Kapitel 1
»Ich liebe dich einfach nicht«, sagte er.
Es war die gemeinste Art, Schluss zu machen, die Grace jemals erlebt hatte. Und diesbezüglich hatte sie schon einiges erlebt.
Aber wenn Grace ehrlich zu sich selbst war – was nicht allzu häufig vorkam –, war es keine große Überraschung. Sie hatte längst bemerkt, dass das Leuchten in Liams Augen immer schwächer wurde, wie bei einer Taschenlampe, der die Batterien ausgingen. In der letzten Zeit hatte er sie eher mit einem verwirrten Blick angesehen, ganz so, als sei es eine riesige Enttäuschung, wirklich mit ihr zusammen zu sein, nachdem sie monatelang miteinander geflirtet und abends an der Bushaltestelle wild rumgeknutscht hatten. Er nahm nicht einmal mehr ihre Hand, wenn sie gemeinsam irgendwohin gingen, und so hatte Grace keine Hellseherin sein müssen, um die Zeichen zu deuten: Sie wurde abgeschossen, Schluss, aus, Ende.
Aber ausgerechnet an ihrem Geburtstag! Damit hatte sie nicht gerechnet. Bei Liberty’s. Genau vor der neuen Marc-Jacobs-Taschenkollektion.
»Du machst mit mir Schluss?«, vergewisserte sie sich in metronomischem Tonfall. »An meinem Geburtstag?«
Erst jetzt konnte sich Liam dazu überwinden, ihr in die Augen zu sehen, doch sogleich schweifte sein Blick wieder ab zu einer knallroten Hobo Bag in Übergröße, mit der sich Grace bereits angefreundet hatte – bis Liam aufgetaucht war und mit seinen abgelatschten Turnschuhen den gesamten Tag in die Tonne getreten hatte.
Sie hätte es sich denken können – anstatt voller Vorfreude bei Liberty’s zu erscheinen, in der Hoffnung, Liam würde endlich einmal etwas auf die Reihe kriegen und ihr irgendein Designer-Prachtstück zum Geburtstag schenken. Sie war ja nicht anspruchsvoll, ein Schlüsselanhänger oder eine heruntergesetzte Haarspange hätten es schon getan.
»Ich wollte gar nicht mit dir Schluss machen. Jedenfalls nicht heute. Aber dann, ich weiß auch nicht … Als ich dich hier stehen sah … da musste ich es einfach loswerden«, sagte Liam matt und mit hängenden Schultern unter der Lederjacke. Eigentlich war es viel zu warm für eine Lederjacke, selbst für einen Möchtegern-Rockstar aus der Indie-Szene.
»Warum? Warum trennst du dich jetzt von mir? Sollte ich vielleicht noch einmal darauf hinweisen, dass heute mein Geburtstag ist? Herrgott noch mal, Liam, was ist eigentlich mit dir los?« Graces Tonfall näherte sich langsam aber sicher dem roten Ende der Skala mit der Markierung »hysterisch« – aber in diesem Fall mussten mildernde Umstände gelten.
Liam nahm sie unauffällig am Arm und kaute an seiner Unterlippe. Sie machte es ihm nicht so leicht, wie er gedacht hatte. Dabei war Grace eigentlich genau der Typ Mädchen, das er sonst einfach an der nächsten Straßenecke stehen ließ, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.
»Gracie, lass es gut sein«, sagte er hilflos, kniff die Augen zusammen und strich sich durch das schmutzig-blonde Haar. »Eigentlich wollte ich noch ein paar Tage warten, aber dann wurde mir das Ganze irgendwie zu viel. Wir kommen einfach nicht miteinander klar, verstehst du?«
»Liegt es an mir?«, fragte Grace. Mittlerweile tat er ihr fast leid, und so stöberte sie in ihrer Handtasche nach der Miu-Miu-Sonnenbrille, um ihn nicht länger ihren vorwurfsvollen Blicken auszusetzen. »Habe ich was falsch gemacht?«
»Du hast nichts falsch gemacht. Wir passen einfach nicht zusammen.« Dafür, dass er sich für den größten noch unentdeckten Singer/Songwriter seiner Zeit hielt, klangen seine Worte unerträglich nichtssagend. Grace sah ihm an, dass er verzweifelt nach einer Ausrede suchte.
