Usch Luhn
Mit Illustrationen
von Franziska Harvey
Das erste Kapitel
durchkreuzt Neles Ausflugspläne beweist, dass Großtante Adelheid an jeder Ecke fehlt
vergleicht Nele mit einem Huhn
und überlässt einem tomatenroten Fahrrad das allerletzte Wort
Plemplem! Total plemplem!
»Plopp … plopp … plopp!« Es regnete bereits den ganzen Vormittag. Riesige Wassertropfen prasselten auf die uralte Burg Kuckuckstein und überschwemmten den gepflasterten Hof.
»Unverschämt«, meckerte Nele. »Total unverschämt dieses miese Wetter!«
Sie trat in Gummistiefeln und Regenjacke aus der Haustür und starrte grimmig in den Himmel. Ein dicker Regentropfen traf genau ihre Nasenspitze.
»Mir doch egal!«, rief Nele trotzig und leckte den Wassertropfen mit ihrer Zunge weg. »Es ist Wochenende und damit basta!«
Sie schnappte ihren Rucksack und trabte entschlossen zum Schuppen. Nach heftigem Geruckel schaffte sie es, den Riegel zu öffnen. »Könnte Papa auch wieder mal ölen«, murmelte sie. Ihr war ganz heiß geworden vor Anstrengung. Sie stieß die Tür auf und begann über das ganze Gesicht zu strahlen: Direkt vor ihr funkelte es Nele an. Ihr supertolles nagelneues Fahrrad. Es war tomatenrot lackiert und hatte sieben Gänge. Aber das Allercoolste war die knallgrüne Hupe, die aussah wie ein Papagei. Natürlich nicht irgendein beliebiger Papagei.
Wenn man die Papageienhupe fest zusammenquetschte, ertönte ein ohrenbetäubendes Kreischen und eine Stimme krächzte: »Plemplem! Plemplem! Total Plemplem!«
Plemplem war der eigenwillige Papagei, der zusammen mit Nele und ihrer Familie auf Burg Kuckuckstein wohnte. Das heißt: Plemplem verbrachte schon sein halbes Papageienleben auf Kuckuckstein, während die Winters erst seit knapp einem Jahr dort wohnten.
Großtante Adelheid hatte Plemplem zusammen mit der Burg geerbt, und deshalb bildete er sich wohl ein, er sei der echte Burgherr von Kuckuckstein. Häufig benahm er sich ziemlich ungezogen und spuckte seine Walnusskerne überallhin, wo es ihm passte. Sogar in Herrn Winters Kaffeetasse.
Ziemlich frech!
Wer die Winters kannte, für den war es nicht schwer zu erraten, wer Nele dieses tolle Fahrrad geschenkt hatte.
Natürlich Großtante Adelheid, die zusammen mit ihrem Mann Edward oben im Turm wohnte. Wenn die beiden nicht gerade wieder einmal auf Weltreise waren. Adelheid liebte Abenteuer über alles, und Onkel Edward, der es eigentlich lieber etwas gemütlicher mochte, liebte seine Adelheid. Und so suchten sie sich die verrücktesten Reiseziele aus, die man sich nur vorstellen kann.
Die Idee mit der Hupe stammte auch von Großtante Adelheid. Dafür hatte sie die Stimme von Plemplem heimlich mit ihrem Handy aufgenommen und in die Hupe einbauen lassen.
Sosehr sich Nele über ihr Fahrrad freute, so betrübt war sie, dass Großtante Adelheid und Großonkel Edward verreist waren. Zwar düsten die beiden diesmal nicht um den ganzen Globus, sondern waren bloß in Schottland bei Edwards Mutter. Die feierte nämlich ein riesiges Fest zu ihrem hundertsten Geburtstag. Aber das dauerte schon viel zu lange, fand Nele. Denn auf Kuckuckstein ging in der Zwischenzeit alles drunter und drüber.
