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Wladimir Kaminer

Ich bin
kein Berliner

Ein Reiseführer
für faule Touristen

Ich bin kein Berliner
Ich bin kein Berliner. Ich bin auch nicht »Deutschland«. Die Social-Marketing-Kampagne des letzten Jahres »Du bist Deutschland« hat mich nur irritiert. Ich kenne mich hier nicht wirklich aus. Vor fünfzehn Jahren kam ich nach Ostberlin, aus Gründen, die mir bis heute rätselhaft geblieben sind. Wahrscheinlich war es bloße Neugier auf die Welt und ungebremste Reiselust, die mich damals nach Berlin trieben. Die Reise erwies sich als fatale Entscheidung. Einmal hier gelandet, kommt man kaum mehr weg. Berlin bindet.
Alle Einheimischen, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, wollten immer als Erstes wissen, wieso ich damals ausgerechnet Berlin beziehungsweise Deutschland als Reiseziel gesucht hatte. Meine Ausweichantworten »Es hat sich so ergeben« oder »Ich bin in den falschen Zug gestiegen« konnten sie nicht zufriedenstellen. Wenn ich aber zur Abwechslung sagte, ich fände Deutschland gut und Berlin sei eine tolle Stadt, wollte mir das einfach keiner glauben.
Die Eingeborenen zeigen sich in der Regel sehr kritisch ihrem Land und ihrer Stadt gegenüber. Erst vor kurzem traf ich in unserer Stammkneipe einen Journalisten aus Bochum, der genau wie ich vor fünfzehn Jahren nach Berlin ausgewandert war und mich nicht nach den Gründen meiner damaligen Abreise fragte. Von sich behauptete er sogar ungeniert, ihm wäre es schon immer klar gewesen, dass er hier in einem Paradies lebe. Alle Gäste, die unserem Gespräch lauschten, hatten sofort Abstand von dem Mann genommen. Die Wirtin vermutete später, er wäre unter Drogen gestanden. Inzwischen weiß ich, was diese ständige Fragerei soll: Es ist eine Art Flirt. Das Land will gefallen, schämt sich aber, es öffentlich zuzugeben. Unsere Liebesbeziehung steckt deswegen permanent in einer Krise, die aber für beide Seiten fruchtbar ist.
Schon an meinem ersten Tag in Berlin musste ich im Berliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz mit ein paar anderen Russen zusammen Fragebögen ausfüllen, um humanitäres Asyl gewährt zu bekommen. Die Frage »Aus welchem Grund haben Sie Deutschland gewählt, und was haben Sie in Deutschland vor?« stand ganz oben auf der Liste. Niemand von meinen Landsleuten hatte eine Idee, wie man diese Frage vernünftig beantworten konnte. Sie waren alle mehr oder weniger zufällig in Deutschland gelandet, weil sie zum Beispiel eine nette deutsche Tante hatten oder einen deutschen Freund, der sie eingeladen hatte. Ein älterer, intelligent aussehender Mann, der Einzige aus unserer Asylantengruppe, der über gute Deutschkenntnisse verfügte, schrieb, er sei ein Bewunderer der deutschen Kultur und Sprache, woraufhin alle anderen diesen Satz von ihm übernahmen.
Mit einer Zweimonatsduldung verließen wir, die frisch gebackenen Deutschkultur-Bewunderer, damals das Polizeipräsidium am Alex. »Zwei Monate müssten euch reichen, um die deutsche Kultur gründlich kennenzulernen«, witzelte der zuständige Beamte. Dreizehn Jahre später, als ich hier die Staatsangehörigkeit für mich und meine Kinder beantragte, wurde ich erneut in den unzähligen Formularen mit der gleichen Frage konfrontiert. »Warum Deutschland?«, wollte man von mir wissen.
