich war.
Und was er sah, gefiel ihm nicht.
Er sah einen Mann, der jede sich ihm bietende Chance verschenkt hatte. Er sah einen Mann, der unnötig grausam zu den Schwachen gewesen war. Er sah einen Mann, der sich seine Beliebtheit auf Kosten der Schwächsten und Verletzlichsten erkauft hatte.
Aber vor allem sah er einen Mann, der keine Chance mehr haben würde, seine Schuld wiedergutzumachen.
Er wusste, dass auch Dorothy Olsen innere Dämonen gehabt haben musste, wahrscheinlich noch viel schlimmere als er. Trotzdem war er auf ihr herumgetrampelt. Und wozu? Für einen billigen, kindischen Kick, der ihm nun nichts mehr bedeutete.
Er wünschte, er hätte sein Leben noch einmal von vorne beginnen können. Er wünschte, er hätte noch einmal vor denselben Situationen stehen können, um dann weisere – und weniger grausame – Entscheidungen zu treffen. Aber Gott gewährte keine zweite Chance … falls es ihn überhaupt gab.
Er sah noch einmal auf den Brief hinab und merkte, wie wenig er aussagte – wie wenig von dem, was er eigentlich sagen wollte.
Von Wut überwältigt packte er den Brief und zerriss ihn in Fetzen.
Durch die Gitterstäbe beobachtete ihn der Zellenwärter mit unerbittlich neutralem Gesichtsausdruck.
09.45 Uhr Pazifische Sommerzeit
Alex saß da und schwieg verblüfft. Er hatte vieles erwartet, aber das nicht. Begnadigung? Bevor er überhaupt seine gut geübten Argumente vorgebracht hatte? Und die Mutter des Opfers hatte ausdrücklich darum gebeten?
Dann landete er wieder auf dem Boden der Tatsachen.
Sie hat mich gebeten, Ihrem Mandanten die Begnadigung anzubieten.
Die Worte waren sorgfältig gewählt.
»Wenn Sie sagen, sie hätte Sie ›gebeten‹«, fragte Alex vorsichtig, »heißt das dann, dass Sie noch keine Entscheidung getroffen haben?«
»Sie kennen meine Ansichten zur Todesstrafe.«
»Ja, Sir. Und ich habe Ihren Mut zu dieser Position immer bewundert.«
Er bereute den Satz, sobald er ihm über die Lippen kam. Er klang kriecherisch, und der Gouverneur war ein zu gewiefter Politiker, um ihn nicht sofort zu durchschauen.
»Und Sie wissen sicher auch, dass ich meine Entscheidungen relativ unabhängig treffe, besonders jetzt, wo ich mich aus der Politik zurückziehe.«
Alex nickte. Wie viele andere wusste auch er nicht recht, ob er ihm das glauben sollte, aber es war wohl kaum der richtige Augenblick, um seine Skepsis zum Ausdruck zu bringen.
»Nichtsdestoweniger wäre es unangebracht, wenn ich mich gegen den Willen der Legislative und der Gerichte stellen würde.«
Alex geriet in Panik bei dem Gedanken, dass ihm die Gelegenheit schon wieder entschlüpfte. »Aber Sie sagten doch …«
»Es sei denn … es gäbe einen zwingenden Grund. Wissen Sie, mein Lieber, auch wenn ich in der komfortablen Lage bin, mich über die öffentliche Meinung hinwegsetzen zu können, so glaube ich doch, dass es meine Pflicht ist, diese Meinung zumindest zu respektieren. Denken Sie an die Worte Thomas Jeffersons: ›… so erfordern Anstand und Achtung für die Meinungen des menschlichen Geschlechtes, dass es die Ursachen anzeige, wodurch es getrieben wird‹. Die Menschen, die mich gewählt haben, mögen nicht mit meiner Entscheidung übereinstimmen, aber ich bin ihnen zumindest eine Erklärung schuldig. Die Geschichte wird ein hartes Urteil über mich fällen, wenn ich meiner Pflicht nicht genüge, meine Gründe öffentlich darzulegen – und diese Gründe müssen gut sein.«
Alex holte tief Luft und gewann langsam die Fassung zurück. Er wurde nicht schlau aus dem Gouverneur und war sich ganz und gar nicht sicher, ob dieser wirklich nur seinen Platz in der Geschichte im Sinn hatte. Aber jetzt war keine Zeit, sich in Spekulationen bezüglich seiner Motive zu ergehen. Dusenbury warf ihm einen Rettungsanker zu – oder winkte ihm zumindest damit. Allein darauf kam es an.