»Deine Haare«, murmelte er schließlich. »Ich finde, du hättest sie nicht schwarz färben sollen.«
»Du machst mit mir Schluss wegen meiner Haare?«
»Nein«, gab Liam ausweichend zurück. »Ja – ich weiß nicht. Wir können uns doch trotzdem heute Abend treffen und ein bisschen rummachen oder so. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass es mit uns etwas Ernsthaftes ist. Aber ich habe eine Karte für dich – hier.« Er förderte einen zerknitterten pinkfarbenen Umschlag zutage, als ob die Sache damit erledigt wäre und sie nun weiter durch die Geschäfte bummeln könnten, weil es hier nichts Interessantes mehr zu sehen gab. Zum »Rummachen oder so« war sie also gut genug, aber sie würde sein Herz niemals höherschlagen lassen.
»Du Arschloch!«, zischte sie ihn an, kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Du hättest dir jeden anderen Tag aussuchen und dir eine blöde Ausrede zurechtlegen können, aber es musste unbedingt heute sein, ausgerechnet hier. Und dabei hast du nicht mal den Anstand, hinter meinem Rücken mit einer anderen zu vögeln.«
»Jetzt mach nicht so ein Theater, Gracie …«, flüsterte Liam geschockt.
»Ich mache Theater, wann es mir passt, verflucht noch mal!«
Liam trat von einem Fuß auf den anderen, als wolle er sich schleunigst davonmachen, aber Grace war noch längst nicht mit ihm fertig. Mit schwachen Fäusten boxte sie ihn gegen die Brust. Das war ja wohl das Mindeste, was er verdient hatte! Liam verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und riss die Marc-Jacobs-Tasche von ihrem Plexiglassockel.
Eine quälende Sekunde lang schwang die Tasche bedrohlich hin und her, dann baumelte sie verloren an der Sicherheitskette, was sogleich den Alarm losschrillen ließ. Normalerweise hätte sich Grace die Ohren zugehalten, aber sie hatte genug damit zu tun, nach einem zerknüllten Taschentuch zu suchen. Denn sie spürte, wie die Tränen ihre Wimperntusche langsam tiefer rutschen ließen.
»Du willst wissen, warum ich mit dir Schluss mache?«, fragte Liam genervt und senkte den Kopf, damit er es ihr direkt ins Gesicht sagen konnte: »Deswegen mache ich mit dir Schluss! Weil du manchmal unglaublich peinlich bist.«
Im Anschluss an diese prägnante Erklärung versetzte er der bedauernswerten Marc-Jacobs-Tasche einen hinterhältigen Stoß und stolzierte davon.
Vorsichtig wischte sich Grace unter ihrer Sonnenbrille an den Augen entlang – und wie erwartet waren ihre Daumen schwarz von der Wimperntusche. In dem Moment eilte auch schon eine Horde Verkäuferinnen herbei. Bei Liberty’s konnte man sich sonst jederzeit auf die höfliche Diskretion des Personals verlassen. Ganz anders als bei Harvey Nichols, wo man Grace herablassend mit »Madam« ansprach, während sie sich Kleider anhielt, die sie sich ohnehin nicht leisten konnte. Doch siehe da, offenbar kannte die Freundlichkeit auch bei Liberty’s Grenzen.
Ihr Freund hatte mit ihr Schluss gemacht, ihre Chefin war mit der neuen Praktikantin – dieser Schleimscheißerin – Kaffee trinken gegangen, und sie hatte eine E-Mail von ihrer Mutter bekommen. Das reichte, um den Tag zum schlimmsten Geburtstag aller Zeiten zu machen. Lebenslänglich von Liberty’s verbannt zu werden, wäre das Sahnehäubchen gewesen. Auf einer imaginären Torte, versteht sich, denn im Büro würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, sie an diesem Nachmittag in die Patisserie Valerie einzuladen.
Grace schluckte heftig, um nicht laut zu schluchzen. Aber der nächste und der übernächste Schluchzer ließen sich nicht so leicht unterdrücken, und ihr verzweifeltes Ringen nach Luft artete aus in Husten und Prusten, sodass …
»Nicht weinen!«, befahl jemand hinter ihr. »Das macht es nur schlimmer.« Zu der Stimme gehörte ein Arm, der sich um Graces Schultern legte und sie in Richtung Ausgang drängte. Sowohl der Tonfall als auch der feste Griff ließen keinen Zweifel: Widerstand war zwecklos. »Raus hier, bevor man Sie wegen Gewalt gegen teure Handtaschen vor Gericht bringt.«
Nun zeigten sich auch Füße, in blank polierten braunen Halbschuhen. Hustend sah Grace sie an einem Blumenstand vorbei neben ihren abgetragenen Ballerinas in Richtung Regent Street herlaufen. Und bei jedem Schritt schlug ihr ihre Tasche gegen die Hüften. Es war einfach lächerlich – sich vollkommen verheult aus Liberty’s abführen zu lassen, von einem namenlosen und gesichtslosen Fremden, der sich den Weg durchs Gedränge bahnte, als befänden sie sich auf einem Schlachtfeld. Grace verlangsamte ihre Schritte – in der Absicht, im Verkehrsgewirr der Straße zu verschwinden. Aber sie wurde unerbittlich vorwärtsgeschoben.