Die jungen Russen und Ukrainer, die sich heute als Au-pair-Mädchen beziehungsweise -Jungs für deutsche Kinder bewerben oder sich zum Studium in Berlin anmelden wollen, füllen ähnliche Fragebögen aus. Sie müssen darin verständlich machen, warum sie unbedingt in Deutschland studieren oder arbeiten wollen und nicht zum Beispiel in Zimbabwe, und was sie an Deutschland besonders schätzen. Die meisten schreiben immer das Gleiche voneinander ab: »Deutsche Ordnung, Pünktlichkeit und Genauigkeit (!) möchte ich lernen. Diese Eigenschaften werden mir auf meinem beruflichen Weg sehr helfen.« Als ob sie alle später Polizisten, Zugabfertiger oder Straßenfeger werden wollen.
»Warum müssen die Deutschen unbedingt wissen, was die anderen über sie denken?«, fragte mich einmal ein Au-pair-Mädchen, und ich konnte ihr keine vernünftige Antwort geben.
»Sag ehrlich, was hältst du von mir?«, ist bekanntlich eine gefährliche Frage, die man nicht einmal dem besten Freund stellen sollte. Mit einer solchen Frage kann jede glückliche Ehe ruiniert, echte Freundschaft gelöst, ein vielversprechender Arbeitsvertrag vorzeitig beendet werden. Solche Fragen sorgen niemals für Aufklärung, sie säen nur noch mehr Misstrauen. Dessen ungeachtet bemüht sich Deutschland, nach seinen eigenen Bildern in der Fremde zu forschen: Jeder Ausländer, der hierherkommt, wird einem Verhör unterzogen. Im Ausland werden parallel dazu groß angelegte Untersuchungen durchgeführt, um festzustellen, was der eine oder andere dort von Deutschland hält. Die Ergebnisse sind so lala. Kaum jemand will die deutschen Leistungen in den Bereichen Kultur, Freizeit und Sport würdigen, auch nicht die deutschen Errungenschaften in der Wissenschaft und die exotische deutsche Küche. Stattdessen kommen in den Vorstellungen der Ausländer über Deutschland immer wieder Hitler, das Bier und die Ordnung vor. Wenn die Deutschen im Ausland gelobt werden, dann stets von den Falschen und für Taten, die das Land selbst am liebsten schnell vergessen würde. Die Iren verlieren manch gutes Wort über die Deutschen, weil sie einst England bombardiert haben; die Araber würdigen sie für den Versuch, die jüdische Bevölkerung auszurotten; die Japaner sehen den Deutschen gerne im Fernsehen beim Jodeln zu; und die Russen halten die deutschen Pornofilme für die härtesten der Welt. Ich habe sie selbst nicht gesehen, man hat es mir erzählt.
Die meisten Ausländer schöpfen jedoch ihre Informationen über Deutschland aus alten Kriegsfilmen. Eine Bekannte, die als selbstständige Reiseunternehmerin Touristengruppen durch Berlin führt, erzählte mir neulich, dass sie für die deutschen und ausländischen Gäste zwei völlig unterschiedliche Reiserouten hat. Den Deutschen zeigt sie, wo Marlene Dietrich heiratete und in welcher Kneipe Ringelnatz seine Gedichte schrieb. Auf Englisch erzählt sie, wo Himmler seine Brötchen holte und wo Goebbels’ Zahnarzt praktizierte. Diese Informationen entsprechen den alten Filmklischees, die noch immer das Deutschlandbild der Amerikaner, Briten und Franzosen prägen. Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass die Filmklischees nicht immer falsch liegen. So hatte ich lange Zeit als leidenschaftlicher Anhänger des amerikanischen Actionkinos eine bestimmte Vorstellung von den Vereinigten Staaten. In meinem Amerika flippten die Bürger ständig aus, sie schossen mit Gewehren um sich, konsumierten tonnenweise Drogen, wurden blitzschnell steinreich oder umgekehrt sauarm, sie fuhren alte und neue Autos zu Schrott, rappten in Gefängniszellen und führten gerne Kriege in fernen Ländern. Nun habe ich Amerika endlich persönlich bereist und kann sagen, meine Klischees haben sich im Wesentlichen bestätigt.
