ISBN eBook: 978-3-649-62329-8

© 2016 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Sarah Bosse

Covergestaltung: Cornelia Niere unter Verwendung

eines Fotos von Janina Albig

Lektorat: Steffi Korda, Büro für Kinder- und

Jugendliteratur, Hamburg / Frauke Reitze

www.coppenrath.de

Das Buch (Hardcover) erscheint unter der ISBN 978-3-649-67077-3

Yin und Yang

Ich hatte gleich gesagt, dass es eine Schnapsidee war, die Campingtour genauso durchzuziehen, wie wir sie geplant hatten. Aber auf mich hörte ja wieder keiner. Schon gar nicht die Jungs.

Wir sollten uns mal nicht so anstellen, meinte Löti. Das bisschen Regen würde uns schon nicht den Spaß verderben. Nein, mir verdarb der Regen nicht den Spaß – aber er kannte doch die anderen Mädels!

Ich wusste natürlich, warum die Jungs unsern Trip auf keinen Fall abblasen wollten. Es war die letzte Möglichkeit, zusammen etwas wirklich Cooles zu unternehmen, bevor alles anders werden würde.

Unsere gemeinsame Schulzeit war zu Ende …

Nun saßen wir allerdings erst mal in der Aula, aufgehübscht bis zum Gehtnichtmehr. Wie lange hatten wir auf diesen Augenblick gewartet! Vorn auf der Bühne stand Herr Theisen, unser Schulleiter, wie immer adrett gekleidet, das silbergraue Haar lässig, aber perfekt frisiert. Sein Lächeln kam ehrlich rüber. Man kaufte ihm ab, dass er froh war, dass wir alle mit einem Abschluss von der Schule gingen. Auch die Wackelkandidaten hatten es letztendlich knapp geschafft.

Neben ihm unser Klassenlehrer, etwas konfus, mit ungeputzter Brille, aber heute zumindest im Sakko. Ich würde ihn vermissen, unseren Herrn Bohn, von uns auch liebevoll Mr. Bean genannt. Er hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Und er konnte gut Mathe erklären.

Unsere Parallelklasse dagegen war vermutlich nicht allzu traurig, ihre Klassenlehrerin endlich los zu sein. Inga Goldmann mit spitzer Nase und spitzem Mund hatte ein ebenso spitzes und falsches Lächeln aufgesetzt, als sie nun ihren Schützlingen das Entlasszeugnis überreichte. Einem nach dem anderen.

Vom Rektor gab es dazu einen festen Händedruck und eine rosafarbene Rose.

Ich war froh, dass ich im Alphabet erst irgendwann in der Mitte kam. Und jetzt war eh erst die Parallelklasse dran. So hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig abzulenken, indem ich meinen Blick durch die Reihen schweifen ließ. All die stolzen Eltern! Manche fingerten nervös am Programmheft herum, den Blick fest auf die Bühne geheftet.

Über einige der Jungs musste ich grinsen. Man sah ihnen an, dass sie sich völlig deplatziert fühlten in ihren schicken Anzügen und kaum wussten, wie sie sich darin bewegen sollten. Das war schon ziemlich schräg. Der Weg nach vorn, wo Frau Goldmann ihnen das langersehnte Stück Papier in die Hand drückte, musste ihnen vorkommen wie ein kilometerlanger Balanceakt über den Schwebebalken. Auf dem Rückweg zum Platz der krampfhafte Versuch, lässig zu wirken, das verlegene Lächeln im hochroten Gesicht und dann noch mit einer Rose in der Hand – wie peinlich! Der Anblick war unbezahlbar.

Und erst die Mädchen! Ich wusste, dass einige von ihnen mehrere Stunden beim Friseur zugebracht hatten – ziemlich affig. Es waren dieselben, die sich ständig in ihren Posts im Internet ein zuckersüßes »Du Schöne«, »Du Süße« oder »Lieb dich, du Bezaubernde« schenkten, wenn sie mal wieder frisch gestylt ein neues Profilbild hochgeladen hatten. Ich fand dieses Getue megapeinlich. Aber ich hielt mich mit Kommentaren zurück.

