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www.piper.de

ISBN 978-3-492-95827-1

April 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2002 und 2012

Coverkonzept: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Covermotiv: Am Strand von Rimini (Trude Lukacsek/Anzenberger)

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Datenkonvertierung:le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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O sole mio

Eine Einführung

Endlich! Die Schwalben, die in Italien den Frühling bringen, sind da. Der Himmel leuchtet azurblau, und die Sonne lacht. Wer würde solch einen Tag nicht mit einem Eis feiern wollen? Schon hat sich eine lange Schlange vor der Gelateria »Grom« im Corso Buenos Aires gebildet. Das ist eine von allen Medien gefeierte neue Kette von Eisdielen, die zwei junge Unternehmer aus Turin aufgebaut haben. Die mögen zwar wöchentlich ihre phantasievollen Geschmacksangebote wechseln und außerdem für die Qualität ihrer Zutaten bürgen, aber ich ziehe – vielleicht aus Nostalgie, vielleicht aus Misstrauen gegenüber Großketten – die kleine Gelateria vor, in der die Betreiber das Eis noch in den Räumen hinter dem kleinen Laden selbst herstellen. Und außerdem mag ich nicht Schlange stehen und mich von uniformierten, anonymen Verkäufern bedienen lassen. Speiseeis (das leider oft in erbärmlicher Qualität verkauft wird) ist eine Vertrauenssache. Es kann eine Delikatesse sein, die dem Süden auch im Winter eine sommerliche Note gibt. Allein wenn ich an dieses frische, lockere, zitronenduftende Speiseeis aus Sizilien denke, das ich einmal im Februar zusammen mit einer Brioche in Catania genossen habe, wird mir warm ums Herz. Denn Speiseeis, wie jeder Kenner weiß, wärmt. Jedenfalls innerlich. Wärmt die Seele. Lidia, meine italienische Frau, ist da ganz anderer Ansicht. Für sie gehört Eis zum Sommer, weil es erfrischt. Die Italiener sind eben ein ganz praktisches, unsentimentales Volk. Vielleicht passen Deutsche und Italiener deshalb auch so gut zusammen. Und man könnte meinen, die Sizilianer haben das Eis extra für die Völker nördlich der Alpen erfunden, um ihnen ein bisschen den Süden näherzubringen.

Jetzt könnte jemand einwenden: Die Zitronen, die kommen vielleicht aus Sizilien, aber das Eis, das frische, lockere, zutatenduftende, das wurde im Cadore in den venetischen Dolomiten erfunden. Nicht Sizilien? – Nein, Veneto! – Doch, Palermo! – Nein, Cadore! – Palmen und Meer! – Nein, Fichten und Seen! – Süden! – Norden!

So sind die italienischen Verhältnisse. Das Land, wo die Zitronen blühen, das kennt man. Über Italien wissen die meisten Deutschen genauso gut Bescheid wie über die Aufstellung ihrer Nationalmannschaft. Hier kann jeder mitreden, selbst die, die noch gar nicht da waren. Schließlich ist Italien von der Prosecco-Bar bis zum Benetton-Laden, von der Gelateria bis zur Pizzeria längst zu uns gekommen. Und was Italien als beliebtes Urlaubsziel angeht, gehört es im Grunde zu Deutschland.

Die Italiener sind so sympathisch, weil wir uns ihnen gerne – und sei es auch nur ganz im Stillen – ein bisschen überlegen fühlen. Die Tüchtigen und Pünktlichen, die es am Ende richten müssen, reden wir uns gerne ein, das sind wir. Und doch beneiden wir sie wegen ihrer Kreativität, wegen ihrer (angeblichen) Fähigkeit, das Leben leichtzunehmen, wegen ihrer Kunstschätze, den vielen Stränden und natürlich wegen der Sonne. O sole mio.

Als im August des Jahres 1920 bei den Olympischen Spielen von Antwerpen die italienische Nationalhymne gespielt werden sollte, fehlten die Noten. Der Dirigent zögerte einen Augenblick und ließ dann eine Melodie spielen, die seine Musiker auswendig konnten: »O sole mio«. Das neapolitanische Volkslied war da gerade dank der Interpretation von Enrico Caruso auf dem neuen Massenmedium Schallplatte zu einem Weltschlager geworden. Die Geschichte dieses Liedes ist verbunden mit vielen solcher Geschichten, die von Elvis Presley (»It’s now or never«) über Juri Gagarin (der das Lied zum ersten Mal im Weltraum sang) bis zu Papst Johannes Paul II. reichen. Der Song ist sprachlich so unbedarft (»Meine Sonne/leuchtet aus deinem Gesicht!«), wie seine Melodie eingängig ist. Aber geradezu tragisch ist das Schicksal seiner Autoren. Der Komponist Eduardo Di Capua, der »O sole mio« vermutlich 1898 nicht in Neapel, sondern während eines Tourneeaufenthalts in Odessa in Noten setzte, starb verarmt 1917. Auch der Texter Giovanni Capurro erlebte den Welterfolg seiner Verse nicht mehr. Und spätestens dann wäre er vor Gram gestorben, denn ein neapolitanischer Musikverleger hatte sowohl Texter als auch Komponisten um ihre Autorenrechte betrogen. Singen steht in Neapel für alle Nuancen zwischen Lachen und Weinen. So hat es jedenfalls der deutsche Komponist Hans Werner Henze (1926–2012) einmal ausgedrückt, der den größten Teil seines Lebens in Italien verbracht hatte.

Urteile, Vorurteile

Den kennen Sie wahrscheinlich: Was ist das Paradies? Das sind ein englischer Polizist, ein französischer Koch, ein deutscher Techniker, ein italienischer Liebhaber, und alles wird von den Schweizern organisiert. In der Hölle dagegen gibt es einen englischen Koch, einen französischen Techniker, einen deutschen Polizisten, einen Schweizer Liebhaber, und alles wird von den Italienern organisiert. Oder wie Winston Churchill gesagt haben soll: »Die Italiener verlieren ihre Fußballspiele, als ob es Kriege wären, und verlieren ihre Kriege, als ob es Fußballspiele wären.« Sind sie so?