Im russischen Fernsehen ist das Deutsche zurzeit dank der Bierwerbung für die Marke Bavaria präsent, obwohl dieses Bier nicht aus Deutschland, sondern aus St. Petersburg kommt. In dem Werbespot sieht man einen älteren Mann hinter einem großen gefüllten Bierglas sitzen und nachdenken. Ein jüngerer, möglicherweise der Sohn des Biertrinkers, klopft ihm auf die Schulter und fragt: »Na, Alter, alles in Ordnung?«
»Alles wie in Bayern!«, antwortet der Alte und kneift ein Auge zu.
Das tue ich an dieser Stelle auch. Die Ordnung überlassen wir aber den Bayern, denn in diesem Buch soll es eigentlich nur um Berlin gehen.
 
 
 
TIPP:1
Als Ausgehtipp möchte ich Ihnen den Alexanderplatz empfehlen, besonders das Polizeipräsidium dahinter. Dort werden keine Aufenthaltserlaubnisse mehr erteilt, sondern in Polen gebaute deutsche Autos TÜV-geprüft. Daneben gibt es dort auch noch einen Fahrrad-TÜV. Außerdem befindet sich unter der S-Bahnbrücke noch die kleinste Schwulenkneipe Berlins – die Besenkammer. Und im Foyer des Fernsehturms steht ein Zauberautomat, der das Schicksal eines jeden anhand einer bloßen Unterschrift ausspuckt – gegen eine geringe Gebühr. Das Geschäft wurde vor sechzehn Jahren von den faulen Russen gegründet, auf der Suche nach Möglichkeiten, ohne Arbeit reich zu werden.

Berlins Geschichte in Kürze
Vor langer, langer Zeit, als die Grenzen Europas noch nicht festgelegt waren, tummelten sich zwischen Elbe und Oder verschiedene Stämme auf der Suche nach einer gemütlichen Bleibe. Aus dem Osten und Süden kamen welche, die einem Affenkult anhingen, es drängte sie stets, auf Bäume zu klettern. Aus dem Norden und Westen drangen kriegerische Stämme in das Gebiet ein, denen Bären heilig waren und die deswegen vier Monate im Jahr in Winterschlaf fielen. An der Stelle des heutigen Berlins stießen diese Stämme aufeinander. Ihre Kämpfe dauerten an, weil die einen sich stets auf den Bäumen in Sicherheit brachten und die anderen immer wieder einschliefen. Als sie nach Jahren merkten, dass es in diesem Krieg keine eindeutigen Gewinner geben konnte, teilten sie sich die Beute. Die Bärenmenschen zogen nach Spandau an die Havel, die Affenmenschen gingen nach Köpenick an die Spree.
Mit der Zeit kamen sie einander etwas näher, manche heirateten sogar gegen den Willen ihrer Eltern ins fremde Lager ein. Nach einer solchen Heirat durften sie sich aber weder in Köpenick noch in Spandau wieder blicken lassen, und so siedelten sie sich irgendwo dazwischen an. Dort, in den Sümpfen des Neolithikums, kamen die ersten Berliner zur Welt – Zwitter aus Affen und Bären. Diese Spezies erwies sich zwar als etwas muffelig, war aber durchaus überlebensfähig. In ihrer Mentalität verbanden die Urberliner die besten Eigenschaften ihrer Vorväter: die Grazie eines Bären mit der Schläue eines Affen. Sie ließen sich nicht von den anderen Frischeuropäern dumm von der Seite anquatschen und schliefen den ganzen Winter über.
Während die anderen Ureinwohner Europas sich anschickten, ihre Städte möglichst schnell auf Weltniveau zu bringen, konnten die Berliner der Streberei des Mittelalters nichts abgewinnen. Sie hielten sich demonstrativ aus allem heraus, wurden christianisiert, ohne es überhaupt mitzubekommen, und zu Zeiten der Reformation, als Martin Luther seine fünfundneunzig Thesen an die Wittenberger Kirchentür nagelte, konnten sich die Berliner als Einzige nicht entscheiden, ob sie nun Kalvinisten oder Katholiken sein wollten. Sie wollten nur in Ruhe gelassen werden. Während des Dreißigjährigen Krieges wechselten die Berliner jedes Jahr die Seiten und schickten ihre Truppen mal in die eine, mal in die andere Richtung. In der Regel immer dorthin, wo gerade am wenigsten los war. Sie akzeptierten weder Peitsche noch Zuckerbrot. Egal, was man ihnen anbot, sie waren immer dagegen.
