Wie bei all meinen Büchern darf der Dank an meine wunderbare Frau Cathy nicht fehlen. Nach zwölf Jahren liebe ich dich immer noch wie am ersten Tag.
Außerdem möchte ich meinen fünf Kindern Miles, Ryan, Landon, Lexie und Savannah danken. Sie machen mir große Freude und sorgen dafür, dass ich nicht abhebe.
Larry Kirshbaum und Maureen Egen haben mit in meiner beruflichen Laufbahn immer unterstützt. Dank an euch beide. (Habt ihr eure Namen im Roman schon gefunden?)
Richard Green und Howie Sanders, meine Agenten in Hollywood, sind die Besten ihres Fachs. Vielen Dank!
Denise Di Novi, die Produzentin von »Weit wie das Meer« und »Zeit im Wind«, versteht ihre Arbeit wie keine andere; ich schätze mich glücklich, sie als Freundin zu haben.
Scott Schwimer, meinem Anwalt, schulde ich Anerkennung und Dank: Sie sind der Größte.
Micah und Christine, mein Bruder und seine Frau: ich liebe euch beide.
Weiterhin danke ich Jennifer Romanello, Emi Battaglia und Edna Farley von der PR-Abteilung, Flag für das Design der Buchumschläge, Courtenay Valenti und Lorenzo Di Bonaventura von Warner Brothers, Hunt Lowry von Gaylord Films, Mark Johnson und Lynn Harris von New Line Cinema. Ihnen allen verdanke ich, dass ich geworden bin, was ich bin.
Die Morgendämmerung steht kurz bevor, und meine Geschichte ist fast fertig. Es ist an der Zeit, den Rest zu erzählen.
Ich bin jetzt einunddreißig Jahre alt und seit drei Jahren mit einer Frau namens Janice verheiratet, die ich in einer Bäckerei kennen lernte. Sie ist Lehrerin, wie Sarah, aber sie unterrichtet Englisch an der Highschool. Wir leben in Kalifornien, wo ich Medizin studiert und mein praktisches Jahr absolviert habe. Ich arbeite jetzt seit einem Jahr in der Notaufnahme und habe in den vergangenen drei Wochen mit vielen anderen Helfern zusammen sechs Menschen das Leben retten können. Ich sage das nicht, um anzugeben, sondern weil ich damit erklären will, das ich mein Bestes getan habe, um Miles’ Mahnung auf dem Friedhof gerecht zu werden.
Ich habe mein Wort gehalten und es niemandem erzählt.
Miles hat mir nicht um meinetwillen dieses Versprechen abgenommen, wissen Sie. Mein Schweigen diente seinem eigenen Schutz.
Ob Sie es glauben oder nicht – dass er mich damals laufen ließ, war eine Straftat. Ein Sheriff, der von einem Verbrechen erfährt, muss den Täter anzeigen. Auch wenn unsere beiden Taten ganz unterschiedlich gewichtet waren, ist die Rechtslage in diesem Punkt unumstritten, und Miles hat das Gesetz gebrochen.
Das wenigstens glaubte ich damals. Jetzt, nach Jahren des Nachdenkens, weiß ich, dass es so nicht stimmt.
Ich weiß jetzt, dass er mich wegen Jonah schweigen ließ.
Wenn es bekannt geworden wäre, dass ich der Fahrer des Unfallwagens war, hätten die Leute in der Stadt endlos über Miles’ Vergangenheit geredet. Immer, wenn von ihm die Rede gewesen wäre, hätte man gesagt: »Stell dir vor, was ihm Schreckliches passiert ist«, und Jonah hätte mit dieser Belastung aufwachsen müssen. Er hätte mit dem Wissen leben müssen, dass er und sein Vater die Frau geliebt hatten, deren Bruder den wichtigsten Menschen in ihrem Leben getötet hatte. Wie hätte sich dieses Wissen auf ein Kind ausgewirkt? Ich weiß es nicht, und Miles wusste es auch nicht. Aber er wollte kein Risiko eingehen.
Und ich will das auch heute noch nicht. Wenn ich fertig bin, werde ich diese Seiten im Kamin verbrennen. Es musste nur einmal aus mir heraus.