Nachdem der Fremde sie sicher auf die andere Seite der Regent Street gebracht hatte, blieb Grace stehen und zerrte an seinem Ärmel. »Es geht schon wieder, vielen Dank«, sagte sie und zog die Nase hoch. Nie zuvor war sie sich so albern vorgekommen.
Dann aber siegte die Neugier, und sie sah sich den Fremden an. Ein markantes Gesicht mit intelligentem Ausdruck. Mit seinen blauen Augen blinzelte er gegen das Sonnenlicht, verzog die Mundwinkel zu etwas, das man im weitesten Sinne als Lächeln hätte bezeichnen können. Sein dunkelblondes Haar war ein wenig zerzaust von der leichten Brise. Seinen Anzug einzuordnen war eine von Graces leichtesten Übungen: cremefarben, sommerlich leichter Wollstoff, Marke: Dries van Noten – wenn Grace sich nicht täuschte. Und Grace täuschte sich nie, wenn es um Mode ging.
»Sie machen nicht den Eindruck, als ginge es wieder«, bemerkte der Fremde in geschliffenem Privatschul-Tonfall. »Sie machen mir eher den Eindruck, als könnten Sie einen Drink vertragen.«
Er sah altmodisch aus, stellte Grace fest. Nicht nur wegen des Anzugs, der ihm den Anstrich gab, als gehöre er in einen dieser Filme aus den Fünfzigern, die an der französischen Riviera spielten. Ach nein, er wirkte eher wie die zweite Hauptrolle in einem dieser Filme. Nicht so umwerfend wie der, der das Mädchen bekam, aber immerhin so gut aussehend wie der beste Freund von dem, der das Mädchen bekam. Oder der Erzfeind von dem, der das Mädchen bekam, der seinen Auftritt immer erst zehn Minuten vor dem Abspann hatte.
Und er war alt. Genauer gesagt, älter. Ende dreißig, Anfang vierzig, was die Situation noch bizarrer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war.
»Tut mir wirklich leid, dass ich so einen Aufstand gemacht habe, und vielen Dank, weil Sie mich da rausgebracht haben, aber jetzt geht es wieder. Ganz bestimmt.«
»Wo sollen wir hingehen?«, fragte er und sah sich um. »Wo genau sind wir überhaupt?«
»Conduit Street, und ich kann wirklich nicht …« Sie konnte sehr wohl – aus dem einfachen Grund, dass sein Arm sich wieder um ihre Schultern legte, der Fremde sich mit großen Schritten in Bewegung setzte, und ihr gar nichts anderes übrig blieb, als neben ihm herzuhasten oder sich mitschleifen zu lassen. »Ich muss zurück zur Arbeit«, protestierte sie atemlos. »Ich kriege wirklich Ärger, wenn ich länger als eine Stunde Mittagspause mache.«
»Tatsächlich? Äußerst lästiger Chef.«
»Chefin«, korrigierte Grace und versuchte, mit seinen ausladenden Schritten mitzuhalten. Das war eine Entführung, und zwar eine ziemlich dreiste! Am helllichten Tag, und sie versuchte nicht einmal, sich zu wehren oder zu fliehen. Trotz der Eile warf sie einen Blick ins Schaufenster von Moschino – offenbar hatte der Schock darüber, erst verlassen und dann auch noch entführt zu werden, zu Fehlzündungen ihres Denkprozessors geführt.
»Na los, hopp, hopp!«, befahl der Fremde. Er zerrte Grace um eine Ecke und dann um eine weitere. Vor einer schwarzen Tür ohne Namensschild blieb er stehen und tippte einen Sicherheitscode in das Tastenfeld. Graces Fluchtinstinkt meldete sich schließlich doch noch und signalisierte, schreiend davonlaufen, am besten direkt zum nächsten Polizeirevier. Wild entschlossen versuchte sie, sich loszureißen, aber seine Hand lag noch immer auf ihrer Schulter und hielt sie zurück. »Hier entlang«, sagte er.