Doch die Zeiten waren hart. Der Widerwille und Eigensinn der Berliner konnten die Stadt nicht auf Dauer vor Monarchen, Kaisern und Führern retten. Unzählige Male war Berlin deswegen im Laufe der Geschichte dem Untergang geweiht. Doch nach jedem Brand, nach jeder Zerstörung bauten die Berliner ihre Stadt wieder auf, und zwar immer genauso wie früher. Man nannte das Sanierung. Mit der Zeit entwickelte sich daraus ein regelrechter Wiederaufbau-Tick, den sie bis heute nicht überwunden haben. Die Bauarbeiten dauern das ganze Jahr an und gehören längst zu den festen Sehenswürdigkeiten der Stadt: »Jede Baustelle eine Schaustelle« – so nennt man das hier. Auch fünfzig Jahre nach dem letzten Krieg werden in Berlin täglich Häuser planiert und wieder aufgebaut.
Der Name der Stadt wird laut Berichten der westeuropäischen Historikerkommission vom Markgrafen Albrecht abgeleitet, dem Anführer der Bärenmenschen, der angeblich den Spitznamen »Bär« trug. Diese Version wird jedoch von der osteuropäischen Historikerkommission nicht bestätigt. Sie behauptet, der Name »Berlin« käme aus dem Slawischen und bedeute so viel wie »Gut gemistete Gegend«.
Nach dem letzten Weltkrieg wurde Berlin von den Siegermächten wieder in seine ursprüngliche Zwei-Stadt-Form gebracht, wobei sich das ehemals dem Affenstamm zugehörige und fortan sozialistisch geführte Ostberlin von seinen Bärenbrüdern im Westen mittels einer Mauer trennte. Sie bekam den protzigen Namen »Berliner Mauer« und hielt beinahe vierzig Jahre. Noch heute ist dieses Bauwerk mit Abstand die spannendste Attraktion der neuesten deutschen Geschichte, die das Land den Touristen zu bieten hat. Wenn Sie Berlin besuchen und auf der Suche nach der Berliner Mauer durch die Stadt flanieren, sollten Sie auf gar keinen Fall einen Einheimischen nach dem Weg zu fragen. Der wird Sie bestimmt verarschen und auf irgendeine Parkanlage zeigen. Ich erlaube mir hier, ein großes Geheimnis dieser Stadt zu lüften: Die Mauer gibt es seit siebzehn Jahren nicht mehr. Sie ist wie die Bastille in Paris längst abgerissen worden. Ein richtiger Berliner Reiseführer wird Sie bestimmt zum Check Point Charlie schicken, dem ehemaligen innerstädtischen Grenzübergang. Dort kann man angeblich noch die Überreste der Mauer sehen. Diese Überreste werden dort, in kleinen Tütchen verpackt, von türkischen Balalaikaverkäufern zu erschwinglichen Preisen an amerikanische und japanische Touristen verscherbelt. Die Tütchen werden in China hergestellt, die Steine sind auch nicht echt. Wahrscheinlich kommen sie aus Polen. Aber das interessiert keinen.
 
 
 
TIPP:
In Berlin gibt es mehrere Bärenzwinger. Von den meisten Reiseführern werden sie ignoriert. Einer befindet sich in Mitte – im Köllnischen Park neben dem Märkischen Museum, ein weiterer in Lichtenberg – neben dem Eingang zum Tierpark Friedrichsfelde. Dazu kommen noch jede Menge frei lebende Waschbären in den Außenbezirken der Stadt, wo sie teilweise eine wahre Plage sind. Eine noch wahrere Plage sind aber die tausende von Plastikbären in Kriegsbemalung, die vor besonders lokalpatriotischen Unternehmenssitzen stehen. Diese Bären wurden von Künstlern aus aller Welt bemalt. Die Idee dazu stammt von einem Frankfurter Avantgarde-Künstler, der auch mal richtig Geld verdienen wollte. Den Anfang machte jedoch die Stadt Zürich – mit bunten Plastikkühen.