Über die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien gibt es ein bitteres Wort, das jedem, dem beide Kulturen am Herzen liegen, einen Stich versetzt: »Die Deutschen lieben Italien, aber achten die Italiener nicht, die Italiener bewundern Deutschland, aber lieben die Deutschen nicht.« Eine weitere Weisheit besagt: »Die Deutschen leben, um zu arbeiten, die Italiener hingegen arbeiten, um zu leben.« Aber es gibt auch andere Ansätze, wie den des Satirikers Robert Gernhardt: »Italiener sein, verflucht! Ich habe es oft und oft versucht – es geht nicht!« In ihrem letzten Text, den man nach ihrem Tod fand, schrieb die große italienische Journalistin Franca Magnani über die anscheinend unausrottbaren Vorurteile: »Die Klischees, diese von uns so sehr bekämpften und verpönten, haben sich weitgehend bestätigt.« Die Klischees kommen von weither, in der ersten Auflage des Meyer-Lexikons von 1846 konnte man gar nachlesen: »Der Deutsche und der Italiener divergieren in ihrem Charakter so sehr, dass beide gleichsam die Pole der westeuropäischen Menschheit bilden.« Klischees sind dazu da, dass man sie überwindet. Aus der langjährigen Erfahrung einer Ehe mit einer Italienerin weiß ich, dass es durchaus eine Anziehungskraft zwischen diesen Polen gibt. Und was kann schöner sein, als sich im Februar darüber zu streiten, ob man ein Eis essen soll oder nicht?

Die Deutschen kennen wir. Das sind wir schließlich selbst. Wer und wie aber sind die Italiener? Ein Italiener, so hört man, ist vor allem ein Piemonteser oder ein Sizilianer, ein Neapolitaner oder ein Römer. Noch heute steht der regionale, sogar der lokale Bezug vor dem nationalen. Italien ist historisch gesehen »ein Land mit hundert Städten und tausend Türmen«. Als zwischen 1860 und 1870 im Risorgimento, in der nationalen Einheitsbewegung, ein italienischer Einheitsstaat entstand, wurde die Losung ausgegeben: »Wir haben Italien geschaffen, jetzt geht es darum, die Italiener zu schaffen.« Das scheint bis heute nicht gelungen zu sein – trotz des römischen Zentralismus, der in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder von regionalen Bewegungen infrage gestellt worden war. Nach wie vor sind die Neapolitaner lebhaft, skeptisch und trotz der großen sozialen Probleme meist guter Laune, die Sizilianer verschlossen und pessimistisch, die Lombarden geschäftstüchtig, die Piemontesen fleißig, die Ligurier sparsam, die Toskaner gewitzt, die Römer herzlich, aber plump – warum sollten sie »italienisch« werden?

Italienisch an Italienern, so habe ich gelernt, ist das Bedürfnis, bella figura zu machen. Nun wollen auch wir Nichtitaliener bella figura, also einen guten Eindruck machen. Aber bei den Italienern reicht das tiefer. Ein Turiner Bekannter erzählte mir, wie er an einem Sonntagmorgen eine auto- und menschenleere Straße bei roter Ampel überquerte. Aus den Augenwinkeln sah er noch einen vigile, einen städtischen Polizisten, vorbeigehen, der ihn prompt herbeizitierte. Mein Bekannter verteidigte sich: eine menschenleere Straße, da gäbe es doch keinen Grund zu warten. Der Beamte sagte, die Straße sei nicht das Problem, die Ampel auch nicht, aber ob er ihn, den vigile, nicht gesehen habe? Welche figura würde er als Ordnungshüter abgeben, wenn man in seiner Gegenwart die Ordnung nicht ernst nehme? Man sollte also allen Italienern, den Ordnungshütern voran, immer die Gelegenheit geben, bella figura zu machen. Sie werden es Ihnen herzlich danken.

Jeder Italiener kultiviert stets seine individuelle Note, besonders, wenn er sich in der Masse bewegt. Wer je an einem Sonntagabend im Stau auf der Autobahn vor dem casello, der Mautstelle, steht, kann es in den erstaunten Augenpaaren in den Nachbar­autos lesen: Warum sind all die anderen eigentlich hier? Diese individualistische Grundhaltung hat übrigens auch dazu geführt, dass in Italien die Kommunistische Partei – solange es sie noch gab – die freiheitlichste unter ihren europäischen Schwesterparteien war. Was beweist, dass in Italien Alltag und Politik aufs Spannendste verbunden sind – woraus der ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit einer unverfrorenen Mischung aus privat und öffentlich ein ganzes Programm gemacht hat. Aber auch in der Politik würde jeder Italiener am liebsten eine eigene Partei bilden, die seine ganz persönlichen Interessen vertritt. Es trifft ihn hart: Wie an der Mautstelle muss man als Individualist eben Kompromisse schließen und sich irgendwo einreihen (nachdem man aber schnell noch mal jemanden überholt hat). Vielleicht sind deshalb der Kompromiss und die Suche nach dem Konsens trotz gleichsam angeborener Debattierlust »typisch« italienische Eigenschaften.

Der »Stinkstiefel«

Typisch italienisch ist jedenfalls, dass man schlecht über sich selbst redet, wie man es anderen nie gestatten würde. Sind Italiener »gute Menschen«? Dumme Frage, möchte man meinen. Ein Landsmann wie der Erfolgsautor Andrea Camilleri will gar nicht leugnen, dass es unter seinen Mitbürgern eine Menge guter Menschen gibt. Aber die Emigranten, »die täglich an unseren Küsten landen«, wären »mit dieser Definition nicht einverstanden«. Während der Ära Berlusconi hat Camilleri kleine bissige Texte geschrieben, die auf Deutsch unter dem Titel »Was ist ein Italiener?« als Buch erschienen sind. Und er lässt kein Thema aus: Faschismus heute? »Vierundsechzig Jahre Demokratie haben nicht genügt, um das Blut der Italiener zu reinigen.« Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens? Die unterrichtet in einer Schule, »die die Italiener nie besucht haben«. Bildung? »Der Italiener ist vor allem eingebildet.« Und so geht das munter weiter. So viel vernichtende Selbstkritik, wie die des fast neunzigjährigen Camilleri, der wie mit einem Surfbrett über den langen Wellen des Volkscharakters von der staatlichen Einigung im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart kurvt, ist dennoch ungewöhnlich. Es gipfelt in der Beschreibung des Ideals eines Berlusconi-Italieners. Der möchte ein motorino sein, also wie die Mopeds durch den Verkehr wuseln, rote Ampeln und Einbahnstraßen missachten und darauf vertrauen, dass die Polizisten sowieso weggucken: »Ihre Bewegung ist ein einziger Verstoß gegen die Regeln. Sie dürfen alles.«

Ach ja, Berlusconi. Über das, was er seinem Land im Inneren angetan hat, mögen die Italiener selbst urteilen (siehe auch Seite 150). Aber wie er das Bild Italiens im Ausland ruiniert hat, ist kaum noch zu beschreiben. »Stinkstiefel« haben die Medien das Land genannt. Der Staat würde am Boden liegen, die Politik korrupt sein und die Wirtschaft vor dem Kollaps stehen, während die Regierenden lockere Feste feierten. »Italien, was hast du bloß aus dir gemacht?«, lautete eine Schlagzeile aus dem Jahr 2008. Italien sei unverschämt teuer, lasse seine Kunstschätze verkommen und schütte die schönsten Landschaften mit Beton zu. Zwei Schweizer Journalisten schrieben damals im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« einen Artikel unter der Überschrift »Lecko mio«: Es sei »aus, Schluss, finito!« Man habe Italien lange geliebt, doch »leider ist die Luft aus der Beziehung.«