Zugegeben: Auch ich, der es sonst herzlich egal war, wenn bei meinen Ausritten mit Djego der Nieselregen meine Haare an den Kopf klebte oder wie Sauerkraut kringelte – auch ich hatte mir heute Morgen besondere Mühe beim Föhnen gegeben und sogar ein bisschen von Mamas Haarspray über die Frisur genebelt, damit nicht alles gleich wieder zusammenfiel wie ein Käsesoufflé, das man zu hastig aus dem Ofen genommen hatte. Ich fand mich in dem weinroten Etuikleid und den halbhohen Pumps sogar ziemlich sexy, obwohl ich sonst eher Jeans und Stiefel bevorzugte – praktische Stallkleidung halt. Für heute war dieses Outfit perfekt und ich fühlte mich sogar richtig wohl darin.

Aber uns allen ging es in diesem Moment vermutlich ähnlich: die Hände eisig, die Achseln verschwitzt, der Kopf heiß, unangenehm kalter Schweiß auf dem Rücken. Das war die Aufregung.

Mama saß neben mir. Sie trug einen schicken schlammfarbenen Leinen-Hosenanzug und schenkte mir ein warmes Lächeln. Sie war so stolz, dass ich einen guten Schulabschluss gemacht hatte, mit dem mich lockerflockig jede Fachoberschule nehmen würde! Denn das war der Plan. Nach den Ferien würde ich weiter zur Schule gehen. Aber das war noch weit hin, dazwischen lagen die Ferien: Sonne, Urlaub, Lesen, Nichtstun – und vor allem Reiten.

Mama durfte wirklich stolz sein, denn es war auch ihr Verdienst. Sie unterstützte mich, wo sie konnte. Und das war oft nicht leicht gewesen. So manchen Abend hatte sie mit mir zusammengesessen und für die Schule gebüffelt, obwohl sie nach einem anstrengenden Acht-Stunden-Tag im Planungsbüro müde gewesen war.

Auch Manuel hatte sich heute freigenommen. Ich fand es nett von ihm, dass er diesen Moment mit uns teilen wollte. Er war schon okay, Mamas Freund. Manchmal vielleicht etwas anstrengend. Aber okay.

Plötzlich spürte ich Mamas spitzen Ellenbogen in den Rippen und Herr Bohn sagte meinen Namen ins Mikrofon. »Jana Köhnen, kommst du bitte nach vorn?«

Ich sprang auf, knallte meiner Mutter die kleine Handtasche auf den Schoß, die ich zum Schulabschluss von meinem Patenonkel Stefan geschenkt bekommen hatte, und huschte durch die Stuhlreihe zum Gang und weiter nach vorn.

»Gut gemacht, Jana, ein tolles Zeugnis«, lobte Herr Bohn.

Als er mir mein Abschlusszeugnis überreichen wollte, glitt es ihm, unbeholfen, wie er manchmal war, beinahe aus der Hand. Mein Arm schnellte nach vorn und meine Finger konnten gerade noch nach dem Zeugnis schnappen, bevor es zu Boden segelte.

»Gute Reflexe!«, lachte Herr Bohn. Sein abgewetztes Sakko verströmte kalten Zigarrengeruch. »Und ein ›Sehr gut‹ in Mathematik«, konnte er sich nicht verkneifen zu erwähnen.

Es war mir nicht einmal unangenehm, wie ich da stand und mir nun den Glückwunsch des Rektors und die schöne altrosa Rose abholte. Denn auf die Eins in Mathe war ich besonders stolz. »Ist Ihr Verdienst«, hätte ich gern noch zu Herrn Bohn gesagt, aber ich war dann auch lang genug vorn gewesen und wollte die Bühne frei machen für den Nächsten.