Es ertönte ein Summen, woraufhin der Fremde die Tür aufstieß und Grace über die Schwelle schob, hinein in einen düsteren Gang mit Wänden in sattem Rubinrot, poliertem Holzfußboden und einer Reihe Türen auf der rechten Seite, die einen Spalt breit offen standen. Auf gar keinen Fall würde sie sich auch nur einen Schritt von der Stelle bewegen – es sei denn in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Jemand kam auf sie zu: eine Frau mit einem Lächeln auf den Lippen, in einem schwarze Rüschenkleid mit Schürzchen, ganz im Stil von Laura Ashley – wenn die überhaupt eine Gothic-Phase gehabt hatte. »Schön, Sie wieder begrüßen zu dürfen, Sir«, sagte die Frau über Grace hinweg. »Bleiben Sie zum Lunch?«
»Wahrscheinlich nur auf ein paar Drinks. Vielleicht noch zu Tee und Gebäck«, antwortete der Fremde und nahm endlich seine Hand von Graces Schulter. Er schob sich an Grace vorbei, und sie zuckte zusammen, als er ihren Arm streifte.
Mit dezentem aber endgültigem Klicken fiel die Tür ins Schloss, und Grace kam sich vor wie in einem dunklen roten Kokon. Gesprochen wurde in gedämpftem Tonfall, offenbar galt hier alles, was eine gewisse Lautstärke überstieg, als nicht akzeptabel. Dennoch schien die Atmosphäre seltsam tröstlich, und Grace fing wieder an zu weinen.
Genauer gesagt, nun weinte sie erst richtig, denn die paar Tränen bei Liberty’s waren nur der Auftakt gewesen. Entführt zu werden konnte man da nur als eine willkommene Ablenkung betrachten. Schließlich war noch immer ihr Geburtstag, immer noch hatte man gerade mit ihr Schluss gemacht, und noch immer war ihr Leben ein einziges Chaos. Ihr Brustkorb bebte, und die Schluchzer, die sie zehn Minuten zuvor noch hatte unterdrücken können, bahnten sich nun gnadenlos ihren Weg – und hallten wie das Geröchel eines Todeskampfes von den roten Wänden wider.
»Oje«, sagte der Fremde mit sanfter Stimme. Er nahm Grace am Ellbogen und führte sie behutsam den Gang entlang. Die Frau im schwarzen Rüschenkleid bildete die Nachhut. »Er ist es ganz bestimmt nicht wert, dass Sie sich die Augen ausweinen. Magda wird Ihnen ein stilles Plätzchen zeigen, wo sich Ihre Tränenschleusen wieder schließen können. In der Zwischenzeit bestelle ich Ihnen ein Glas Champagner.«
Grace zuckte mit den Schultern – das heißt, sie hätte es getan, wenn ihre Schultern nicht so sehr gebebt hätten. Sie ließ sich durch eine schmale Seitentür eine enge Wendeltreppe hinaufführen. Das Ganze kam ihr vor wie ein tiefrotes Labyrinth. »Die Toiletten sind dort hinten«, hörte sie die gedämpfte Stimme der Frau im schwarzen Kleid.
Grace stürzte auf die erstbeste Kabine zu, ließ sich auf die Toilette fallen und schluchzte hemmungslos.
Als sie wieder herauskam, wandte ihre Begleiterin dezent den Blick ab, als hätte sie vorhin keinerlei gedämpftes Geheul aus der Kabine vernommen. Gewissenhaft tupfte sie die chromglänzenden Wasserhähne ab, während Grace sich die Hände wusch und entmutigt auf ihr Spiegelbild starrte. Eine Tube mit getönter Feuchtigkeitscreme griffbereit, wusch sie sich die schmierig-grauen Rinnsale von den Wangen und warf einen skeptisch prüfenden Blick auf das, was darunter zum Vorschein kam.
Gegen bestimmte Partien ihres Gesichts hatte Grace nichts einzuwenden, gegen andere schon. Sie mochte ihre grauen Augen – ein dunkles Grau wie das einer Schuluniform, das man unmöglich für Blau, Grün oder Braun halten konnte –, so dicht umrahmt von langen Wimpern, dass sie stets aussah, als hätte sie sich am Abend zuvor den Eyeliner nicht abgeschminkt. Sie hatte Sommersprossen – als Teenager ein Fluch, aber mittlerweile hoffte sie, dadurch jünger zu wirken – und leicht abwärts geschwungene Mundwinkel, auch dann, wenn sie lachte. Als sie noch klein war, hatte ihre Großmutter immer gesagt, sie solle aufhören zu schmollen, aber eben diesem Schmollen hatte sie die volle Unterlippe zu verdanken.