»Sie brauchen also Gründe«, tastete sich Alex zögernd vor. »Gründe, die Sie bis jetzt noch nicht haben.«
»So ist es.«
»Und ich soll sie Ihnen beschaffen.«
»Nein, Ihr Mandant soll sie mir beschaffen.«
Alex verstand langsam, worauf er hinauswollte. »Haben Sie deshalb gesagt, dass Mrs. Olsen meinem Mandanten die Begnadigung anbietet und nicht gewährt?«
Dusenbury lächelte. »Das haben Sie ja schnell kapiert. Genau darum handelt es sich, mein Lieber: um ein Angebot.«
»Es gibt also vermutlich auch eine Gegenleistung?«, fragte Alex.
09.48 Uhr Pazifische Sommerzeit
(17.48 Uhr Britische Sommerzeit)
In der Klinik war alles ruhig, als der späte Nachmittag in den frühen Abend überging. Aber das geräumige Fernsehzimmer mit seinen sterilen hellblauen Wänden und den sauberen grauen Ledermöbeln war schallisoliert und weit genug von den Krankenzimmern entfernt, so dass sie den Fernseher Tag und Nacht laufen lassen konnten. Die Krankenschwestern der Nachtschicht legten dort gerne kurze Kaffeepausen ein, ließen sich in einen Sessel fallen und sahen sich das Spätprogramm an. Sie zogen die Nachrichtensender mit durchgehendem Nachtprogramm – ob britisch oder amerikanisch – den spätabendlichen Quizsendungen vor, die wenig mehr waren als Hochglanz-Abzocke.
Susan White, eine Krankenschwester mittleren Alters, die noch zur »alten Schule« gehörte, ließ sich mit einem Becher Kaffee vor dem Fernseher nieder und begann, auf der Suche nach den aktuellen Nachrichten durch die Kanäle zu zappen. Dabei erwischte sie das Ende eines Berichts über eine Klinik in Amerika, die von einer Gruppe von Abtreibungsgegnern – oder »Pro-Lifern«, wie sie sich nannten – belagert wurde. Ihr wurde bewusst, wie viel Glück sie hatte, hier in Großbritannien zu sein.
Sie trank ihren Kaffee gern stark und mit viel Milch, aber die Kaffeemaschine bekam ihn nie so richtig hin. Sie trank ihn außerdem mit viel Zucker, was die Maschine normalerweise sehr gut hinbekam. Obwohl ihr drei Kaffeepausen pro Schicht zugestanden hätten, kam sie nur selten dazu, weil sich die anderen Schwestern oft mit ihren Problemen, sowohl privater als auch beruflicher Natur, an sie wandten. Also sorgte sie dafür, dass sie ihre Koffeinladung intus hatte, bevor die Schicht anfing.
Mit Rücksicht auf die Tatsache, dass die meisten stationären Patienten um diese Zeit ein Nickerchen hielten, senkte sie die Lautstärke. Auf dem Bildschirm sprach eine gepflegte Frau in den Dreißigern mit asiatischem Aussehen in die Kamera. Sie trug ein schickes blaues Kostüm aus knielangem Rock und einer etwas zu engen Jacke, das ihre schlanke, athletische Figur unterstrich, ohne sie überzubetonen.
Aber dann erschien ein Gesicht auf dem Bildschirm, das Susans Aufmerksamkeit erregte. Es war das Foto einer jungen Frau, das fast wie ein Polizeifoto aussah. Susan ließ den Bildschirm nicht aus den Augen und spürte, wie sich ein unbehagliches Gefühl in ihr ausbreitete.
Sie griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter. Man hörte den Off-Kommentar einer amerikanischen Reporterin. Es war eine dieser austauschbaren Moderatorinnenstimmen, die alle gleich klingen, ausgebildete, selbstbewusste Stimmen, denen immer ein kaum merklicher Hauch von Sarkasmus oder Herablassung anzuhören ist. Vielleicht war es auch nur die Härte, die man brauchte, um es in einer einstigen Männerdomäne ganz nach oben zu schaffen.
»Dorothy Olsens Leben war kein glückliches. In der Schule wurde sie tyrannisiert, ihre Eltern trennten sich, als sie ein Teenager war, und echte Freunde hatte sie nicht. Vor etwas mehr als neun Jahren, am 23. März 1998 – dem Tag ihres Schulabschlussballs –, verschwand Dorothy Olsen und wurde nie wieder gesehen.«
Nun wurde das Foto eines Mannes eingeblendet, den die Krankenschwester nicht kannte. Dieses Foto war eindeutig ein Polizeifoto.