Beiträge wie dieser erhöhten noch den Frust vieler enttäuschter Italienliebhaber, die sich wortreich von ihrer Geliebten nach dem Motto trennen: Du bist nicht mehr die, die ich einst gekannt hatte. Der Maler Markus Lüpertz hatte es in einer Rede zum 100. Jahrestag der Gründung der Villa Romana, der deutschen Künstlervilla in Florenz, so gesagt: »Aus dem Zwang, dieses Land zu begreifen, suchen wir es heim und belästigen es mit Liebe.« Die gleichsam logische Folge: Italien wehrte sich und machte sich unbeliebt. »Italien mein Immerland«, dichtete vor Jahrzehnten Rose Ausländer. Was würde sie heute schreiben? Mein Nimmerland?

Gott sei Dank haben sich inzwischen die Wogen wieder etwas geglättet. Man achtet wieder auf die Vielfalt der Farben, die Schattierungen des Lichtes und die großartigen Landschaftsbilder von den Alpen bis nach Sizilien, die Reisende auf der Suche nach einem milden Klima seit jeher angezogen haben. Städte der unterschiedlichsten Art bewahren Geschichte und Kultur. Hier haben die Künste ein ideales Umfeld gefunden, sind Musik und Malerei gewachsen, Literatur und Film, Mode und Design. Italien, das ist schließlich auch die Kunst zu leben – bei Tisch, im Gespräch und auf der Piazza. Man kann über 150 Jahre nach Gründung der staatlichen Einheit südlich der Alpen stolz sein auf ein Land, das – gegenwärtigen Widrigkeiten zum Trotz – wie kaum ein anderes in Europa bis in den Alltag hinein Ausdruck einer jahrtausendealten Kultur ist.

Doch es gibt einen Wandel des Italienbildes, und man würde es sich zu einfach machen, würde man ihn nur Berlusconi (und dem quälend langen Theater um seinen Abschied von der Politik) in die Schuhe schieben. Der Basler Schriftsteller Dieter Bachmann, der mehrere Jahre lang das Schweizer Kulturinstitut in Rom leitete und heute noch in Umbrien den Sommer verbringt, hat sich in einem Reisebuch (»Die Vorzüge der Halbinsel«) auf die Suche nach Italien gemacht. Am Ende führt er ein Gespräch mit einem Freund, mit Peter Kammerer, der seit Jahrzehnten in Italien lebt und an der Universität Urbino Soziologie unterrichtet. Es geht um die Frage: Was ist in dem Land kaputtgegangen, das von den Sechzigerjahren an wegen des Zweiten Vatikanischen Konzils, der Kommunistischen Partei und dem inneren Nord-Süd-Konflikt einmal »das interessanteste der Welt« gewesen war? Kammerers These: Europa konnte mit diesem Italien nichts anfangen, die »von hier ausgehenden Impulse wurden vom Mainstream in Europa nicht aufgenommen«. Italien wurde dagegen »europäisiert«, und damit sei eine Entwicklung eingetreten, die das Land nicht ausgehalten habe: »Die Italiener wollten irgendwann auch so werden wie die anderen Europäer, wollten viel Zement, viel Stahl, viel Verkehr, viel Energie, viel Müll und konnten nicht mehr mit ihren eigenen Instrumenten und Mitteln umgehen.« Die beiden Gesprächspartner setzen aber bald ihrem Pessimismus eine optimistischere Sicht entgegen. Denn Italien sei, mehr als Griechenland, die Wiege Europas. Wenn wir glauben, dass unsere Identität, dass unser Leben und der Wert des Lebens damit zusammenhängen, was wir in den letzten 2000 Jahren gemacht haben, wenn also Geschichte wichtig ist, »dann wird Italien unverzichtbar.« Italien, ein altes Wunderland in neuer Unvertrautheit.

»Leben wir hier auf dem Mond?«

Italien hat sich rasant verändert, auch in den vergangenen 15 Jahren, seit ich die erste Ausgabe dieser »Gebrauchsanweisung« geschrieben habe. Sogar die Winde drehen sich im Lauf des Klimawandels. In Rom geht der Ponentino zurück, der leichte, erfrischende Westwind, der vom Meer aus weht, dafür nimmt der feuchte Schirokko aus dem Südosten zu. In der Toskana, etwa bei Livorno, schwächt dagegen der schwüle, aber auch kräftige Libeccio ab, der manchmal von Südwest das Meer bis in die Stadt hineingetrieben hat, und wird von dem kühleren Grecale aus Nordosten ersetzt. So sind frische Eindrücke in den Text eingeflossen. Manche Sichtweisen haben sich geändert, ich habe viel dazugelernt und weiß doch, wie mir scheint, noch immer nicht genug über dieses alles in allem wundervolle Land. Manchmal fühle ich mich wie ein ewiger Schüler. Einer von denen, die in Lidias kleiner Sprachschule hier in Mailand in der Via Ponte Vetero gegenüber der zauberhaften Piazza del Carmine, einen Grundkurs belegen. Da lernen Manager, Studenten oder Au-pair-Mädchen nicht nur, Italienisch zu verstehen und zu sprechen, sondern erfahren auch einiges über das Land. Das beginnt mit einfachsten kulturellen Grundregeln (keinen Cappuccino nach dem Essen bestellen) und praktischen Tipps (Briefmarken kauft man nicht in der Post, sondern im tabacchi, dem Tabak-Shop – wenn man sie im Zeitalter von SMS und MMS überhaupt noch braucht). Man redet etwa über Verhaltensmaßregeln bei einem Privatbesuch (zum Abschied geht man nach der Ankündigung »Jetzt wollen wir aber gehen« nicht ruck, zuck weg wie nördlich der Alpen, sondern hält sich auch im Stehen noch eine geraume Zeit plaudernd bei den Gastgebern auf ). Vor allem kommen Lidia und ihre Kollegen aber auf aktuelle gesellschaftliche Fragen zu sprechen. Was im Land eben gerade so diskutiert wird. Zum Beispiel das schwierige Zusammenleben nicht verheirateter Paare, die coppie di fatto (faktische Paare) genannt werden. Oder die Rolle der Frauen. Frauen treten in Italien selbstbewusst in der Öffentlichkeit auf, sind aber in Politik und Wirtschaft total unterrepräsentiert. Als der italienische Staat vor 150 Jahren gegründet wurde, waren gerade mal 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt, ab 1912 durften alle männlichen Personen über 21 Jahren an die Urnen treten. Das allgemeine Wahlrecht für Frauen wurde dann erst 1946 im republikanischen Italien eingeführt (in Deutschland 1919).