Berliner Kuppe
Ein hier weitverbreiteter Spruch lautet: »Berlin ist nicht Deutschland.« Dem stimme ich zu. Wer Deutschland sehen will, der muss in den Wald gehen. Zweiundachtzig Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik sehr kompakt auf zwölf Prozent ihres Territoriums, einschließlich Verkehrsflächen. Die restlichen Prozent sind Wälder und Felder, Seen und Flüsse. Eigentlich ein idealer Fleck zum Urlaubmachen. Trotzdem gelten die Deutschen als reiselustigste Nation der Welt. Jedes Mal wenn die Urlaubszeit ausbricht, verlassen sie ihre heimischen Kurorte und suchen das Weite. Die Bürger der ehemaligen DDR hatten ihr Recht auf Urlaub im Ausland 1989 sogar zu einer politischen Forderung gemacht. Sie gingen auf die Straße mit Plakaten wie »Visafrei nach Hawaii« oder »Ohne Scham nach Pakistan« (na gut, das zweite habe ich mir ausgedacht) und errangen damit die deutsche Wiedervereinigung.
»Wie war’s denn? Das erste Mal auf Hawaii?«, wollte ich meine Ostberliner Bekannten fragen, fand aber niemanden, der tatsächlich nach Hawaii gefahren war. Vielleicht sind die ersten ostdeutschen Hawaiitouristen gar nicht mehr zurückgekommen? Dabei hatte die DDR so viele Urlaubsmöglichkeiten zu bieten. Ihre naturparadisischen Landschaften haben noch heute den höchsten Attraktivitätsindex: Mecklenburgische Seenplatte, Leipziger Tieflandsbucht, Thüringer Wald … Was man hat, schätzt man jedoch nicht.
Heute ist der Traum von Fernreisen im Großen und Ganzen ausgelebt, die veränderten Arbeitsbedingungen, die uneingeschränkte Freizeit auf Lebenszeit geben einem Urlaub zu Hause neuen Sinn. In den Jahren nach dem Mauerfall wurde Ostdeutschland außerdem dermaßen schick herausgeputzt, dass es nun reif für jeden anspruchsvollen Reisekatalog ist. Insofern wundert es nicht, dass die Ostdeutschen ihren Urlaub wieder zu Hause verbringen, während sie zur Arbeit in den Westen fahren. Gleichzeitig werden ihre ostdeutschen Moor- und Heilbäder, die alten Schlösser und Kirchen gerne und häufig von westdeutschen Rentnern besucht, die busweise durch Brandenburg oder Sachsen touren.
Auf Kurortebene hat sich die Wiedervereinigung überall vollzogen, nur in Berlin ist die Lage noch nicht so erfreulich. Die deutsche Hauptstadt fehlt in der allgemeindeutschen Kurort-Tauglichkeitstabelle komplett, sie kann gerade noch in der unteren Spalte »festlegbare landschaftliche Vielseitigkeit« einen Platz finden. Erforderlich dafür sind »ein geringer Waldanteil und Vorhandensein von Wasser oder mindestens einer Bergkuppe«. Diese unsichtbare Berliner Bergkuppe steht exakt dort, wo früher die Mauer verlief. Auf beiden Seiten des Berges leben Menschen, die nicht gern klettern. Und so bleiben die meisten unter sich.
»Neulich musste ich einen Umweg fahren, über den Westen«, hört man, oder: »Ich kenne da einen Arzt im Osten.«
»Wo wohnen Sie denn? Ist das noch Osten oder schon Westen?«, fragte mich neulich eine Beamtin im Landeseinwohneramt, als ich dort eine Einladung für meine Petersburger Freunde bestätigen lassen wollte.