Großtante Adelheid war nicht nur die gute Seele von Burg Kuckuckstein, sondern hielt auch den Burggeist Graf Kuckuck in Schach. Seit sie im Turm schlief, hatte Graf Kuckuck es ganz aufgegeben, den Burgbewohnern nachts auf die Nerven zu gehen. Außerdem wurde es mit Adelheid nie langweilig.
Sie war eben »Verrückt! Verrückt! Total verrückt!«, wie Plemplem zu gerne von der höchsten Burgzinne schmetterte.
Aber wenn Tante Adelheid lieber Party mit schottischen Burggespenstern machte, musste Nele eben alleine los: Sie war fest entschlossen, heute endlich einen Ausflug mit ihrem neuen Fahrrad zu unternehmen. Schlechtes Wetter hin oder her.
Feierlich schob Nele das Fahrrad zum allerersten Mal hinaus auf den Hof. Gerade in diesem Augenblick schob sich die Sonne hinter den dicken Regenwolken hervor und schickte einen aufmunternden Sonnenstrahl zu ihr herunter. Nele winkte dankbar nach oben und schwang sich glücklich auf den echten Ledersattel.
Zu gerne hätte sie ihre Hupe gleich mal ausprobiert, aber sie wollte ihre Eltern lieber nicht auf sich aufmerksam machen. Unternehmungslustig trat Nele in die Pedale. »Hüaaaaah!«, spornte sie ihren Drahtesel an. »Auf geht’s!«
In diesem Moment ertönte ein vorwurfsvolles Jaulen. Nele drehte sich um und entdeckte Sammy. Der kleine Hund saß auf der Türschwelle, so weiß wie eine Schneeflocke, und streckte seine Schnauze vorsichtig in den Regen.
»Sammy!«, sagte Nele zärtlich. »Hast du es dir doch noch überlegt?«
Neles Hund Sammy hasste Wasser, besonders wenn es aus dem Himmel kam. Deshalb hatte er sich vorhin, als Nele ihre Regensachen hervorholte, mit eingezogenem Schwanz in die hinterste Ecke verzogen.
»Na, komm schon. Los!« Nele schnalzte lockend. »Ein bisschen frische Luft tut dir auch gut.«
Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung, sagte Großtante Adelheid immer. Und die musste es wissen, schließlich hatte sie sogar schon im Regenwald Urlaub gemacht. Sammys Fell war ja wohl Regenschutz genug.
Als ob er sich auf den nassen Pflastersteinen verbrennen könnte, tastete sich Sammy zentimeterweise auf seinen vier Pfoten hinaus ins Freie.
Platsch! Sogleich patschte er mit seiner linken Vorderpfote in eine tiefe Pfütze. Winselnd zog Sammy sie heraus und schüttelte sich angewidert. Empört trat er den Rückzug an und wuffte noch ein paarmal kräftig, bevor er in die Burg verschwand.
»Na, dann eben nicht, du Feigling!«, rief ihm Nele eingeschnappt hinterher. »Du weißt gar nicht, was du verpasst. Vielleicht besuche ich sogar Otto.«
Otto war ein kleiner schwarzer Terrier und der beste Freund von Sammy. Er gehörte Tanne, die wiederum Neles allerbeste Freundin war. Der Dritte im Freundesbund war Lukas. Der hatte zwar keinen eigenen Hund, aber dafür jede Menge Schafe, Ziegen, Kühe und was es sonst noch auf einem Bauernhof gab.
Gerade als Nele über die holprigen Pflastersteine durch das Burgtor radelte, hörte sie einen lauten Ruf.
»Nele! Nele, sofort bleibst du stehen!«
Nele seufzte laut auf. Irgendwie war heute nicht ihr Glückstag. Dabei wollte sie doch nur eine winzige Fahrradtour machen.