Es ist immer noch schwierig für uns alle. Ich telefoniere ab und zu mit meiner Schwester, meistens zu ungewöhnlichen Zeiten, und besuche sie nur selten. Ich nenne die räumliche Distanz als Entschuldigung – sie wohnt auf der anderen Seite des Kontinents –, aber wir beide kennen den wahren Grund, aus dem wir uns kaum sehen. Manchmal jedoch kommt sie mich besuchen. Dann ist sie immer allein.
Was Miles und Sarah betrifft, können Sie sich bestimmt schon denken, wie es weiterging …
Es geschah am Weihnachtsabend, sechs Tage, nachdem Miles und Sarah sich auf der Veranda Lebewohl gesagt hatten. Inzwischen hatte Sarah sich widerstrebend damit abgefunden, dass ihre Beziehung vorbei war. Sie hatte nichts mehr von Miles gehört und erwartete nichts mehr.
An jenem Abend parkte Sarah nach dem Besuch bei ihren Eltern ihren Wagen am Straßenrand. Sie blickte flüchtig zu ihrer Wohnung hoch – und traute ihren Augen nicht. Sie schloss die Augen und öffnete sie langsam wieder, hoffend und betend, dass das, was sie gesehen hatte, keine Täuschung war.
Es war keine.
Ein glückliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Wie winzige Sterne flackerten zwei Kerzen im Fenster.
Miles und Jonah warteten drinnen auf sie.
A n einem frühen Augustmorgen des Jahres 1988, zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau, stand Miles Ryan auf der rückwärtigen Veranda seines Hauses, rauchte eine Zigarette und sah zu, wie die aufgehende Sonne den mattgrauen Himmel orangerot färbte. Vor ihm lag der Trent River, dessen brackiges Wasser teilweise von Zypressen verdeckt war.
Der Rauch von Miles’ Zigarette schlängelte sich aufwärts, und er spürte, wie die Feuchtigkeit aus dem Boden aufstieg und sich in der Luft ausbreitete. Kurz darauf stimmten die Vögel ihr Morgenlied an. Ihr Pfeifen und Trillern erfüllte die Luft. Ein kleines Boot fuhr vorbei. Der Fischer winkte, und Miles gab den Gruß mit einem leichten Nicken zurück. Mehr Energie brachte er nicht auf.
Er brauchte einen Kaffee. Einen Schub Koffein, und er wäre für den Tag gewappnet – Jonah schulfertig machen, die Mitbürger im Zaum halten, die sich nicht um das Gesetz scherten, Räumungsklagen für das County verschicken und sich außerdem um alles kümmern, was unweigerlich noch auf ihn zukam, wie das Gespräch mit Jonahs Lehrerin am späteren Nachmittag. Abends gab es sogar noch mehr zu tun. Damit der Haushalt reibungslos lief, war immer viel zu erledigen – Rechnungen mussten bezahlt werden, er musste einkaufen, putzen, Reparaturen im Haus durchführen. Wenn Miles, was selten vorkam, unvermutet ein wenig freie Zeit hatte, bekam er gleich das Gefühl, er müsse sie schleunigst sinnvoll nutzen. Schnell, lies ein Buch! Achtung, ein paar Minuten Erholung! Mach die Augen zu, gleich ist die Zeit schon wieder um. Es konnte einen wirklich zermürben, aber was sollte man dagegen tun?
Miles brauchte jetzt wirklich einen Kaffee. Das Nikotin hatte auch nicht mehr die rechte Wirkung, und er dachte sogar daran, das Rauchen aufzugeben. Doch andererseits war es gleichgültig, ob er rauchte oder nicht. Er selbst betrachtete sich eigentlich nicht als Raucher. Natürlich kamen im Laufe des Tages ein paar Zigaretten zusammen, aber das war im Grunde kein richtiges Rauchen. Schließlich konsumierte er nicht etwa ein Päckchen Zigaretten pro Tag, und er rauchte auch nicht schon sein Leben lang. Erst nach Missys Tod hatte er damit angefangen und würde jederzeit wieder aufhören können. Aber wozu? Seine Lungen waren in Topform – erst letzte Woche hatte er einen Ladendieb verfolgt und den Jungen ohne Mühe eingeholt. Ein Raucher könnte das nicht.