Von der ersten Stunde an kommen die Schüler mit eigenen Beobachtungen und Fragen zu Wort. Zum Beispiel wollen sie wissen, warum man in Italien nicht essen gehen kann, wann man will, die Restaurants und Pizzerien also nicht durchgehend geöffnet haben und zwischen 15 und 19 Uhr geschlossen bleiben. Je nachdem, woher sie kommen, wird das Leben in Mailand beispielsweise als »chaotisch« (etwa von vielen Deutschen) empfunden oder auch als »absolut ruhig und normal« (etwa von den meisten Brasilianern). Manchmal tauchen bereits im Vorfeld merkwürdige Anfragen auf. Kürzlich fragte ein Deutscher, ob es im Land auch 220 Volt Wechselstrom gebe, denn er habe leider keinen Laptop mit Gleichstromanschluss. Oder ob man in der Schule auch die lateinischen Schriftzeichen benutzen würde, lautete eine andere Anfrage, ebenfalls aus Deutschland. »Wir schreiben doch nicht mit Hieroglyphen! Denken die, wir leben hier auf dem Mond?«, schnaubte Lidia wütend, als sie mir die beiden Mails mit den besorgten Nachfragen zeigte. »Das sind deine Landsleute!« Aber natürlich hat sie die Anfragen dann aufs Allerhöflichste beantwortet.

Dem Alltagsleben, so wie es im Unterricht thematisiert wird, mangelt es nicht an Merkwürdigkeiten. Am Monte Rosa zum Beispiel (mit rund 4600 Meter nach dem Monte Bianco/Mont Blanc der zweithöchste Alpengipfel in Italien) sind die Goldgräber zurückgekehrt und haben bei dem Ort Macugnaga längst verschüttete Minen wieder freigelegt. Ist das ein Zeichen der Wirtschaftskrise oder nur ein geschicktes Mittel, um Touristen anzulocken? Überhaupt kommt das Alte wieder in Mode, das Boccia-Spiel zum Beispiel. In Norditalien spielen das nicht nur Rentner zum Zeitvertreib, sondern neuerdings schieben gerade Zwanzig- und Dreißigjährige eine ruhige Kugel zur abendlichen Entspannung nach der hektischen Arbeit. Alte Gebäude werden umfunktioniert. Auf Sardinien etwa wandeln sich an den Küsten Leuchttürme in Restaurants und Hotels. Überhaupt, so eine These des britischen Historikers und Bestsellerautors Niall Ferguson, entwickle sich der Süden Europas in den kommenden Jahrzehnten zur Sommerresidenz des reichen Nordens – Italien, demnächst ein einziges Feriendorf für Schweizer, Österreicher und Deutsche?

Ein paar Fakten

Halten wir uns lieber an die Tatsachen. In Italien leben rund 60 Millionen Menschen. Wenn die gegenwärtige Geburtenrate konstant niedrig bleibt, werden es im Jahr 2050 nur noch 46 Millionen sein. Zurzeit sind im Land offiziell rund 5 Millionen Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis registriert (davon 1,4 aus europäischen Staaten). Wie viele es inoffiziell sind, weiß man nicht. Die Arbeitslosenquote betrug Anfang 2016 12,7 Prozent (in Süditalien reicht die Jugendarbeitslosigkeit dramatisch an die 50-Prozent-Marke). Pro Woche wird durchschnittlich 35 Stunden gearbeitet – in Deutschland 30, Frankreich 32 und Großbritannien 36. Es gibt drei Millionenstädte: Rom, die Hauptstadt, hat 2,8 Millionen, Mailand 1,4 Millionen und Neapel eine Million Einwohner. Die etwa dreißig Millionen Hektar große Landesfläche (kleiner als Deutschland und auch als Polen) setzt sich zu drei etwa gleich großen Teilen aus Berglandschaft, Hügeln und Ebene zusammen. Die Luftlinie zwischen nördlichstem und südlichstem Punkt misst 1177 Kilometer (in Deutschland 832 Kilometer), die Autobahnstrecke zwischen Brenner und Reggio Calabria ist 1450 Kilometer lang. Die Halbinsel ist relativ schmal (Breite bis zu 244 Kilometer) und wird von ihren Küsten mit 8600 Kilometer Meeresgrenzen geprägt. Dazu zählen auch die Strände, an denen wir so gerne in der Sonne liegen und faulenzen. Oder abgelegene Ufer, an denen Flüchtlinge aus ärmeren Weltgegenden im Schutz der Dunkelheit Zugang zum reichen Europa suchen.

Geopolitisch ist das Land in 20 Regionen und 110 Provinzen aufgeteilt, wobei den Provinzen gerade die meisten Kompetenzen entzogen wurden, die der Gesetzgeber dann entweder den Regionen oder neuen »metropolen Zonen« um Städte wie Mailand, Rom, Neapel etc. zugeschlagen hat. Die im Norden haben einen höheren Lebensstandard (über dem EU-Durchschnitt) als die im Süden (unter dem EU-Durchschnitt). Der Nord-Süd-Gegensatz, der die Geschichte und Entwicklung des Landes seit dem Risorgimento geprägt hat (und selbst eine Region wie die Toskana teilt), ist nicht leicht zu fassen. Denn allein der nördliche Landesteil ist bereits keine homogene Gemeinschaft. Manchmal zählt man die Region Emilia-Romagna hinzu, manchmal nicht. Landeskundler und Soziologen trennen außerdem zwischen dem Nordwesten (Piemont/Ligurien/Lombardei) und dem Nordosten (Südtirol/Trentino/Venetien/Friaul), die jeweils ganz unterschiedliche Traditionen haben. Auch das Piemont und die Lombardei sind sich nicht grün. Nie werde ich so oft gefragt, ob man denn in dem schrecklichen Mailand überhaupt leben könne, wie in Turin. Und Giorgio Bocca, der große alte Publizist, der in Cuneo (Piemont) geboren wurde, aber in Mailand (also in der Lombardei) bis zu seinem Tod 2012 lebte, erzählte immer die Geschichte vom Zeitungsstreik. Wenn früher in Turin und Umgebung die Mitarbeiter der »Stampa« oder anderer Lokalblätter streikten, verließen die Piemontesen den Kiosk ohne Zeitung, ihnen wäre niemals eingefallen, Mailänder Blätter wie den »Corriere della Sera« oder den »Giorno« zu kaufen. Was hätten sie darin schon Interessantes erfahren können? Inzwischen gibt es mit der römischen »Repubblica« eine nationale Alternative zu den Mailändern. Die können auch Turiner lesen. Wobei zugleich die Rolle Mittelitaliens beschrieben wäre: nämlich zwischen den verschiedenen Gemütszuständen des Nordens zu vermitteln.