Und das war Marc.

Mit federnden Schritten kam er mir auf dem Gang entgegen, als ich zu meinem Platz zurücklief. Seine aschblonden Locken tanzten um sein Gesicht und er zwinkerte mir zu.

Die letzten Meter bis zu meinem Platz schwebte ich. Manuel drückte kurz meinen Arm und lächelte mich an, und als ich mich neben Mama auf meinen Stuhl plumpsen ließ, umarmte sie mich stürmisch und drückte mir einen dicken Kuss auf die Backe.

»Mama!«, stöhnte ich. »Du zerknitterst mein Zeugnis!«

»Oh, sorry!« Mama kicherte wie ein junges Mädchen in sich hinein. Und kicherte noch, als sie sich wieder zurücklehnte.

Ich schloss für einen Moment die Augen und überlegte, seit wann mein Herz so heftig schlug, wenn ich Marc begegnete. Schließlich kannten wir uns schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Dann machte ich die Augen schnell wieder auf, denn ich wollte nicht verpassen, wie Herr Bohn ihm das Zeugnis überreichte und Marc danach zu seinem Platz zurückging. Mit federnden Schritten. Und tanzenden Locken.

Ich brauchte dringend frische Luft.

Als ich die schwere Metalltür zum hinteren Schulhof aufschob, schlug mir die Kälte wie eine Wand entgegen, und sogleich bildete sich eine Nebelwolke vor meinem Mund, in die ich übermütig hineinpustete. Tief sog ich die Luft ein. Ich hätte nicht gedacht, dass es dermaßen abkühlen würde!

Gedämpfte Bässe wummerten durch die Nacht. Die Abschlussparty war in vollem Gange. Aus den Fenstern der Aula flackerte buntes Licht auf die grauen Pflastersteine.

Weil ich vom Tanzen so erhitzt war, legte sich die kalte Luft wie eine eisige Schicht auf meine Haut. Ich schauderte.

Dana und Sophie waren mir gefolgt. Sie waren genauso aufgekratzt wie ich und lachten über irgendeinen albernen Witz. Dana stolperte. Cola schwappte aus ihrem Glas, was eine neue Lachsalve auslöste.

»Scheiße, klebt das!« Dana schüttelte sich die Tropfen von der Hand.

Sophie nahm mich fest in die Arme und wiegte uns beide hin und her. »Schule ist vorbei! Schule ist vorbei!«, trällerte sie fröhlich. »Sommer, du kannst kommen!«

In diesem Moment fühlte ich mich, als könnte ich es mit der ganzen Welt aufnehmen. Dana, Sophie und ich kannten uns schon seit der Grundschule. Gemeinsam hatten wir alle Aufs und Abs bewältigt, mit vereinten Kräften im achten Schuljahr Sophie davor gerettet sitzenzubleiben, hatten Dana über die lange Zeit der Trauer hinweggeholfen, als ihre Mutter tödlich verunglückt war, hatten gemeinsam über Lehrer gepestet, über Mitschülerinnen gelästert und für Jungen geschwärmt. Und nun wurden wir gemeinsam in die Freiheit entlassen!

Ich hatte jedoch zu viele von den alkoholfreien Cocktails getrunken, die die Neuner an einer Theke verkauften, die sie mit Schilfgras und Lampions zu einer ganz ansehnlichen Beachbar umgestaltet hatten. Mir war ein bisschen schlecht von all dem süßen Zeug. Sophies Hin- und Hergewackel machte das nicht besser. Lachend befreite ich mich aus ihrer Umklammerung. Sie hob die Handfläche vor ihren Mund und tat so, als pustete sie etwas Unsichtbares, das darauf lag, in meine Richtung. »Feenstaub!«

Das machten wir immer so. Als Zeichen dafür, dass unser Leben gerade ganz besonders glitzerte. Also so, dass unser Glitzern und Strahlen alle und alles um uns herum in einen zauberhaften Glanz tauchte. Oder dann, wenn wir meinten, unser Leben brauche gerade ganz dringend eine Menge Glitzer. Wenn wieder irgendeine Katastrophe passiert war.