Ganz so leicht wie mit zweiundzwanzig war ihm die Sache natürlich nicht gefallen. Aber er war ja auch schon zehn Jahre älter, und selbst wenn der Umstand, zweiunddreißig zu sein, nicht bedeutete, dass er sich nach einem Platz im Altersheim umsehen musste, so war die Jugend doch vorbei. Und eins war nicht zu leugnen – im College hatten er und seine Freunde zeitweise den Abend erst um elf begonnen und waren dann gegen Morgen nach Hause gekommen. Seit ein paar Jahren jedoch war – abgesehen von den Nächten, in denen er Dienst hatte – elf Uhr für ihn spät, und auch wenn er nicht einschlafen konnte, ging er dann ins Bett. Miles hätte keinen Grund nennen können, warum er aufbleiben sollte. Erschöpfung war für ihn zum Dauerzustand geworden. Selbst in den Nächten, in denen Jonah keine Albträume hatte – seit Missys Tod träumte er oft schlecht –, wachte Miles morgens auf und war … müde. Unkonzentriert. Schlapp, als müsse er sich unter Wasser vorwärts kämpfen. Die meiste Zeit gab er seinem hektischen Leben daran die Schuld, aber manchmal fragte er sich, ob nicht doch etwas Ernsthafteres dahinter steckte. Einmal hatte er gelesen, eines der Symptome einer klinischen Depression sei eine »auffällige Lethargie, ohne Grund oder Anlass«. Aber natürlich gab es einen Grund …
Was ihm wirklich fehlte, waren ein paar ruhige Tage in einem Häuschen am Strand unten in Key West, wo er Steinbutt fischen oder sich mit einem kühlen Bier in einer sanft schaukelnden Hängematte entspannen konnte, ohne größere Entscheidungen treffen zu müssen als die, ob er Sandalen anziehen sollte oder nicht, wenn er mit einer netten Frau an seiner Seite am Strand spazieren ging.
Das gehörte im Übrigen auch dazu. Einsamkeit. Er war es zu seinem eigenen Erstaunen plötzlich leid, allein zu sein, in einem leeren Bett aufzuwachen. Bis vor kurzem hatte er noch nicht so empfunden. Im ersten Jahr nach Missys Tod konnte sich Miles überhaupt nicht vorstellen, dass er je wieder eine Frau lieben würde. Es war, als existiere das Bedürfnis nach der Gesellschaft einer Frau nicht mehr, als seien Begehren und Lust lediglich theoretisch möglich, für seine reale Welt jedoch ohne Bedeutung. Selbst als Miles den Schock und den Kummer, die ihn jede Nacht zum Weinen gebracht hatten, zu verwinden begann, fühlte sich sein Leben irgendwie falsch an – als sei es vorübergehend aus der Bahn geraten, würde sich aber bald wieder zurechtrücken lassen, sodass es keinen Grund gab, sich über alles zu viele Gedanken zu machen.
Viel hatte sich nach der Beerdigung tatsächlich nicht geändert. Rechnungen kamen immer noch, Jonah musste essen, das Gras musste gemäht werden. Miles hatte immer noch seinen Job. Einmal, nach zu vielen Gläsern Bier, hatte ihn Charlie, sein bester Freund und Vorgesetzter, gefragt, wie es sei, die Frau zu verlieren, und Miles hatte ihm erzählt, es käme ihm immer noch so vor, als sei Missy gar nicht für immer fort. Eher, als sei sie übers Wochenende mit einer Freundin weggefahren und er müsse so lange auf Jonah aufpassen.
Die Zeit verging, und schließlich schwand auch die Benommenheit, an die Miles sich schon gewöhnt hatte. An ihre Stelle trat die Wirklichkeit. So sehr er versuchte, es zu verhindern – seine Gedanken wanderten immer zu Missy zurück. Alles erinnerte ihn an sie, besonders aber Jonah, der ihr, je älter er wurde, immer ähnlicher sah. Manchmal, wenn Miles in der Tür stehen blieb, nachdem er Jonah ins Bett gebracht hatte, erblickte er in den feinen Gesichtszügen seines Sohnes seine Frau, und er musste sich abwenden, damit Jonah seine Tränen nicht bemerkte. Doch das Bild blieb anschließend noch für Stunden vor seinem inneren Auge. Er hatte es geliebt, Missy im Schlaf zu betrachten, wenn ihre langen, braunen Haare sich über das Kopfkissen ausgebreitet hatten, ein Arm über dem Kopf lag, die Lippen leicht geöffnet waren und ihre Brust sich beim Atmen sanft hob und senkte. Und ihr Duft – den würde Miles nie vergessen. Am ersten Weihnachtsmorgen nach ihrem Tod hatte er in der Kirche einen Hauch des Parfüms aufgefangen, das Missy immer benutzte, und noch lange nach dem Gottesdienst hatte er sich an den Schmerz geklammert wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring.