Wie verhält es sich mit dem Süden? Wenn man nur an die Städte Neapel, Bari oder Palermo denkt, an Landschaften und Mentalitäten an der kalabresischen Stiefelspitze oder in der sardischen Barbagia, wird deutlich, dass es viele, ganz unterschiedliche »Süden« gibt. Hier liegt einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis von Italien: die Vielseitigkeit und Gegensätzlichkeit, wobei Modernes und Traditionelles nebeneinander existieren und jedes Chaos seine Ordnung hat. Man hüte sich also vor Verallgemeinerungen.

Und noch ein paar Kuriosa: Italien ist in Europa der größte Produzent von Bio-Produkten und nach Deutschland der zweitgrößte Konsument. In Italien sind mehr Autos (606) auf 1000 Einwohner zugelassen als in Deutschland (559), der Schweiz (518), Österreich (505) oder den USA (487). Es wachsen auf italienischem Boden im Durchschnitt mehr Wälder als in Irland, Belgien, Holland oder Dänemark. Es soll 57 Millionen Mäuse, 20 Millionen Spatzen und 10 Millionen Igel geben. Die älteste Osteria (»Al Brindisi«) hat in Ferrara seit 1435 geöffnet. Das Thermometer fällt niemals unter null Grad in Taormina, Anacapri, Amalfi und Sanremo.

Buon viaggio!

Der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Er wird schneller, immer schneller, die letzten Häuser Roms verschwinden unter einem azurblauen Himmel, die Campagna Romana rauscht vorbei. War das nicht eben ein antikes Viadukt? Aber schon tauchen wir in einen Tunnel ein. Auf wilde, gleichsam unberührte Natur folgt die Gartenlandschaft Kampaniens. Wo sind eigentlich die Bucht von Gaeta und das Meer geblieben? Auf dem Display über der Gangtür kann man lesen, wie sich die Reisegeschwindigkeit auf dieser Strecke nach Neapel immer weiter steigert und schließlich 300 Kilometer pro Stunde erreicht. Der Eurostar hält dann siebzig Minuten nach der Abfahrt in Rom am Bahnhof Napoli Centrale. Der Privatzug Italo, die Konkurrenz zur staatlichen Trenitalia, schafft es sogar in 68 Minuten. Dieselbe Strecke habe ich bei meiner ersten Zugfahrt von Rom nach Neapel in den Siebzigerjahren noch in gemütlichen zweieinhalb Stunden zurückgelegt.

»Das Italien unserer Ahnen ist, wie man weiß, seit die Eisenbahnen es für den Verkehr verschlossen haben, eines der unbekanntesten Länder Europas geworden.« Der Schriftsteller und Privatgelehrte Rudolf Borchardt beginnt so, gleichsam widersinnig, den im Jahr 1907 veröffentlichten Aufsatz »Villa«. 1907! Was würde er denn 2012 nach einer Fahrt im Eurostar AV schreiben? Aber es stimmt, wir rauschen bei unseren Reisen oft von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, um in der kostbaren Zeit, die uns zur Verfügung steht, möglichst viel zu sehen und zu verstehen. Was können wir jedoch bei dieser Eile überhaupt verstehen? Sehen wir dann nicht nur das, was in den Reiseführern steht?

Aber keine Sorge: Jeder sollte heute durch Italien reisen, wie es ihm Lust und Neugier auftragen, Geldbeutel und Zeitrahmen gestatten. Im Hochgeschwindigkeitszug oder beim Wandern, im Auto oder mit dem Fahrrad. Wichtig ist, dass man nicht dem ersten Blick und dem gleichsam vorgekauten Wissen traut, sondern dass man versucht, sich einzulassen auf die Begegnung mit Landschaften, Orten und Menschen.

Die »Gebrauchsanweisung für Italien« wurde nicht für die Fachleute geschrieben, die alles wissen. Auch nicht für die Italienkenner, die alles besser wissen. Sondern für Liebhaber und Neuankömmlinge, die neugierig sind auf dieses Land und seine Menschen. Ich lebe als Journalist in Italien und nicht als Experte. Ich hatte die Gelegenheit, viele Menschen zu hören, die mir etwas über das Land und seine Leute erzählt haben, Tatsachen und Geschichten. Ihnen allen sei Dank.

Wer nur in der Sonne liegen will, braucht nichts über Land und Leute zu wissen. Wer mehr will, der wird in Italien so viele Antworten bekommen, wie er Fragen stellt. Dabei will die »Gebrauchsanweisung« mit Informationen und Beschreibungen heute den Dialog erleichtern. Morgen kann es schon wieder ganz anders aussehen. Buon viaggio, gute Reise!

Henning Klüver

Mailand, im Januar 2016

Das Land, wo die Zitronen blühen

Landschaftsbilder, Streifzüge und Naturgewalten

Mit Zitronen ist das so eine Sache. Wer mit ihnen handelt, macht ein schlechtes Geschäft. Jedenfalls in der deutschen Redensart. Wenn wir dagegen an die weißen, sternförmigen Blüten des Baumes denken, wird uns warm ums Herz. Tragen doch die immergrünen Zitronenbäume das ganze Jahr gleichzeitig betörend herb duftende Blüten und leuchtend gelbe Früchte. Und wo sie wachsen, muss es da nicht sommerlich, nicht einfach wohltuend schön sein?

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,

Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?

Kennst du es wohl? Dahin!

Dahin möcht’ ich mit dir,

O mein Geliebter, ziehn.

Wer weiß, wie viele Menschen dieser Aufforderung unseres Dichter-Titanen aus dem »Wilhelm Meister« gefolgt sind und wie viele es noch sein werden. Und würde es eine Auszeichnung geben für den besten Werbespruch der Tourismusindustrie aller Zeiten, Goethe hätte ihn verdient. Ja, auf ins Land, wo die Zitronen blühen, hin zu den herrlichen Landschaften zwischen dem Alpenkranz und der Straße von Sizilien, hin zu lauen Sommernächten, dem leisen Plätschern des Meeres und einem Schoppen Wein! Zu Zypressen und immergrünen Steineichen, langen Stränden und kurvigen Landstraßen. Zu schattigen Gartenrestaurants, dem Summen der Zikaden und den Rufen der Nachtigallen. Und einem überwältigenden Sternenhimmel über den Hügeln der Toskana … Allerdings wechseln auch südlich der Alpen die Jahreszeiten, und ich habe selten so gefroren wie zu jener Zeit, als ich in Rom in einer Wohnung ohne Heizung gelebt habe.