Ihre Nase jedoch schien viel zu markant, als dass sie sich damit hätte anfreunden können, besonders wenn man sie im Profil betrachtete, dann hatte sie etwas beängstigend Römisches. Zwischen ihren Augenbrauen lag eine tiefe Stirnfalte, und ihr Kinn schwankte unentschlossen zwischen eckig und spitz.
Nicht unbedingt ein Gesicht, an dem man sich nicht sattsehen konnte, eher ein Gesicht, das mit ein wenig frischem Rot auf den Lippen sogleich viel lebendiger wirkte. Nun jedenfalls war eine leichte Tönung angesagt, etwas Wimperntusche und ein Hauch von Beerenrot auf den Lippen.
»Schon besser«, sagte der Fremde, als Grace an seinem Tisch erschien. Sie hatte schon mit dem Gedanken gespielt, sich in Richtung Ausgang davonzumachen, aber eine weitere Frau, ebenfalls mit einem Lächeln auf den Lippen und gedämpftem Tonfall, hatte sie am Fuß der Treppe in Empfang genommen und sie in den Raum hinter einer der wuchtigen Doppeltüren geleitet, die Grace zuvor erspäht hatte. Wie angekündigt erwarteten sie ein Glas Champagner – und ihr herrischer Entführer. Mit einem seiner schlanken Finger tippte er sich gegen das Grübchen in seinem Kinn, während Grace stocksteif Platz nahm.
An diesem Morgen hatte sie sich für ein einfach geschnittenes Minikleid im Stil der Seventies entschieden – das perfekte Outfit, um in der Kleiderkammer des Magazins herumzuwühlen und den ganzen Tag lang auf dem einen oder anderen Barhocker abzuhängen. Nun aber fiel ihr auf, dass das Blumenmuster ganz und gar nicht zu dem orangefarbenen Samtbezug des dick gepolsterten Sessels passte, und sie kam sich nicht mehr vor wie eine Stilikone der Seventies sondern eher wie ein drittklassiger Kinderstar, der beim Casting durchgerasselt war.
»Ich muss jetzt wirklich zurück zur Arbeit«, murmelte sie und warf einen Blick aus dem Fenster. Sie konnte kaum glauben, dass dort draußen eine normale Londoner Straße lag und nicht das Fantasialand. Der Fremde schmunzelte, als betrachte er einen Seehund, der einen Ball auf der Nase balancierte, und genau das raubte Grace beinahe den letzten ihrer ohnehin schon überstrapazierten Nerven.
»Stellen Sie sich nicht so an!«, sagte er leichthin, als sei ihm der Gedanke, zur Arbeit zu müssen, absolut fremd. »Trinken Sie lieber Ihren Champagner!«
Also beschloss Grace zu bleiben, jedoch nur, weil sie nicht die geringste Lust verspürte, sich aus dem Sessel herauszuwuchten wie ein angeschlagener Springteufel. Außerdem hatte er recht: Sie konnte tatsächlich einen Drink vertragen.
»Ich heiße Grace«, sagte sie, und es klang, als hätte sie seit Wochen kein Wort mehr gesprochen. Mit ernsthafter Miene schüttelte er ihr die Hand – seine Finger fühlten sich warm an und berührten sie gerade so lange, dass sie ihre Hand hastig zurückzog.
»Vaughn«, stellte er sich vor und widmete sich wieder der Speisekarte.
»Ist das Ihr Vor- oder Ihr Nachname?«
Er zuckte die Achseln. »Spielt das eine Rolle?«
Eigentlich nicht. Grace hob ihr Glas, prostete ihm zu und trank einen Schluck. Das perlende Prickeln auf ihrer Zunge verflüchtigte sich sogleich, als sie drei größere Schlucke nahm.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Fleur de Sel oder Nougatine de Grué sein sollen. Können Sie damit etwas anfangen?«, fragte er im Plauderton, während er weiter die Speisekarte studierte.
»Fleur de Sel ist eine Art Meersalz, ist gerade schwer in Mode. Und Grué sind geröstete Kakaobohnen. Mit Nougatine kann ich allerdings auch nichts anfangen. Ich backe gern«, fügte sie zu ihrer Verteidigung hinzu, als er fragend eine Augenbraue hochzog – und damit der zweiten Hauptrolle in einem französischen Film vollkommen gerecht wurde.