Auch an anderes klammerte er sich. Als sie frisch verheiratet waren, gingen Missy und er oft ins Fred and Clara’s, ein kleines Restaurant nicht weit von der Bank, in der sie arbeitete. Es lag etwas abseits, und seine ruhige, gemütliche Atmosphäre gab ihnen beiden das Gefühl, dass sich nie etwas zwischen ihnen ändern würde. Seit Jonahs Geburt waren sie nicht mehr so häufig dort gewesen, aber nach Missys Tod nahm Miles die alte Gewohnheit wieder auf, als hoffe er, zwischen den getäfelten Holzwänden die Spuren der Gefühle von damals wieder zu finden. Auch zu Hause organisierte er sein Leben so, wie Missy es getan hatte. Weil Missy am Donnerstagabend im Supermarkt einkaufte, fuhr auch Miles donnerstags hin. Weil Missy Tomaten an der Hauswand zog, zog auch Miles sie dort. Wenn Missy Lysol für den besten Haushaltsreiniger hielt, gab es für Miles keinen Grund, einen anderen zu kaufen. Missy war immer gegenwärtig – bei allem, was er tat.
Doch irgendwann im letzten Frühling hatte sich etwas geändert. Eine neue Empfindung überfiel Miles ohne Warnung, und er begriff bald, was mit ihm geschah. Als er in die Stadt fuhr, ertappte er sich dabei, wie er ein junges Paar anstarrte, das Hand in Hand den Gehweg entlangschlenderte. Und für einen Augenblick stellte Miles sich vor, er sei der Mann und die Frau gehöre zu ihm. Oder wenn nicht diese, dann eine andere … eine, die nicht nur ihn, sondern auch Jonah lieben würde. Eine, die ihn zum Lachen bringen würde, eine, mit der er sich bei einem geruhsamen Abendessen eine Flasche Wein teilen konnte, eine, die er berühren und umarmen konnte und mit der er sich flüsternd unterhalten würde, wenn das Licht gelöscht war. Jemand wie Missy, dachte er, und sofort beschwor ihr Bild Schuldgefühle herauf, durch die er sich wie ein Verräter fühlte und die ihn derart überwältigten, dass er das junge Paar für immer aus seinen Gedanken verbannte.
Das glaubte er jedenfalls.
Später in der Nacht, als er im Bett lag, musste er doch wieder an die beiden denken. Und obwohl ihn das schlechte Gewissen immer noch nicht ganz losließ, war es doch weniger stark als vorher. Und in diesem Augenblick wusste Miles, dass der erste Schritt getan war – wenn auch ein kleiner –, der letztlich dazu führen würde, dass er seinen Verlust überwand.
Er begann, sich für sein neues Lebensgefühl zu rechtfertigen, indem er sich sagte, dass er schließlich Witwer sei, dass es natürlich sei, solche Gefühle zu haben, und dass niemand sie ihm verübeln würde. Niemand erwartete von ihm, dass er den Rest seines Lebens allein verbrachte. In den vergangenen Monaten hatten Freunde sogar angeboten, Verabredungen für ihn zu arrangieren. Missy hätte gewollt, dass er wieder heiratete. Das wusste er. Sie hatte es ihm mehr als einmal gesagt – wie die meisten Paare hatten auch sie das »Was-wäre-wenn«-Spiel gespielt, und obwohl keiner von ihnen beiden die Katastrophe erwartet hatte, waren sie sich einig gewesen, dass es für Jonah nicht gut wäre, mit nur einem Elternteil aufzuwachsen. Es wäre demjenigen gegenüber, der überlebte, nicht fair. Trotzdem war es vielleicht noch ein wenig zu früh.