Später wohnte ich jahrelang in Mailand in einer Wohnung ganz oben im sechsten Stock, von deren Balkon man in einen weiten Innenhof zwischen zwei Straßenzügen blicken konnte. An besonders klaren Tagen oder nach Gewittern ließ sich am Horizont der Alpenkranz mit dem schneebedeckten Monte Rosa sehen. Im Hof breitete sich eine Terrassen- und Dachgartenlandschaft mit Büschen, kleinen Bäumen und Topfpflanzen aller Art aus. Auf meinem Balkon blühte, wenn auch etwas kümmerlich, ein Zitronenbaum. Den habe ich mitgenommen, als ich mit meiner Familie umgezogen bin. Meine Töchter Gianna und Mara waren ausgezogen, und als wieder mal eine Miet­erhöhung anstand, haben meine Frau Lidia und ich unsere Sachen gepackt und sind zusammen mit zwei jungen schwarzen Katzen in eine kleinere Wohnung in der Innenstadt unweit des Bahnhofs gezogen.

Von unseren Pflanzen hatte hier nur der Zitronenbaum Platz, denn leider gibt es in der neuen Wohnung keinen Balkon, aber immerhin gucken wir diesmal auf einen ganz kleinen Innenhof mit einer Palme, mehreren Bananenstauden und einer Fichte, so als würden sich bei uns im Hof Norden und Süden, Exotik und Alltag treffen. Denn das vielerorts betonselige graue Mailand ist, von oben betrachtet, eine grüne Stadt. Aber das ist noch gar nichts im Vergleich mit dem Rest Italiens. Von Satelliten aus gesehen, zeigt sich Italien als »grünes«, das heißt nicht urbanisiertes Gebiet. Rom zum Beispiel ist nicht nur die größte Stadt des Landes, sondern mit rund 82 000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche (zu der allerdings auch die Parks zählen) ebenfalls das größte »Dorf«.

Italien hat alles

Ja, Italien hat alles. Es hat hohe, prächtige Berge, an der Grenze nach Frankreich sogar die höchsten Europas. Es hat mit flirrendem Licht durchzogene Ebenen in den Niederungen des Po sowie im Küstenland Venetiens und des Friauls. Es hat ein kräftiges Mittelgebirge, das sich wie eine Art Wirbelsäule die Halbinsel entlangzieht, die nach ihm seinen Namen trägt: Apenninhalbinsel. Es hat herrliche Binnenseen. Es hat mehr als 8000 Kilometer lange Küsten, meist felsig, aber auch oft sandig auslaufend, zur besonderen Freude der Badegäste. Und es hat ein wundervolles Meer, das zwei große Inseln (Sizilien und Sardinien) und viele kleine (wie Lampedusa, Capri und Elba) mit einschließt.

Zudem hat es mehr Wälder, als man denkt. Vor allem in Süditalien findet man sie etwa auf dem Gargano oder dem Aspromonte oder in einigen wilden Gebirgszonen Sardiniens. Ideale Verstecke für Leute, die Grund haben, sich und andere zu verstecken. Bestimmte Verbrechen, wie zum Beispiel die Entführung von Menschen, wären in anderen westeuropäischen Ländern bereits aus geografischen und logistischen Gründen gar nicht in dem Ausmaß möglich, wie sie in Italien eine Zeit lang an der Tagesordnung gewesen sind. Man findet allerdings sehr viel weniger Wälder, als es früher einmal gegeben hatte, weil die Menschen seit der Antike zur Gewinnung von Brenn- und Bauholz sowie von Weideflächen und Kulturland Bäume und Sträucher sträflich gerodet haben, ohne an Aufforstungen zu denken.

Die Apenninhalbinsel ist erdgeschichtlich ein junges Land und deshalb immer noch in Bewegung, wie Erdbeben und Vulkanausbrüche zeigen. Was die Bodengüte betrifft, ist Italien ein relativ armes Land und außerdem mit Ausnahme der Po­ebene schwer zu bebauen – was wiederum die Menschen dazu getrieben hat, auch anderen Kulturformen als der Landwirtschaft nachzugehen. Und damit den Weg für die einzigartige kulturhistorische Entwicklung des italienischen Raums möglich gemacht hat. Das Klima wird durch einen starken Nord-Süd-Gegensatz geprägt: Im Norden ist es subozeanisch, das heißt, es ist feucht, und das Land wird von vielen fließenden Gewässern durchzogen. Im Süden ist es sommertrocken und vom Mittelmeer geprägt. Flüsse werden hier nicht lang.

Über Geißböcke und endlose Weiten

Haben die Menschen in Italien ein Verhältnis zu ihrer Natur? Ganz pauschal könnte man sagen: nein. Die Städter fahren mit dem Auto am Wochenende in die Natur, um Luft zu holen, gut essen zu gehen oder um ihren Müll in die Landschaft zu kippen. Und die, die auf dem Land wohnen, sehen die Natur vor allem als etwas an, aus dem man Profit ziehen kann. Sie pflegen ihren Garten, aber das Feld nebenan oder der öffentliche Grund und Boden ist ihnen egal. In Italien gibt es kein romantisches Raunen, wie es der deutsche Sprachraum für seine Wälder und Auen kennt. Ein »Erlkönig« wäre in der italienischen Literatur ebenso undenkbar wie die romantische Schilderung mediterraner Landschaft im »Taugenichts«. Landschaft ist hier eher ein Grund, das Denken anzuregen, wie es Italiens Goethe, Giacomo Leopardi (1798–1837), in seinem berühmten Gedicht »L’infinito« (übersetzt von Hanno Helbig) über die Unendlichkeit ausdrückt:

Lieb war mir stets hier der verlassne Hügel

und diese Hecke, die vom fernsten Umkreis

so viel vor meinem Blick verborgen hält.