»Schade, dass Selisha schon nach Hause musste«, sagte Dana, legte den Kopf in den Nacken und sah in den sternklaren Nachthimmel. Die Himmelskörper funkelten so intensiv, als sei eine Handvoll von Sophies Feenstaubkörnchen hinaufgeflogen.

Selisha, die Vierte in unserer Mädelsrunde, hatte die Party schon viel früher verlassen, weil sie mit ihrer Mutter noch in der Nacht in den Urlaub aufbrechen wollte. Ihre Mutter hatte früher als Entwicklungshelferin in Sri Lanka gearbeitet und war dort nach einer kurzen Affäre mit einem Singhalesen ungewollt schwanger geworden, woraufhin sie Hals über Kopf nach Hause gereist war. Sie kannte noch nicht einmal den richtigen Namen des Mannes! Sie wollte ihn damals nie wiedersehen. Aber nachdem ein paar Jahre vergangen waren und sie mit sich selbst ins Reine gekommen war, flog sie mit ihrer Tochter immer mal wieder in das Land ihres unbekannten Vaters. Sie war der festen Überzeugung, dass die Reisen wichtig seien für Selishas Suche nach ihrer Identität. Selisha hielt ihre Mutter deswegen für ein bisschen plemplem, aber sie liebte Sri Lanka trotzdem, denn sie fand das Land wunderschön. So hatten drei von uns vieren – Dana, Selisha und ich – eins gemeinsam: Wir waren viele Jahre unseres Lebens mit nur einem Elternteil aufgewachsen.

Bei dem Gedanken an das tropisch warme Sri Lanka kroch mir eine Gänsehaut über den Körper. »Brrr, ist das kalt«, bibberte ich und rieb mir die Oberarme, während drinnen lautes Gegröle ausbrach. Der DJ hatte unseren Jahrgangssong angekündigt. »Vöööllig losgelöst vo-hon der Schuuule …!«, hörten wir die Schulkameraden mehr brüllen als singen.

Inzwischen hatten fast alle Erwachsenen die Party verlassen. Nur einige wenige Aufsichtspersonen waren noch da, von uns auserwählte partykompatible Vertrauenserwachsene, die ihren Job bisher ganz gut machten. Das hieß: Sie feierten kräftig mit. Sogar Mr. Bean hatte sich sein verquarztes Jackett ausgezogen und war unter dem Applaus seiner Schüler wie Rumpelstilzchen über die Tanzfläche gehüpft.

»Wie spät ist es überhaupt?«, fragte Sophie und zog sich ihren rosafarbenen Cardigan enger um die Schultern.

Doch alle drei trugen wir heute zu unseren schicken Partyklamotten keine Armbanduhr.

»Als ich das letzte Mal auf die Uhr in der Aula geschaut habe, war es halb eins«, erinnerte ich mich. »Das ist noch nicht so ewig her.«

»Also nicht mehr lange, bis Manuel uns abholt«, stellte Dana fest.

Sophie stieß mir mit dem Ellenbogen gegen den Arm. Etwas fester als gewollt – ausgelassen und albern, wie sie war. »Ey, kannst du ihn nicht anrufen und fragen, ob er ’ne Stunde später kommt?«

Ich winkte ab. Ich war ja froh, dass er sich überhaupt bereit erklärt hatte, uns abzuholen. »Kannste vergessen. Ich hab ihm doch schon eine Stunde länger aus den Rippen geleiert. «

Außerdem wollte ich am nächsten Vormittag zu Djego. Aber das behielt ich für mich. Was war schon ein Pferd, das man ohnehin zweimal in der Woche ritt, gegen eine Schulabschlussfeier, die es eben nur ein einziges Mal im Leben gab? Die anderen hatten so gar nichts übrig für meine Liebe zu den Pferden. Die Besitzerin des dunkelbraunen Wallachs, Frau Tarakci, hatte mir eine SMS geschickt, dass sie es an diesem Wochenende nicht zum Reiterhof schaffen würde. Und sie hatte gefragt, ob ich Djego am Sonntag bewegen könnte. Natürlich konnte ich!