»Clayton Burrow ist der Mann, der wegen Mordes an Dorothy Olsen verurteilt wurde. Als sie verschwand, stufte man sie zunächst als vermisste Person ein. Man nahm an, die gnadenlose Behandlung seitens ihrer Klassenkameraden, die Vergleiche mit Stephen Kings berühmtem Roman Carrie heraufbeschwor, habe dazu geführt, dass sie das Weite gesucht hatte. Es gab Spekulationen über einen möglichen Selbstmord, obwohl nie eine Leiche gefunden wurde.«
Susan White hob mit einem wachsenden Gefühl des Unbehagens den Styroporbecher an die Lippen. Das Foto von Burrow verschwand, und die Reporterin kam wieder ins Bild.
Einer der jungen Klinikpfleger bezeichnete diese Nachrichtensendung immer als »Foxy News«, sobald die Reporterin ins Bild kam, aber der Witz nutzte sich allmählich ab.
Im Hintergrund war der trostlose, nüchterne Eingang des Staatsgefängnisses San Quentin zu sehen.
»All dies«, fuhr die Reporterin fort, »änderte sich schlagartig vor knapp acht Jahren, nämlich am 19. Oktober 1999, als die Polizei auf einen anonymen Anruf hin Teile von Dorothy Olsens Leiche in Clayton Burrows Gefrierschrank entdeckte. Sie fand außerdem weiteres belastendes Beweismaterial in einem Versteck unter den Bodendielen, für das Burrow keine Erklärung hatte, darunter ein blutbeschmiertes Messer mit Burrows Fingerabdrücken sowie einen blutbefleckten Slip mit Spermaspuren. DNA-Tests ordneten das Sperma zweifelsfrei Clayton Burrow zu und das Blut Dorothy Olsen. Außerdem gab es Anhaltspunkte dafür, dass Dorothy Olsen kurz vor ihrem Verschwinden mit Geld aus ihrem Treuhandfonds teuren Schmuck gekauft hatte. Nichts davon wurde je gefunden.«
Susan White spürte etwas Nasses und Heißes auf ihrem Handgelenk und ihren Fingern. Sie merkte, dass ihre Hand zitterte und dass sie Kaffee verschüttet hatte. Also stellte sie den Becher ab und wischte sich über die Schwesternuniform, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
»Burrow beteuerte zwar seine Unschuld, konnte jedoch keine einleuchtende Erklärung für das gegen ihn sprechende Beweismaterial liefern, weshalb er am 20. Februar 2001 des Mordes in besonders schwerem Fall für schuldig erklärt wurde. Etwas mehr als eine Woche später wurde er deswegen zum Tode verurteilt. Diese Hinrichtung soll nun in gut vierzehn Stunden vollstreckt werden. Martine Yin, Eyewitness News, San Quentin.«
Susan White umklammerte die Armlehnen ihres Sessels, während ihr Herz immer schneller zu klopfen begann.
09.50 Uhr Pazifische Sommerzeit
»Sie sagen es, Alex, eine Gegenleistung.« Dusenbury drehte sich zu Mrs. Olsen um. »Esther, vielleicht möchten Sie das erklären.«
Esther Olsen richtete sich langsam in ihrem Stuhl auf. Es fiel ihr schwer, aber sie zwang sich dazu. Alex sah, wie schmerzhaft jede Bewegung für sie war und wie viel Anstrengung es sie kostete. Er rückte seinen Stuhl ein wenig zur Seite und drehte sich in ihre Richtung, damit sie ihn besser im Blick hatte.
»Ich kenne Sie nicht, Mr. Sedaka«, begann sie mit zitternder Stimme, »aber Sie sind ein guter Mensch. Zumindest wurde mir gesagt, Sie seien ein guter Mensch.«
Alex nickte. Es gab nicht viel, was er hätte sagen können. Ihr zuzustimmen wäre arrogant gewesen, ihr zu widersprechen unhöflich. Der Satz war ganz offensichtlich ohnehin nur die Einleitung zu dem, was sie eigentlich sagen wollte.
»Ich weiß, dass Sie den Fall erst kürzlich übernommen haben, und ich weiß auch, dass es Ihre Pflicht ist, Ihrem Mandanten zu helfen.«
Wieder nickte er und versuchte, beruhigend auf sie zu wirken. Was auch immer sie gleich sagen würde, es würde schmerzhaft für sie sein, das wusste er. Die Entscheidung, den Gouverneur um die Begnadigung des Mannes zu bitten, der ihre Tochter umgebracht hatte, musste sie unmenschliche Überwindung gekostet haben.