Doch hinter ihr – wenn ich so sitze, schaue,

endlose Weiten formt sich dort mein Denken,

ein Schweigen, wie es Menschen nicht vermögen,

und tiefste Ruhe 

Wer sich gar nach einem arkadischen Italien sehnt, wird von Giorgio Manganelli in seinem »Handbuch für unnütze Leidenschaften« (1985) verspottet: »Über Felder und Wiesen laufen Faune, Geißböcke, Nymphen und Silene; zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit begegnet man bocksartigen, gehörnten, behaarten, halbnackten Geschöpfen von äußerst zweifelhaftem Niveau. Eine Urcousine von mir kam von einer Sommerfrische auf dem Lande mit einer unglaublich verderbten und ungebührlichen Redeweise zurück und gefiel sich in den obszönsten Witzen … Darüber hinaus hat man mir versichert, dass die Faune weder Weinsorten noch Jahrgänge unterscheiden können; für sie ist alles eins, ob Brachetto oder Barolo, Rapitalà oder Rubesco. Die Nymphen sprechen nur Dialekt und weigern sich, die Verse des illustren Leopardi, selbst in eigens für Nymphen kommentierten Ausgaben, zu lesen.«

Auch ich in Arkadien

Irgendwie scheint dieser Traum nach Arkadien, den uns die klassischen Bildungsreisenden vor und nach Goethe eingebrockt haben, sowieso ein Missverständnis zu sein. Denn Arkadien selbst ist ja eine griechische Landschaft, und es muss zudem eine ziemlich unwirtliche Region gewesen sein. Der antike Geschichtsschreiber Polybios, der dort um 200 v. Chr. geboren wurde, beschreibt ihre Einwohner als ungebildete, grobschlächtige Hirten. Keine 150 Jahre später hatte sich Arkadien dann bei Vergil zur Traumlandschaft gemausert. In seinen Hirtengedichten träumte der alte Römer von einem verklärten Dasein in zeitlos schöner Natur, in der man bei Sonnenuntergang unerfüllten Sehnsüchten nachhing. Diese der Wirklichkeit entrückte Landschaft wurde später in der italienischen Renaissance zum Quell elegischer, überströmender Poesie.

Einen Höhepunkt bildete dabei Jacopo Sannazaros bukolische Dichtung »Arcadia«, die 1504 in Venedig erschien. Sie erzählt von einer Flucht in das einfache Leben der Natur, in eine Sehnsuchtslandschaft, die von Hirten wie von mythologischen Gestalten bewohnt wird. Es ist vermutlich kein Zufall, dass das neue Landschaftsgefühl gerade in Venetien wuchs, bevor es sich in ganz Italien ausbreitete. Die Seemacht Venedig entdeckte ihr Hinterland, und die Patrizierfamilien investierten ihr bei Kaufmannsgeschäften gewonnenes Geld in agrarwirtschaftliche Unternehmungen, zumal die Seewege unsicher geworden waren und Venedig seine vorherrschende Stellung im Mittelmeer verlor. Andrea Palladio (1508–1580) und andere bauten die herrlichen Villen, die wir heute bei Vicenza, am Brenta-Kanal oder bei Fahrten kreuz und quer durch Venetien besuchen können.

Das neue Interesse für Landschaft und Natur, das sich mit dem Traum von einer anderen, einer heilen Welt paarte, machte Italien schließlich selbst zu Arkadien – und zu einem Sehnsuchtsland in Europa. Wobei Arkadien jetzt nicht nur Natur und Hirtenwelt umfasste, sondern zugleich die Erinnerung an die untergegangene Kultur der Antike einschloss. Die zeigte sich konkret in den ganz realen Ruinen (und späteren Ausgrabungsstätten) in der Landschaft, die schließlich ab dem 18. Jahrhundert zu Wallfahrtsorten der Bildungsreisenden wurden. Aber es gab vor allem die fiktiven Abbildungen auf den Leinwänden der Maler von Giorgione (1478–1510) bis hin zu denen der in Rom lebenden Franzosen Nicolas Poussain (1594–1665) und Claude Lorrain (1600–1682) und den Kopien ihrer Arbeiten, die in Form von Drucken in ganz Europa zirkulierten. Kurz, das Ganze war eine ziemliche Kopfgeburt, die damals wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Heute kommt in den meist klinisch-säuberlichen Ausgrabungen der Antike zwischen Brescia (Lombardei), Syrakus (Sizilien) oder Tharros (Sardinien) kaum noch die Stimmung auf, die in dem Ausspruch gipfelte, den Goethe seiner »Italienischen Reise« als Motto voranstellte: »Auch ich in Arkadien!«

Ein Wechselbad der Gefühle

Das heutige Italien setzt den Reisenden einem Wechselbad der Gefühle aus. Da bieten sich dem Auge vielfältige, abwechslungsreiche, überraschende und oft überwältigend schöne Landschaftsbilder. Landschaft wird zurückgewonnen oder neu erlebbar, etwa durch einen Fahrradwanderweg von zwanzig Kilometern auf der ehemaligen Eisenbahntrasse zwischen San Lorenzo Mare und Sanremo an der ligurischen Riviera, die fast immer am Meer entlang verläuft. Und dann gibt es die Zersiedelung durch wild gewachsene Randgebiete, mit denen die Städte sich gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Landschaft gefressen haben. Von Jahr zu Jahr wird es enger in Italien. Von 1995 bis 2005 ist allein der Wohnraum pro Kopf der Bevölkerung um 53 Kubikmeter gewachsen. So als hätte jeder Italiener heute ein geräumiges Zimmer mehr. Politisch scheinen sich rechte wie linke Kräfte besonders auf lokaler Ebene, aber auch in den Regionen und im Parlament einig zu sein: Jeder Baukran ist ein Zeichen des Fortschritts, jeder neue Autobahnkilometer erhöht die Mobilität, jede zusätzliche Hochgeschwindigkeitstrasse sichert Italiens Zukunft. Und wer sich dagegen wehrt, ist ein Ökoträumer und/oder gegen den Gemeinsinn.

Die Industrie- und Lagerhallen, die ohne große Rücksicht auf die Natur auch am Rande von Dörfern errichtet wurden, können das Auge und die Seele ebenso schmerzen wie die Wochenendhäuser und Feriensiedlungen, die besonders entlang der Küsten oder in den schönsten Erholungsgebieten wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Und manche Wiese ist Brachland. Wer böswillig ist, könnte fragen: Goldorangen, Myrte, Lorbeer? Findet man nicht vielmehr: Matratzenreste, Kühlschrankkadaver, Plastikmüll?

David gegen Goliath auf Sardinien

Eine der schönsten Straßen Italiens führt in Südsardinien, rund vierzig Kilometer von der Regionalhauptstadt Cagliari entfernt, längs der Costa del Sud zum Porto di Teulada. Sanft rollt ein Vorgebirge dem Meer zu. Kleine Buchten mit traumhaften, vom Tourismus weitgehend unberührten Stränden schließen sie ab. Hinter jeder Kurve öffnen sich neue Blicke auf prächtige Landschaftsbilder mit buschigem Rosmarin, wilden Olivenbäumen und kleinen Wäldern immergrüner Steineichen, die bis an das glasklare Meer heranreichen, das blaugrün in der Herbstsonne blinzelt. Hier stehen einige alte, in traditioneller Lehmbauweise errichtete Bauernkaten, und von einer Landzunge bei Capo Malfatano grüßt ein Wachturm aus den Zeiten der aragonischen Besatzung.