»Ich wohne in Berlin«, sagte ich. »Vielleicht ist Ihnen entgangen, dass die Mauer vor sechzehn Jahren gefallen ist.«
»Nein, das ist mir nicht entgangen«, die Beamtin blickte mir tief in die Augen, »denn ick muss jeden Abend nach Wedding durch den Osten fahren.«
Irgendwas hatte sie gegen den Osten.
»Ach, Sie wohnen in Wedding? Schön, so orientalisch«, konterte ich.
Im Nachhinein war mir dieser plötzlich ausgebrochene Ostpatriotismus etwas peinlich. Auch bei uns hinterm Berg führen die meisten ein Leben in der vertrauten Ostumgebung und sind so gut wie nie drüben.
Ein Freund von uns lernte vor einem Jahr eine Westberlinerin auf Ibiza kennen, sechs Monate später zog sie bei ihm ein.
»Warum fährst du immer nach Charlottenburg zum Frisör?«, regte er sich auf. »Das ist doch pure Zeitund Geldverschwendung!«
Er selbst ging seit zwanzig Jahren zu seinem Ostfrisör, dem besten auf dieser Seite – ein Udo Walz des Ostens, zuverlässig und preiswert. Früher soll er sogar Honecker und dem gesamten Politbüro die Haare geschnitten haben, erzählte unser Bekannter. Trotz dieser Antiwerbung ging seine Freundin hin.
Der Udo Walz des Ostens hatte einen eindrucksvollen Auftritt: »Sagen Sie nichts! Ich bitte Sie, schweigen Sie!«, wuselte er mit den Händen. »Als ick Ihren Kopf sah, hatte ick sofort ne Fision.« Er ging rasch an die Arbeit. Die Folge seiner Vision war, dass die arme Frau einen Nervenzusammenbruch erlitt, einen Monat lang nur mit einer merkwürdigen Perücke das Haus verließ und noch antikommunistischer wurde, als sie es vorher war.
Daneben habe ich bemerkt, dass die gerissensten ostdeutschen Geschäftsmänner immer ostdeutsche Steuerberater haben. Ich habe mit den Steuerberatern auf beiden Seiten des Berges bereits Erfahrungen gemacht und weiß daher, wie unterschiedlich sie sind. Die westlichen haben in der Regel einen großen Empfangsraum und mehrere Sekretärinnen, die alles notieren, was der Chef sagt, selbst wenn er nur hustet oder von seinem Urlaub auf Hawaii erzählt. Der westliche Steuerberater macht immer den Eindruck, als hätte er selbst mehr Kohle als all seine Kunden zusammen. Das verunsichert den ostdeutschen Geschäftsmann und sorgt für Minderwertigkeitskomplexe. Außerdem versteht er oft nicht, was der Berater ihm rät. Der östliche Steuerberater sieht aus wie ein ehemaliger Unteroffizier der NVA, läuft in einer Lederjacke durch die Gegend, kann tätowiert beziehungsweise leicht gepierct sein und empfängt seine Klienten gern in einer Kneipe. Dabei kommt er gleich zur Sache.
»Dat würde icke an deiner Stelle anders machen, denn wenn die kommen, schauen sie sich dit und dat an.«
Und jedem ostdeutschen Geschäftsmann ist sofort klar, was damit gemeint ist.
Genauso verhält es sich hier auch mit den Kinderärzten, Lebensmittelverkäufern, Saunamitarbeitern und Diskothekenbesitzern. Und wenn man zu einem Taxifahrer aus dem Westen sagt »Fahren Sie mich bitte ins Zentrum«, landet man fast immer irgendwo am Ende der Welt – in Charlottenburg.
Erst in den letzten Jahren ist der Prozess der Annäherung langsam in Gang gekommen – durch den Ausbau der berlintypischen landschaftlichen Attraktivitäten und die damit verbundene Migration der Arbeitskräfte aus dem Westen. Diese Arbeitskräfte machen sich sofort die regionalen Sitten und Gebräuche zu eigen und sind schon nach kurzer Zeit als Wessis nicht mehr erkennbar. So erfuhr ich, als ich mit diesem Kapitel fast fertig war, dass mein tätowierter Steuerberater, der so perfekt berlinern konnte, in Wirklichkeit aus Heidelberg kam. Ein Schock.