»Sollen wir Schokoladenkuchen nehmen? Und dazu Tee. Tee auf jeden Fall. Aber nicht Earl Grey, der ist zu wässrig. Darjeeling vielleicht?«
Grace war klar, dass dem nichts entgegenzusetzen war. »Darjeeling ist mir recht«, sagte sie und griff erneut nach ihrem Glas.
Er brauchte nur den Finger zu heben – dezent und ohne ein Wort zu verlieren –, und schon erschien wie aus dem Nichts die Bedienung und nahm die Bestellung über viererlei Gebäck auf.
Als sie wieder verschwand, schlug Grace die Beine übereinander. Der Champagner fand prickelnd seinen Weg in ihren nüchternen Magen und machte sie so rastlos, dass sie mit dem Fuß wippte, während sie sich fragte, was sie eigentlich hier machte – abgesehen von einer Unterhaltung in gestelztem Ton, die ihr ansonsten gar nicht entsprach. Mittlerweile war das Gespräch ohnehin verstummt, und Grace sah sich um.
Der Raum wirkte wie aus einem der morbiden Landhäuser, die von der BBC gern als Kulisse für historische Filme genutzt wurden: Stühle, die nicht zueinander passten, einige gepolstert, andere nicht, und verkratzte, aber blank polierte Tische. All das sah eindeutig eher nach Geld aus als nach vornehmer Bescheidenheit. Das mochte aber durchaus auch an den Gästen liegen, stellte Grace mit einem Blick auf die Nachzügler fest, die spät zum Lunch gekommen waren und nun bei Kaffee und Brandy saßen, als hätten sie alle Zeit der Welt und nicht den geringsten Anlass, sich über die allgemeine Wirtschaftskrise Sorgen zu machen – oder über irgendetwas anderes. Dann fiel ihr Liams zerknitterter, pinkfarbener Umschlag auf, der vor ihr auf dem Tisch lag, und sie stieß einen unterdrückten aber inbrünstigen Seufzer aus.
»Immerhin weinen Sie nicht mehr«, sagte Vaughn, wieder mit diesem Beinahe-Lächeln. »Wer an seinem Geburtstag weint, weint sein Leben lang.«
»Das hat meine Großmutter auch immer gesagt«, gab Grace zu, ebenfalls mit einem Beinahe-Lächeln. »Und dass man neue Schuhe nicht auf den Tisch stellen soll, weil es Unglück bringt.«
»Unsere Großmütter waren offenbar verwandt. Meine war auch sehr streng, beispielsweise wenn es um die Gefahren zu hastigen Essens ging.« Es war unglaublich, wie er es schaffte, so locker zu wirken und sie dabei mit dem Blick aus seinen blauen Augen zu durchbohren. »Also, wie alt sind Sie heute geworden?«
»Dreiundzwanzig.«
Wenn er richtig lächelte, machte er gleich einen ganz anderen Eindruck. Jugendlicher, attraktiver – ein etwas älterer Mann, in den Grace sich Hals über Kopf hätte verlieben können, weil er lächelte, als sei sie der einzige Mensch auf der Welt, der seinen Witz verstanden hatte. »Und dann noch am 23. Juli? Das muss ein Glückstag sein. Wussten Sie, dass man der 23 eine mystische Bedeutung nachsagt? Das griechische Alphabet besteht aus 23 Buchstaben, unser Blut braucht 23 Sekunden, um einmal durch den Körper zu zirkulieren …«
»David Beckham hatte bei Real Madrid die 23.« Na toll! Jetzt redete sie sich total um Kopf und Kragen. »Nicht dass es ihm etwas gebracht hätte.«
»23 ist eine gute Zahl«, sagte Vaughn energisch. In dem Moment wurden Teekanne und Tassen ehrfürchtig auf dem Tisch platziert – so fein gearbeitet, dass sie wirkten wie Puppengeschirr. »Ihnen steht ein äußerst interessantes Jahr bevor, das garantierte ich Ihnen.«
»War es ein interessantes Jahr für Sie, als Sie 23 waren?«
»Ja«, antwortete er knapp. »Würden Sie einschenken? Milch, zwei Löffel Zucker.«
Grace nahm die Teekanne und prüfte, wie schwer sie war. Vorsichtig füllte sie die Tassen und goss Milch hinzu, bis die Farbe des Tees exakt der Nuance »sonnengebräunt« entsprach, die man bei blickdichten Feinstrumpfhosen so oft fand. Sie ließ zwei Löffel Zucker dazurieseln, und bevor sie der Mut wieder hinterrücks verlassen konnte, fragte sie: »Machen alle Menschen grundsätzlich genau das, was Sie wollen?« Dann fügte sie hinzu: »Es macht nämlich niemand, was ich will.«