Im Verlauf des Sommers tauchte die Frage, wie es wohl wäre, jemand Neuen zu finden, immer häufiger und intensiver in Miles Kopf auf. Missy war noch da, Missy würde immer da sein … aber Miles dachte immer ernsthafter darüber nach, wie er jemanden finden konnte, der sein Leben mit ihm teilen würde. Spätnachts, wenn er draußen im Schaukelstuhl saß und Jonah tröstete – das war das Einzige, was bei seinen Albträumen half –, waren diese Gedanken am stärksten und folgten immer demselben Muster. ›Ich könnte vermutlich jemanden finden‹ wurde zu ›ich würde vermutlich jemanden finden‹, gefolgt von der Überlegung, dass er vermutlich jemanden finden sollte. An diesem Punkt jedoch kehrte sich alles um zu vermutlich doch eher nicht – so sehr er sich auch das Gegenteil wünschte.
Der Grund dafür befand sich in seinem Schlafzimmer.
Auf dem Regal, in einem dicken, braunen Umschlag, lag die Akte über Missys Tod, die er in den Monaten nach der Beerdigung selbst zusammengestellt hatte. Er bewahrte sie auf, damit er nicht vergaß, was geschehen war, er bewahrte sie auf, um sich daran zu erinnern, was noch zu tun blieb.
Er bewahrte sie auf als Erinnerung an sein Scheitern.
Ein paar Minuten später, nachdem Miles die Zigarette auf dem Geländer ausgedrückt hatte und ins Haus gegangen war, goss er sich den dringend benötigten Kaffee ein und ging über den Flur. Jonah schlief noch, als Miles leise die Tür öffnete und ins Zimmer spähte. Gut. Dann hatte er noch ein bisschen Zeit. Also, erst ins Badezimmer.
Miles drehte das Wasser in der Dusche auf. Die Rohre knackten und zischten eine Weile, bis das Wasser endlich hervorsprudelte. Er duschte, rasierte sich und putzte sich die Zähne. Beim Kämmen stellte er wieder einmal fest, dass seine Haare dünner geworden waren. Eilig zog er sich seine Sheriffuniform an, nahm das Pistolenhalfter aus dem abschließbaren Kasten über der Schlafzimmertür und schnallte es um. Er hörte, wie sich in Jonahs Zimmer etwas regte. Als er durch den Türspalt lugte, blinzelte ihn Jonah aus verquollenen Augen an. Er saß mit verwuschelten Haaren im Bett und war offenbar erst seit wenigen Minuten wach.
Miles lächelte. »Guten Morgen, Chef.«
Jonah hob den Kopf wie in Zeitlupe. »Hey, Dad.«
»Wie wär’s mit Frühstück?«
Jonah streckte die Arme zur Seite und ächzte leise. »Kriege ich Pfannkuchen?«
»Vielleicht lieber Waffeln? Wir sind ein bisschen spät dran.«
Jonah beugte sich vor und zog seine Hosen zu sich. Miles hatte sie am Abend vorher zurechtgelegt.
»Das sagst du jeden Morgen.«
Miles zuckte die Achseln. »Du bist ja auch jeden Morgen ein bisschen spät dran.«
»Dann weck mich früher.«
»Ich habe eine bessere Idee – du schläfst abends ein, wenn ich es dir sage.«
»Dann bin ich aber nicht müde. Ich bin nur morgens müde.«
»Willkommen im Club.«
»Wie bitte?«
»Schon gut«, sagte Miles. Er deutete auf das Badezimmer. »Vergiss nicht, dir die Haare zu kämmen, wenn du angezogen bist.«
»Klar«, sagte Jonah.
Sie hatten sich morgens einen bestimmten Ablauf angewöhnt. Miles steckte zwei Waffeln in den Toaster und goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein. Wenn Jonah mit dem Anziehen fertig war und in der Küche eintrudelte, lag seine Waffel auf dem Teller, und ein Glas Milch stand daneben. Miles hatte die Waffel schon gebuttert, aber den Sirup träufelte Jonah gern selbst darauf. Miles biss in seine Waffel, und eine Weile lang sagte keiner von beiden etwas. Jonah war noch in seiner eigenen kleinen Welt versponnen, und obwohl Miles mit ihm reden musste, wollte er wenigstens warten, bis sein Sohn klar denken konnte.