»Ich glaub, dahinten sind die Jungs!«, rief Dana plötzlich und lief auch schon los in Richtung Fahrradunterstand. Ich wunderte mich einmal mehr, wie sie mit diesen High Heels laufen konnte. Ich hätte an ihrer Stelle schon längst mit Gips im Krankenhaus gelegen. Doch sie stolzierte aufrecht und mit wiegenden Hüften davon, als sei der Laufsteg ihr Zuhause.

Rauchwolken stiegen im Schein der Straßenlaterne auf. Löti und seine dämlichen Zigaretten! Löti hieß eigentlich Bastian. Aber er hatte uns vor einiger Zeit erzählt, dass er im Betrieb seines Onkels eine Klempner-Lehre machen würde. Der Onkel hatte ihm in Ermangelung eigener Kinder in Aussicht gestellt, ihm den Betrieb zu überschreiben, wenn er sich nicht allzu dusselig anstellte und auch den Meister schaffte. Seitdem klebte der Name Löti an ihm wie Honig am Bärenmaul.

Seufzend und frierend folgte ich Dana und Sophie, die nun Arm in Arm Richtung Fahrradständer liefen.

Beim Näherkommen erkannte ich Lötis und Tammos Stimmen. Löti kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, als er an seiner Zigarette zog, um sie dann Sophie hinzuhalten. Auch sie zog kräftig daran, gab sie Löti zurück und fing augenblicklich an zu husten.

Dana, Tammo und ich warfen uns vielsagende Blicke zu.

»Rauch mal noch eine. Hilft gegen Husten«, feixte Dana.

Tammo versenkte die Hände in den Hosentaschen und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Also, jedes Mal wenn Löti sich Kippen kauft, werfe ich fünf Euro in mein Black-Pig. Wenn der so weiterqualmt, hab ich meine neue E-Gitarre nächsten Monat zusammen.«

Wir alle kannten das riesengroße schwarze Sparschwein aus Porzellan, das auf Tammos Fensterbank stand und einen mit seinen schrillen Neonaugen anglotzte, wenn man auf das Haus zuging.

Löti tat so, als würde er mit der Schuhspitze auf Tammos Schienbein zielen.

Ich stöhnte. »Na, ihr müsst ja Kohle haben!«

Djego zu reiten und seine Box sauber zu halten, brachte mir zwar ein bisschen Taschengeld ein, aber große Sprünge konnte ich davon nicht machen.

»Andere kaufen Biomöhren, um damit einen Gaul zu füttern «, lallte Löti. Er hatte eindeutig ein paar Bier intus. Keine Ahnung, woher er die hatte. Da einige aus unserer Stufe noch nicht sechzehn waren, gab es – außer dem Glas Sekt beim Empfang – auf der Party keinen Alkohol. Was mich nicht störte. Aber ich wusste natürlich genau, worauf er anspielte. Ich hatte tatsächlich mal im Bioladen eine große Tüte voll Möhren für Djego gekauft und Löti hatte mich »erwischt«.

Mir war inzwischen so saukalt, dass ich meine Füße schon gar nicht mehr spürte.