Vaughn warf einen kritischen Blick auf seine Tasse und entschied offenbar, dass das Resultat seinen Ansprüchen genügte. »Mit ›niemand‹ meinen Sie wohl Ihren Ex?«
Grace überlegte kurz. »Nicht nur Liam. Alle. Die Leute rennen einfach an mir vorbei, als gäbe es mich gar nicht.« Kopfschüttelnd fuhr sie fort: »Tut mir leid. Eigentlich bin ich nicht so. Also, ich bin nicht immer so mies drauf. Ich leide wohl an einem schweren Geburtstagstief.«
»Sie haben bloß noch nicht gelernt, wie andere Menschen Sie ernst nehmen«, sagte Vaughn. Er beugte sich vor und fügte hinzu: »Ich persönlich halte es für äußerst hilfreich, niemals Bitte oder Danke zu sagen.«
»Ich bin genetisch darauf programmiert, Bitte und Danke zu sagen, auch dann, wenn ich gar keinen Grund dazu habe …« Und darauf, die Ellbogen nicht auf den Tisch zu stützen, zuerst die Milch einzugießen, und auf all die weiteren Lebenslektionen, die sie sich unter Todesqualen und den missbilligenden Blicken ihrer Großmutter hatte einhämmern lassen. »Und Sie? Entführen Sie regelmäßig junge Frauen aus Warenhäusern?«
»Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass Sie mich das endlich fragen.«
»Tja, ich hätte Sie wohl lieber während der Entführung danach fragen sollen, aber ich war viel zu verschreckt …«, gab Grace in kessem Ton zurück, um zu signalisieren, dass sie sich keineswegs einschüchtern lassen würde.
»Ach, ich wollte Sie noch um einen kleinen Gefallen bitten.«
Immer wieder fiel er Grace ins Wort, und das ärgerte sie allmählich. Es ärgerte sie jedoch weitaus weniger als die plötzliche Erkenntnis, dass die Einladung zu Tee und Gebäck und das harmlose Geplauder möglicherweise einen sehr viel ernsteren Hintergrund hatten – einen Hintergrund, bei dem es um Schulmädchenverkleidungen, Peitschen und womöglich eine Ehefrau mit lesbischen Neigungen ging, was er dann alles filmte.
Grace wuchtete sich aus den unendlichen Tiefen ihres Sessels, genau in dem Moment, als der Kuchen serviert wurde. Eigentlich schade, denn das Vollmilchtörtchen sah verlockend aus. »Ich verschwinde«, verkündete sie eisig. Zumindest hatte es so klingen sollen, in Wirklichkeit klang es wohl eher mürrisch. »Ich weiß genau, um welche Art von Gefallen es hier geht, und die Antwort lautet: Nein. Eindeutig nein!«
Vaughn schenkte ihr ein Lächeln, das hart an der Grenze zu einem Grinsen lag. Und allmählich fiel Grace auf, dass sie ihn nicht leiden konnte, so wie sie Kiki, ihre Chefin, nicht leiden konnte, ebenso wenig wie Mrs. Beattie, ihre Vermieterin, und Dan, Liams besten Freund, und eine ganze Menge anderer Leute, die sie mit der gleichen Mischung aus Spott und Herablassung behandelten. »Seien Sie ein nettes Mädchen und setzen Sie sich wieder«, sagte Vaughn ruhig. »Für heute haben Sie sich genug aufgeregt, oder nicht?«
»Für wen halten Sie sich eigentl…«
»Als ich Sie bei Liberty’s sah, dachte ich mir gleich, Sie machen den Eindruck, als ob Sie mit Manschetten umgehen könnten.« Er zog eine kleine, violette Schachtel aus der Jackentasche, und Grace verstummte so hastig, dass sie sich beinahe auf die Zunge gebissen hätte. »Heute Morgen habe ich einen meiner besten Manschettenknöpfe verloren, und ich bin sofort losgerannt, um mir neue zu kaufen. Ich finde, nachdem ich Sie zu einem Glas Champagner eingeladen habe, könnten Sie mir wenigstens helfen, sie anzulegen.«
Plump sackte Grace in ihren Sessel zurück. »Wie haben Sie es denn heute Morgen geschafft, die Manschettenknöpfe anzulegen?«, fragte sie misstrauisch. Schließlich bestand ja nach wie vor die Möglichkeit, dass irgendwo eine Ehefrau lauerte.