 
 
 
TIPP:
Na gut, mit den Parolen habe ich es etwas künstlerisch überspitzt. Die wahre DDR-Parole von damals lautete: »Freie Fahrt nach Gießen«. Aus heutiger Sicht hört sich das allzu lächerlich an, denn wer will schon freiwillig nach Gießen? Weil es in Berlin alles doppelt gibt, hat die Stadt auch zwei Teufelsberge und zwei Teufelsseen – einen im Grunewald und einen südlich des Müggelsees. Ebenso gibt es auch zwei Berge mit Künstlern obendrauf: den Kreuzberg im Westen und den Prenzlauer Berg im Osten. Hier wurde einst unter Stasi-Aufsicht eine Wilde Poesie kultiviert, dort wurden unter Marktzwängen die Jungen Wilden kreiert. Man merkt es zwar kaum, dass es hochgeht, wenn man den Prenzlauer Berg erklimmt, aber den Kreuzberg erkennt man schon von weitem an seinem künstlichen Wasserfall und dem neogotischen Schinkeldenkmal für die so genannten Freiheitskriege.

Berliner Großereignisse
Die Berliner gehen gerne aus, mindestens zweimal im Jahr. Zwar werden täglich in der Hauptstadt jede Menge unbedeutende Ereignisse als große Events in der Presse angepriesen, doch von den wahren Großstadt-Partys, die dem Berliner ans Herz gewachsen sind, gibt es nur zwei: Berlinale und Grüne Woche. Beide finden mitten im Winter statt, wenn die Nächte lang und die Tage kurz sind und die Kälte den Menschen schwer zu schaffen macht. Man kann nicht mehr draußen auf der Parkbank sitzen, in der Stammkneipe fällt permanent die Heizung aus, in der Bierkiste auf dem Balkon platzen jede Nacht die Flaschen. Kein Wunder, dass viele um diese Jahreszeit depressiv werden oder sogar durchdrehen. Manch einer kann nicht einschlafen, manch anderer nicht aufstehen, immer mehr Leute vereinsamen. Sie rufen bei der Seelsorge an, bei der Feuerwehr oder beim Auswärtigen Amt und drohen damit, sich selbst als Geisel zu nehmen: Wenn nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine Million Euro in kleinen Scheinen und zwei Kisten Bier vor ihrer Tür stehen, werden im Internet die Köpfe rollen – und zack! legen sie auf.
Um solche destruktiven Handlungen zu verhindern und die Bürger von ihren düsteren Gedanken abzulenken, werden die Hauptevents hier im Winter veranstaltet. Beim Filmfestival Berlinale kann der Berliner Filme sehen, die sonst niemand auf der Welt bisher gesehen hat. Auch kann man dort jede Menge tolle Schauspielerinnen kennenlernen, die niemand kennt. Bei der Grünen Woche werden etliche ausländische Lebensmittel präsentiert, die es durch die äußerst strengen Kontrollen des Gesundheitsamtes bis nach Berlin geschafft haben. Viele sind es nicht. Die russischen Lebensmittel zum Beispiel, die in Deutschland verkauft werden, werden auch in Deutschland produziert. Deswegen schmecken sie so komisch: weder russisch noch deutsch, irgendwie multikulturell. Die Originalprodukte entsprechen nicht der deutschen Norm, weil sie von allem zu viel beinhalten. Die Konfitüre hat zu viel Zucker, die Wurst ist zu fett, der Senf schmeckt zu scharf, der Alkohol zu alkoholisch und die Salzgurken zu salzig. Sie sind sehr lecker, sorgen aber oft für unerwartete Magengeräusche. Der Verzehr dieser Produkte kann unter Umständen den Menschen in ihrer Umgebung Schaden zufügen.