»Leute, mir ist saukalt. Ich spüre meine Füße schon gar nicht mehr.« Im selben Moment legte mir jemand von hinten ein Jackett über die Schultern. Erschrocken fuhr ich herum. »Marc!«

Die Dunkelheit war mein Retter! Zum Glück stand ich nicht im Lichtkegel der Laterne, denn die Röte brannte regelrecht auf meinem Gesicht. Der weiche Futterstoff von Marcs Jacke schmiegte sich um meine nackten Arme. Seine Körperwärme steckte noch darin. Unwillkürlich zog ich das Jackett enger um mich. »Voll lieb von dir«, flüsterte ich.

»Kein Ding für ’n King«, versicherte Marc. »Du schlotterst ja schon.«

Ich tat, als kitzelte mich etwas am Ohr – damit ich den Kopf neigen und unauffällig an der Jacke schnuppern konnte, die so gut nach Marc roch.

»Hey, was geht?«, fragte Marc. »Was steht an die nächsten Tage?«

Als hätten wir uns abgesprochen, zuckten wir gleichzeitig mit den Schultern. Irgendwie war in den letzten Wochen alles auf diesen einen Tag zugelaufen. Wir hatten unsere Energie in die Planung der Feierlichkeiten gesteckt und uns so auf diesen Moment gefreut – der nun gekommen war.

»Kein Plan«, sagte Löti. »Jetzt fallen wir alle gemeinsam in ein tiefes schwarzes Loch.«

Tammo zeigte ihm einen Vogel. »Dann fall du mal schön allein. Also, ich fange am Montag meinen Ferienjob an.« Er hatte einen der heiß begehrten Jobs beim Bio-Großhandel ergattert, wo er im Lager Bestellungen für Kunden zusammenstellen musste.

»Eigentlich blöd.« Sophie kickte ein Steinchen weg. »Wir wollten doch zusammen Party machen, abhängen und so. Ich meine, so ewig lange bin ich ja nicht mehr da …«

Ja, nicht nur Löti würde uns verlassen, denn der Betrieb seines Onkels war zu weit weg, als dass er jeden Tag hätte fahren können. Auch Sophie war auf dem Sprung, um ein Praktikum in einer Kinder-Rehaklinik auf Borkum zu machen. Ein ganzes Jahr lang. Aber ein paar gemeinsame Wochen blieben uns noch.

»Wann genau haust du noch mal ab?«, fragte Marc.

»Am fünfzehnten Juli ist mein erster Praktikumstag«, sagte Sophie so leise, als würde sie ihren Entschluss schon wieder bereuen. Dann hob sie den Blick und sagte fast flehentlich: »Versprecht mir, dass wir es bis dahin noch so richtig krachen lassen, ja?«

Löti ließ seine Hand auf ihre Schulter sinken. »Darauf kannst du einen lassen, Lady. Und dann? Überleg mal. Dann kannst du jeden Tag an den Strand. Ist das geil oder ist das geil?«

»Ja, ist klar.« Sophie lächelte bereits wieder. »Ist halt so, dass ich jetzt schon weiß, dass ich euch tierisch vermissen werde.«

»Dann kommen wir dich eben besuchen«, versprach Tammo leichthin. »Don’t panic!«

»Apropos«, hakte Dana nach. »Was steht denn nun an? Ich meine … Urlaub wär schon klasse, aber ich befürchte, dafür fehlt mir die Kohle.«

»Schätzelein«, sagte Löti und legte nun Dana den Arm um die Schultern. Er hob die Hand und maß mit Daumen und Zeigefinger ein paar Zentimeter ab. »Urlaub gibt’s auch für den ganz kleinen Geldbeutel. Muss ja nicht gleich ein Trip nach Mallorca sein. Bevor Miss Sophie auf die Insel abhaut, machen wir zusammen noch eine coole Tour.«

Dana verzog den Mund. »Was für eine zum Beispiel?«

»Na, wir könnten campen gehen«, schlug Löti vor. »Zelten. Lagerfeuerromantik. Tammo nimmt bestimmt auch seine Klampfe mit und dann …«

Dana sah nicht gerade begeistert aus. »Zelten? Aber nicht mit Pipi machen im Wald und so!«

»Es gibt ja auch Campingplätze«, sagte Löti. »Da hast du Klos und Duschen und einen Kiosk und alles, was du brauchst. Lass das mal den Löti machen.«

Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts Nopel auf. Nopel war Tammos kleiner Bruder. Eigentlich hieß er Konstantin und war einer von den Cocktail-Mixern aus der Beachbar. Nopel zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Ey, da drinnen ist so ’n Typ, der sucht euch Mädels.«

»Schmales Gesicht, graue Haare mit Zopf, Ziegenbart?«, fragte ich.