Nach einigen Minuten freundschaftlichen Schweigens räusperte sich Miles.
»Und wie läuft es so in der Schule?«
Jonah zuckte die Achseln. »Ganz gut.«
Auch diese Frage gehörte zur Routine. Miles fragte immer, wie es in der Schule lief, und Jonah antwortete immer mit »ganz gut«. Aber an diesem Morgen hatte Miles, als er Jonahs Schulrucksack packte, eine Nachricht von Jonahs Lehrerin gefunden, in der sie sich erkundigte, ob er heute zu ihr kommen könne. Etwas an dem Brief hatte Miles das Gefühl gegeben, es handele sich um etwas Ernsteres als das übliche Eltern-Lehrer-Gespräch.
»Alles in Ordnung also?«
Jonah hob die Schultern. »Mhm.«
»Magst du deine Lehrerin?«
Jonah nickte kauend. »Mhm«, nuschelte er.
Miles wartete, ob er noch mehr sagen würde, aber Jonah schwieg. Er beugte sich vor.
»Warum hast du mir dann nichts von dem Brief erzählt, den dir deine Lehrerin mitgegeben hat?«
»Welchem Brief?«, fragte Jonah unschuldig.
»Dem Brief in deinem Rucksack – den deine Lehrerin mir geschrieben hat.«
Jonahs Schultern hüpften auf und ab wie die Waffeln im Toaster. »Vergessen.«
»Wie konntest du so etwas vergessen?«
»Weiß ich nicht.«
»Weißt du denn, warum sie mich sprechen will?«
»Nein …« Jonah zögerte, und Miles wusste sofort, dass er nicht die Wahrheit sagte.
»Sag mal, Sohnemann, hast du Ärger in der Schule?«
Jonah schaute hoch und blinzelte. »Sohnemann« sagte sein Vater sonst nur, wenn er etwas falsch gemacht hatte.
»Nein, Dad. Ich mach nie Quatsch. Ehrlich.«
»Was ist es dann?«
»Ich weiß nicht.«
»Denk nach.«
Jonah rutschte auf seinem Stuhl herum. Er wusste, dass seinem Vater in Kürze der Geduldsfaden reißen würde.
»Na ja, manche von den Aufgaben schaffe ich vielleicht nicht so gut.«
»Hattest du denn nicht gesagt, dass alles gut läuft?«
»Es läuft auch echt gut. Ms. Andrews ist wirklich nett, und ich gehe gern hin.« Jonah schwieg. »Nur manchmal verstehe ich eben nicht, was die da im Unterricht machen.«
»Dazu gehst du ja zur Schule. Damit du etwas lernst.«
»Ich weiß«, antwortete Jonah. »Aber sie ist nicht wie Mrs. Hayes im letzten Jahr. Die Aufgaben, die sie uns gibt, sind schwer! Manche schaffe ich einfach nicht.«
Jonah wirkte jetzt ängstlich und verlegen. Miles legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Warum hast du mir nicht erzählt, dass du Schwierigkeiten hast?«
Jonah zögerte lange, bevor er eine Antwort gab.
»Weil ich nicht wollte, dass du böse auf mich bist«, sagte er schließlich.
Nach dem Frühstück vergewisserte Miles sich, dass Jonah alles eingepackt hatte, half ihm, den Rucksack aufzusetzen, und brachte ihn zur Tür. Jonah war nach dem Gespräch sehr still gewesen.
Miles bückte sich zu ihm herunter und küsste ihn auf die Wange. »Mach dir keine Sorgen wegen heute Nachmittag. Es wird schon alles gut werden, okay?«
»Okay«, murmelte Jonah.
»Und vergiss nicht, dass ich dich abhole. Steig nicht in den Schulbus ein.«
»Okay.«
»Ich hab dich lieb, Chef.«
»Ich hab dich auch lieb, Dad.«
Miles sah seinem Sohn nach, wie er zur Bushaltestelle an der Straßenkreuzung trottete. Missy wäre über das, was heute früh passiert war, nicht so überrascht gewesen wie er. Missy hätte längst über Jonahs Schulprobleme Bescheid gewusst. Missy kümmerte sich um solche Sachen.
Missy kümmerte sich um alles.