Bei der Grünen Woche werden außer Wodka nur pseudorussische Waren ausgestellt. Trotzdem gehen wir jedes Jahr dorthin, um unsere Nostalgie zu stillen und die Kinder zu unterhalten. Die Grüne Woche bietet nämlich Spaß für die ganze Familie. Eltern können dort an jeder Ecke ein alkoholhaltiges Erfrischungsgetränk aus weit entfernten Ländern zu sich nehmen und Kinder eine echte Kuh aus Brandenburg unter Aufsicht des Dienst habenden Fachpersonals sowie in Begleitung ihrer schon leicht betüdelten Eltern melken. Die ersten sechs Tage wird die Grüne Woche traditionsgemäß nur mäßig besucht. Die echten Berliner gehen erst am letzten Tag auf die Messe. Von Montag bis Samstag schauen sie sich den Event im Fernsehen an, schneiden sich Gutscheine dafür aus den Zeitungen aus, essen und trinken nichts und halten sich in Form. Am letzten Tag, wenn die Aussteller schon mit dem Abbauen begonnen haben und nicht wissen, wohin mit ihrem ganzen Zeug, schlagen die Berliner zu. Erst wird die Kuh aus Brandenburg in Sekunden leer gemolken, dann laufen alle zum Italiener – »Zehn Würste drei Euro!« -, dann zum Franzosen – »Der hatte letztes Jahr gutes Porzellan« -, von dort weiter zu der Riesensahnetorte, die von der Eröffnung noch übrig geblieben ist. – »Mit Bier geht alles.«
Wir gehen unseren eigenen Weg. Als Erstes besuchen wir aus lauter Patriotismus den russischen Pavillon. Die russische Halle erinnert tatsächlich an unsere Heimat: Sie ist sehr groß, und es gibt nichts zu essen. Dafür ganz viele Broschüren über die letzten besonders erfolgreichen Ernten und die Fortschritte in der Landwirtschaft, einen großen tiefgefrorenen Fisch, einen überdimensionalen Rasenmäher in der Mitte und drum herum Plakate mit angemalten Würsten.
»Wir sind nicht hierhergekommen, um die Berliner zu füttern, sondern um wichtige wirtschaftliche Kontakte zu knüpfen!«, erklären uns unsere Landsleute, die den gefrorenen Fisch bewachen.
»Alles klar«, sagen wir, »unsere Nostalgie ist befriedigt, wir gehen zum Ukrainer essen.«
Die ukrainische Halle muss man nicht lange suchen, sie ist traditionell neben der russischen angesiedelt. Außerdem hört und riecht man die ukrainische Küche schon von weitem. Auf jedem Quadratzentimeter Fläche wird dort gebraten, gegrillt, gekocht und eingeschenkt. Junge Mädchen in volkstümlichen Büstenhaltern tanzen auf der Bühne, und langhaarige Jungs imitieren trashige ukrainische Folklore auf einem exotischen Instrument, das einmal ein Keyboard war, bevor es in die Ukraine auswanderte. Am Ende des Tages sind die Ukrainer alle satt und betrunken, und die Russen haben viele Kontakte geknüpft. Wir dagegen haben Schwierigkeiten, den Ausgang aus dem ukrainischen Pavillon zu finden. Der Pfefferwodka, ein Teufelszeug, bricht unseren Konsumentenwillen, macht uns weich und für alle Angebote offen. Der einzige Weg vom Ukrainer an die frische Luft führt unglücklicherweise durch die Halle, in der Jacuzzis verkauft werden. Kaum bleibt man bei einem solchen Whirlpool stehen, schon fragen einen die Verkäufer, ob man fünf Minuten Zeit für sie hätte. Und jedes Mal kaufe ich dort unfreiwillig einen Jacuzzi, den ich am nächsten Tag wieder umständlich abbestellen muss.
Dieses Jahr haben wir ein besonders heikles Exemplar erwischt: »Palermo« – ein Sechssitzer mit Unterwasserbeleuchtung. Zuerst blieben die Kinder vor dem Gerät stehen, und die junge Verkäuferin sprach uns sofort an, ob wir schon mal daran gedacht hätten, einen Jacuzzi für die ganze Familie zu erwerben.
»Eigentlich nicht«, antworteten wir wahrheitsgemäß.