Nopel nickte.

»Manuel«, sagten Dana, Sophie und ich wie aus einem Mund.

Mit der rechten Hand streifte ich mir langsam das Jackett von den Schultern und reichte es Marc. »Danke«, sagte ich und lächelte ihn an. »Ich schätze, die hat mir das Leben gerettet. «

»Das war der Sinn«, antwortete Marc.

Wir umarmten uns alle so fest, als gäbe es kein Wiedersehen. Der Moment war wirklich voller Emotionen. Dana, Sophie und ich winkten zum Abschied, bevor die Tür zur Aula uns verschluckte. Dann steuerten wir, getragen von den wummernden Bässen, durch die tanzende Menge auf den Eingang zu, wo Manuel auf uns wartete. Und ich fragte mich, ob man auf einem Campingplatz wohl auch ganz bestimmt ein Lagerfeuer machen durfte.

»Ich warte hier, bis du drinnen bist«, sagte Manuel, als wir zu Hause angekommen waren. Er hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert.

Ich war verdutzt. »Kommst du nicht mit rein? Also, pennst du nicht bei uns … bei Mama?«

Manuel schüttelte den Kopf. »Ich schlafe besser in meinem Appartement. Ich muss morgen …« Er blickte kurz auf die Uhr. »… ich meine, heute früh raus. Die erwarten mich um zehn Uhr bei meiner Mutter.«

Manuels Mutter war dement und lebte seit längerer Zeit in einem Seniorenstift in der Nähe von Hannover.

»Puh, dann aber schnell ins Bett«, sagte ich. »Da danke ich dir erst recht, dass du uns gefahren hast!«

Und da sagte Manuel etwas, das mich schmunzeln ließ: »Kein Ding für ’n King!«

Ich wollte Mama nicht wecken und machte deswegen das Licht nicht an. Im Schein der Straßenlaternen, der durch die Fenster hereinfiel, schlich ich leise durchs Haus, immer auf der Hut vor Enzo, unserem Kater. Er kam oft lautlos an und strich einem um die Beine – es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich über ihn gestolpert wäre. Aber er war nicht da. Vermutlich auf Checkertour, irgendwo draußen.

In meinem Zimmer knipste ich die Lavalampe im Bücherregal an. Und da sah ich ihn: Auf dem Schreibtisch stand ein riesiger Strauß mit kunterbunten Rosen! Davor lag ein Kärtchen mit einem handgekritzelten Smiley drauf. »Wir sind so stolz auf dich!«, stand da geschrieben. »Mama, Manuel, Oma Luise, Stefan & Enzo.« Hinter Enzo hatte Mama einen kleinen Pfotenabdruck gemalt.

Plötzlich musste ich weinen. Ich war total gerührt und fühlte mich irgendwie … verschwurbelt. Ich vermisste meine Freunde, die ich ja eben noch gesehen hatte.

Ich vermisste Marc.

Ich schloss die Augen und versuchte, mir seinen Geruch in Erinnerung zu rufen.

Bevor ich einschlief, ließ mich ein Geräusch noch mal hochfahren. Mein Smartphone vibrierte.

Nachricht von Sophie:

Ich fühl mich so … Yin und Yang. A

Owowow, das Leben ist krass.

Läuft da was zwischen Marc und dir?

Träum was Schönes.

Hdgdl.