»Mr. Sedaka, auf Hebräisch bedeutet Ihr Name sowohl ›Wohltätigkeit‹ als auch ›Gerechtigkeit‹, und ich hoffe, dass Sie diesen Idealen gerecht werden.«
Alex war jüdisch, genau wie Esther Olsen, und obwohl er die Religion seiner Kindheit schon lange nicht mehr praktizierte, wusste er noch einiges von dem, was er in den ersten vierzehn Jahren seines Lebens gelernt hatte. Er kannte die Bedeutung seines Namens oder vielmehr des hebräischen Wortes tsedaqah, von dem sich der Familienname Sedaka ableitete.
»Ich sterbe, Mr. Sedaka. Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs, und die Ärzte haben mir gesagt, dass ich im besten Fall noch einige Monate zu leben habe. Meine Tochter und ich waren zerstritten, aus Gründen, die zu kompliziert sind, um sie hier näher auszuführen. Was ich am meisten bereue, ist, dass ich nie Gelegenheit hatte, mich mit ihr zu versöhnen.«
»Ist dieses Zerwürfnis kurz vor ihrem Tod aufgetreten?« Alex wusste nicht, warum er die Frage gestellt hatte, aber er wusste, dass ihn mehr als reine Neugier dazu bewogen hatte.
»Nein, das war mehrere Jahre vor ihrem Tod. Ich hatte immer geglaubt – nein, gehofft –, dass die Zeit die Wunden heilen würde. Aber es sollte nicht sein. Wir haben uns nie miteinander versöhnt.« Sie holte tief Luft und hatte Mühe weiterzusprechen. »Sein eigenes Kind zu überleben ist etwas Schreckliches, Mr. Sedaka. Aber wenn es eines gibt, was noch schlimmer ist, dann das Wissen, dass man sich von einem geliebten Menschen im Schlechten getrennt hat. Diesen Schmerz nehme ich mit ins Grab.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Alex spürte einen Kloß im Hals.
»Zur Versöhnung mit meiner Tochter ist es zu spät, und ich weiß auch nicht, ob wir im nächsten Leben miteinander Frieden schließen können, weil ich nicht weiß, ob es ein nächstes Leben gibt. Aber eines möchte ich noch in diesem Leben tun, nämlich ihr ein anständiges Begräbnis zuteilwerden lassen … oder … oder zumindest erfahren, wo sie begraben ist.«
Endlich ergab alles einen Sinn.
Alex warf dem Gouverneur einen schnellen Blick zu, bevor er wieder Mrs. Olsen ansah. »Nur damit ich alles richtig verstehe: Sie möchten, dass ich meinen Mandanten dazu bewege, den Ort preiszugeben, an dem er die Leiche besei… an dem er sie begraben hat. Und im Gegenzug bitten Sie um die Begnadigung Burrows und die Umwandlung seiner Todesstrafe in … was?« Er drehte sich zum Gouverneur um. »Lebenslänglich ohne Bewährung?«
Dusenbury nickte. Der Gouverneur würde Burrow also keine vollständige Amnestie gewähren. Alex wandte sich wieder Esther Olsen zu.
»Das ist alles, worum ich Sie bitte, Mr. Sedaka. Es ist der letzte Wunsch einer sterbenden Mutter.«
Alex wurde von seinen Gefühlen überwältigt und senkte den Blick. Er fragte sich, wie sein Mandant so etwas hatte tun können. Wie hatte er so grausam sein können, einer Mutter einen solchen Schmerz zuzufügen?
Aber er hatte nicht das Recht, über seinen Mandanten zu urteilen. Er hatte noch nicht einmal das Recht, von Burrows Schuld auszugehen, solange dieser auf seiner Unschuld beharrte. Aber es war natürlich seine Pflicht, seinem Mandanten dieses Angebot zu unterbreiten. Vielleicht würde Burrow nun endlich reinen Tisch machen. Alex hatte nie wirklich etwas anderes geglaubt, als dass Burrow schuldig war. Als Anwalt hatte er natürlich die berufliche Verpflichtung, sich nach den Vorgaben seines Mandanten zu richten und für dessen Unschuld zu plädieren, solange dieser behauptete, unschuldig zu sein. Aber es gab kein Gericht auf Erden, das der menschlichen Natur vorschreiben konnte, wie sie zu sein und was sie zu glauben hatte.