Ihre Mutter Barbara kam ihr in olympiareifer Leistung hinterhergespurtet. Anscheinend hatte sie in der Eile vergessen, ihre Schuhe anzuziehen, denn sie trug ihre Plüschhausschuhe mit den Hasenohren.
»Was fällt dir ein, bei diesem Ekelwetter mit dem Rad loszufahren?«, legte sie los, kaum dass sie Nele eingeholt hatte. »Wer soll denn auf dich aufpassen, wenn du krank wirst?« Sie sah ihre unvernünftige Tochter vorwurfsvoll an.
Neles Mama arbeitete als Fotografin bei einer Zeitung und war rund um die Uhr auf Achse. Vater Winter war Tischler und baute tolle Möbel für andere Leute.
»Echt doof, dass Adelheid immer noch in Schottland ist«, sagte Barbara Winter mehr zu sich selber als zu Nele. »Was treibt sie da so lange? Ich schaffe das einfach nicht ohne sie.« Sie runzelte besorgt die Stirn.
Nele schossen urplötzlich Tränen in die Augen. Ausnahmsweise musste sie ihrer Mutter recht geben.
Tante Adelheid fehlte wirklich an jedem Ende.
Jeden Mittag musste Nele Mamas Kochkünste über sich ergehen lassen. Auch wenn sich Mama noch so doll anstrengte: Mit dem Herd stand sie ganz schön auf Kriegsfuß. Gestern hatte sie den Puderzucker für die Pfannkuchen sogar mit dem Salz verwechselt. Zum Glück hatte es Nele rechtzeitig bemerkt.
»Ich vermisse Tante Adelheid auch«, sagte Nele weinerlich und drückte trotzig auf ihre Hupe.
»Plemplem! Plemplem! Total plemplem!«
Nele kicherte. Die Hupe war wirklich einsame Spitze.
Barbara Winter zuckte erschreckt zusammen. »Was um Himmels willen … Eine echte Schnapsidee, diese schreckliche Hupe.«
»Ich find die Hupe total cool«, grinste Nele. »Wenn ich schon nicht fahren darf, will ich wenigstens hupen.« Sie guckte ihre Mutter herausfordernd an.
»Ich meine es doch nur gut, Nele. Niemand will dir dein tolles Fahrrad mies machen. Bitte stell das Rad zurück in den Schuppen und zieh vor allem deine nassen Klamotten aus«, sagte ihre Mutter etwas sanfter.
»Aber ich will auf der Stelle mit meinem neuen Fahrrad herumfahren«, jammerte Nele los.
Barbara Winter strich Nele über die Haare. »Ich hab das Wetter nicht bestellt«, verteidigte sie sich. »Aber du kannst Tanne und Lukas zum Übernachten einladen.«
Nele begann zu strahlen. »Superidee, Mami!« Sie quetschte begeistert ihre Hupe. »Plemplem! Plemplem! Total plemplem!«
Barbara Winter schüttelte den Kopf. »Ein albernes Huhn bist du. Fast so verrückt wie deine Großtante. Aber wenn ihr heute Nacht Unsinn anstellt, rupfe ich dir jede Feder einzeln aus.«
Nele strahlte. »Keine Sorge, Mami. Wir machen uns sogar selber Abendbrot.« Sie zeigte auf Barbara Winters Hausschuhe. »Pass auf, dass deine Zehen keinen Schnupfen kriegen. Deine Hasenohren sind schon ganz schlapp.«
Barbara Winter guckte überrascht auf ihre Füße. »Na so was«, sagte sie. »Das sehe ich ja erst jetzt, dass ich in Hausschuhen herumlaufe. Echt plemplem.«
Nele kicherte. »Sag ich doch die ganze Zeit, Mami! Du bist …« Sie quetschte ihre Hupe: »Plemplem! Plemplem! Total plemplem!«
Schnell flüchtete sie sich mit ihrem Fahrrad in den Schuppen, um Mamas Rache für ihren frechen Spruch auch ja zu entkommen.