»Mehr schlecht als recht«, antwortete Vaughn und hob eine Hand, um Grace zu demonstrieren, dass er an dem Ärmel keinen Manschettenknopf trug. »Ich wäre Ihnen zu ewigem Dank verpflichtet.«
Grace verdrehte die Augen und deutete mit einer vagen Handbewegung auf seinen Arm. Vaughn senkte den Kopf, mit unschuldigem Blick – was Grace jedoch wenig überzeugend fand. Sie nahm die Manschettenknöpfe aus der Liberty’s Schachtel und griff nach seiner Hand.
Es folgte ein Augenblick unerwarteter Intimität. Vaughns Hand ruhte auf ihren Knien, während sie ihm die Manschettenknöpfe anlegte. Und sie, die schon alles Mögliche mit allen möglichen jungen Männern erlebt hatte, errötete, als sie Vaughns Puls unter ihren Fingern spürte. Dabei hatte sie weder einen Vaterkomplex noch eine Schwäche für ältere Männer. Mit diesem Klischee hatte sie eindeutig nichts am Hut. Nein, sie hatte lediglich einen miesen Tag und auf nüchternen Magen ein Glas Champagner getrunken.
»Fertig«, verkündete Grace und ließ Vaughns Hand los. Er hatte schöne Hände – schlank und irgendwie elegant, trotz der knochigen Handgelenke. »Jetzt wird es aber höchste Zeit, sonst denken meine Kollegen noch, man hätte mich entführt.«
»Möchten Sie ein Stück Kuchen mitnehmen?«
Nichts lieber als das, aber … »Nein danke«, antwortete Grace in geziertem Tonfall und erhob sich.
Sich selbst im Weg zu stehen war eine ihrer Spezialitäten, und Vaughns amüsiertem Blick auf die blank polierten Manschettenknöpfe nach zu urteilen, hatte er das längst durchschaut. »Tja, machen Sie das Beste aus dem, was von Ihrem Geburtstag noch übrig ist«, sagte er, als ginge ihn alles Weitere nichts mehr an.
Grace blieb zögernd stehen, und der Saum ihres Kleids streifte die Armlehne von Vaughns Sessel. »Tut mir leid, dass ich Sie so angeschnauzt habe«, platzte sie heraus.
»Ein weiterer Grund dafür, dass ich von anderen Menschen ernst genommen werde, besteht darin, dass ich mich niemals entschuldige, selbst dann nicht – nein, besonders dann nicht –, wenn ich allen Grund dazu hätte«, sagte Vaughn ganz cool. »Kein Bitte, kein Danke, kein Tut-mir-leid. Denken Sie daran! Und vielleicht erleben Sie dann das interessante Jahr, von dem ich bereits sprach.«
Nun war wohl kurzes Händeschütteln angesagt, doch als Grace Vaughn die Hand reichen wollte, beugte er sich vor und gab ihr einen Handkuss. Einen unverfänglichen Kuss – flüchtig und warm. Hastig zog sie die Hand zurück und murmelte eine knappe Verabschiedung.
Sie nahm ihre Tasche, durchquerte den Raum und eilte den roten Gang entlang. Einen Moment lang blieb sie draußen stehen, um sich zurechtzufinden. Asphalt unter ihren Füßen, der Geruch nach Abgasen – also war es kein Traum. Durch das große Panoramafenster sah sie Vaughn, wie er sich über den Teller mit Schokoladengebäck beugte. Sollte er doch einen Zuckerschock bekommen!
Plötzlich hob Vaughn den Kopf und sah, dass sie ihn anstarrte. Er hielt ihrem Blick stand, bis sie dem Impuls folgte, ihm kurz zuzuwinken. Er winkte nicht zurück, aber er sah sie noch immer an – wie bei einer Bestandsaufnahme. Es dauerte ein Weilchen, bis Grace bewusst wurde, dass sie einfach gehen konnte.
Und obwohl sie sich alle Mühe gab, es auszublenden, verspürte sie noch den ganzen Nachmittag an der Stelle, wo seine Lippen ihre Hand berührt hatten, ein Kribbeln.