Alex hatte Burrow schon für schuldig gehalten, bevor er den Fall übernommen hatte. Diese Annahme gründete allerdings allein auf der Berichterstattung während des ursprünglichen Prozesses und des langen und mühseligen Berufungsverfahrens. Als man ihn gebeten hatte, den Fall zu übernehmen, war er also bereits voreingenommen gewesen. Aber das Flehen seines ehrgeizigen Rechtsreferendars und die persönliche Anfrage von Burrow selbst, deren Gründe Alex nie wirklich verstanden hatte, hatten ihn dazu bewogen, den Fall trotzdem anzunehmen.
Obwohl Alex das Verhandlungsprotokoll im Schnelldurchlauf gelesen hatte, in einer Atmosphäre, die angesichts des drohend näher rückenden Hinrichtungstermins immer intensiver und drückender geworden war, hatte nichts, was er dort gelesen hatte, seine Ansicht in irgendeiner Form geändert. Auch wenn der Fall zu komplex war, um ihn als eindeutigen Fall zu bezeichnen, war die Beweislage erdrückend genug. Für Alex bestand nicht der geringste Zweifel: Clayton Burrow hatte Dorothy Olsen ermordet.
Die Frage war nur, ob Clayton jetzt, wo sich ihm die einmalige Gelegenheit bot, sein armseliges Leben im Tausch gegen eine solche Kleinigkeit zu retten, reinen Tisch machen würde. Eigentlich hatte er nichts zu verlieren, wenn er die Wahrheit sagte, denn es bestand ohnehin nicht die geringste Chance, dass er durch Wiederaufnahme seines Falls freigesprochen und aus dem Gefängnis entlassen wurde. Und ein Geständnis rettete ihm vielleicht die Seele, falls es denn einen Gott gab.
Alex hütete sich, mit so etwas Vermessenem wie zu großen Erwartungen an die Sache heranzugehen. Vorsichtiger Optimismus war wohl eher angebracht.
Aber zuerst musste er sich sicher sein, dass er die Bedingungen der Abmachung richtig verstanden hatte. Er wandte sich an den Gouverneur. »Nur damit wir Missverständnisse vermeiden: Der Deal besteht darin, dass Burrow preisgibt, wo die Leiche vergraben ist, im Gegenzug begnadigt wird und eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung absitzt?«
»Ganz genau«, antwortete Dusenbury und nickte mit seinem aristokratischen Haupt.
Alex überlegte kurz, ob er darauf bestehen sollte, die Bedingungen schriftlich festzuhalten. Aber Esther Olsens Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass das eine unnötige Grausamkeit gewesen wäre. Außerdem war es überflüssig, wie ihm der feste Händedruck des Gouverneurs verriet.
10.03 Uhr Pazifische Sommerzeit
»Lebenslänglich ohne Bewährung«, hatte Alex gesagt. Der Mann im Auto konnte es nicht glauben.
Es gab keinen Zweifel. Das Angebot war auf dem Tisch.
Im Kopf des Mannes drehte sich alles. Als der Gouverneur Alex gebeten hatte, früher zu dem Treffen zu kommen, hatte er sich gefragt, was da vor sich ging. Er hatte geahnt, dass es etwas Ungewöhnliches war. Aber das hatte er nicht erwartet.
Wieder und wieder ging er in Gedanken das Gespräch durch.
Nathaniel Anderson war kein FBI-Mann und auch kein Cop, Journalist oder Auftragskiller. Er hatte vor kurzem seinen Abschluss in Jura gemacht und arbeitete nun als Rechtsreferendar, während er sich auf die Zulassungsprüfung vorbereitete. Im Laufe seines letzten Studienjahres hatte er bereits eine beachtliche Anzahl an Pflichtverteidigungsmandaten übernommen und bedürftigen Straftätern dabei geholfen, im sprichwörtlichen Fleischwolf des Strafrechtssystems ihre Haftstrafen herunterzuhandeln.
Es hatte ihn viel Zeit gekostet, sich ihren Respekt zu verdienen. Sie betrachteten ihn als arrogantes weißes Jüngelchen, als typischen Anwalt eben. Aber er hatte geschuftet wie ein Tier und sie durch Beharrlichkeit und harte Arbeit für sich gewonnen. Und weil er für den Strafverteidiger gearbeitet hatte, war es ihm gelungen, sich eine eindrucksvolle Liste mit Kontakten in der Verbrecherwelt aufzubauen, eine Liste, die ihm bereits sehr nützlich gewesen war.
Der Gouverneur bietet Burrow also die Begnadigung an, wenn er verrät, wo die Leiche ist. Er fragte sich, wie die Öffentlichkeit wohl darauf reagieren würde – aber natürlich würden der Gouverneur und Alex den Deal erst öffentlich machen, wenn er unter Dach und Fach war.