Dann der Schock: Hinter der nächsten Kurve, wo sich das Flüsschen Tuerredda dem Meer zuschlängelt, stechen halbfertige Bungalows und Reihenhäuser ins Auge. Das ist das erste Baulos einer riesigen, kaum 300 Meter vom Meer entfernten Anlage mit Wohn- und Ferienhäusern, einem Hotelkomplex und Serviceeinrichtungen auf insgesamt 700 Hektar Bodenfläche. Architektonische Dutzendware, die ein forriadroxiu, wie die alten Katen in der sardischen Sprache heißen. Vor dem forriadroxiu steht ein alter Mann, stützt sich auf seinen Stock und schimpft wie ein Rohrspatz. Der Bauer Ovidio Marras, 81 Jahre alt, wohnt wenige Schritte vom Strand entfernt allein in der Kate, in der schon der Vater gelebt hat. Anders als seine Nachbarn hat Ovidio sein Land nicht an das Konsortium verkaufen wollen, in dem sich italienische Großunternehmer vom Festland und einige Bankhäuser zusammengeschlossen haben. »Ich bin unbequem, deshalb will man mich hier weghaben«, schimpft er. Ein Hund und eine Katze habe man ihm schon vergiftet. Wer? »Na wer wohl«, schnaubt Ovidio. Der kleine Mann, krumm wie eine sardische Eiche, brummelt unverständliche Sätze im Dialekt und zeigt auf die braunen Bungalows vor seiner Bauernkate, wo noch vor wenigen Monaten ein Orangenhain leuchtete. Ovidio wurde im Herbst 2011 zu einer bekannten Persönlichkeit. Ein sardischer David, der den italienischen Goliath herausgefordert hat. Zeitungen wie der Mailänder »Corriere della Sera« berichteten über ihn, sogar ein Journalist des Londoner »Guardian« hat ihn in seiner Kate besucht. »Sardischer Schafshirte bringt umstrittenes Tourismusprojekt ins Wanken«, stand über dem Artikel. »Von wegen Hirte«, poltert Ovidio, als ich ihn besuche. Er sei Bauer, kein Hirte!

Das Konsortium hatte wohl gedacht, es könnte den Kleinbauern, der eine Schule nur bis zur vierten Klasse von innen gesehen hat, mir nichts, dir nichts über den Tisch ziehen. So hat man einen Weg überbaut, dessen Besitz sich Ovidio mit der Baugesellschaft teilt, und ihm dafür einen neuen Weg angelegt. Doch der Starrkopf will seinen alten Weg wiederhaben. Der Umweltschutzverband Italia Nostra unterstützt David Ovidio gegen Goliath Konsortium. Und Italia Nostra hat auch eine Klage gegen das Gesamtprojekt, das einen der schönsten Landstriche Sardiniens verschandelt, vor dem Verwaltungsgericht eingereicht. Das Projekt würde, so Maria Paola Morittu von der sardischen Sektion des Verbandes, gegen eine ganze Reihe von Naturschutzbestimmungen und Gesetze verstoßen. Und, von einigen Saisonarbeitern abgesehen, keine neue Beschäftigung in diese von Armut geplagte Gegend bringen.

In der Gemeinde Teulada (3800 Einwohner), zu der auch die Traumlandschaft bei Capo Malfatano gehört, liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über fünfzig Prozent. »Doch die Leute hier«, so Maria Paola Morittu, »verstehen nicht, dass die Natur ihr eigentlicher Reichtum ist.« Über 600 Wohnungen würden in der Gemeinde leer stehen, da sei jeder Neubau eine Verschwendung. Es ginge darum, einen sanften Tourismus zu entwickeln, indem man etwa die forriadroxius restauriere und zu Ferienwohnungen umbaue. Dann würden auch die Gewinne auf der Insel bleiben und nicht wie bei dem Konsortium aufs italienische Festland fließen.

Der Bürgermeister von Teulada glaubt jedoch, dass seine Gemeinde keine andere Wahl hat, um Arbeit und ein bisschen Wohlstand auch in diesen Landstrich zu bringen. Viele Einwohner von Teulada halten Ovidio für einen alten Querkopf, der ihre Zukunft bedroht. Die Menschen würden von einem Rimini an der Costa del Sud träumen, sagt der Schriftsteller Giorgio Todde aus Cagliari, der mit Italia Nostra zusammenarbeitet. Dieses Projekt sei allerdings nur eines von vielen auf Sardinien, bei denen Festlandgelder investiert würden, welche die Schönheit der Natur ausbeuten, ohne sich um lokale Begebenheiten zu kümmern.

Ein halbes Jahr später: In Ovidios Kate knistert das Kaminfeuer. Ein Spieß mit einem abgezogenen Spanferkel steht bereit. Das will seine Nichte Consolata, die bei ihm ab und zu nach dem Rechten sieht, heute noch über den offenen Flammen braten. Denn es darf gefeiert werden. Nachdem bereits das oberste Verwaltungsgericht der autonomen Region Sardinien der Klage von Italia Nostra stattgegeben hatte, hat nun im Januar 2014 auch der Staatsrat in Rom als letzte und höchste Instanz das Urteil des Verwaltungsgerichts bestätigt und einen Einspruch des Konsortiums zurückgewiesen. Das darf jetzt nur noch einen ganz geringen Teil seiner Pläne verwirklichen. Und Ovidio, der auf einem Schemel vor dem Feuer sitzt und sich die von der Gicht knorrigen Hände reibt, bekommt seinen Weg hier am Capo Malfatano zurück. Das Wort »Malfatano« geht übrigens auf den arabischen Ausdruck »Amal fatah« zurück und bedeutet »Ort der Hoffnung«.

Notstand und Schutz der Landschaft

Diese Geschichte zeigt: Langsam verändert sich auch in Sachen Naturschutz etwas in Italien. Überall im Land stößt man auf Umweltschutzorganisationen: vom Lipu (Vogelschutz) über die Legambiente (Naturschutz) und Italia Nostra (Umwelt- und Kulturgüterschutz) bis hin zur italienischen Sektion des World Wildlife Fund, deren Vertreter ihren Landsleuten auf den Leserbriefseiten der Zeitungen oft mit feurigen Worten ins Gewissen reden. Regierungen, welcher Couleur auch immer, beißen sich an ihnen die Zähne aus. Ganz gleich, ob es sich um die Hochgeschwindigkeitstrasse einer neuen Bahnlinie (TAV) durch die Valle Susa (Piemont) oder den Bau eines Flughafens zwischen den Weinhügeln um Siena (Toskana) handelt. Italien hat eben alles, sogar Naturschützer. Wobei nicht immer leicht zu trennen ist, ob es sich dabei um eine Nimby-Haltung (Not in my backyard – überall, aber bitte nicht in meinem Hinterhof ) handelt. Zum Beispiel gegenüber einer notwendigen Infrastruktur wie im Fall einer Mülldeponie bei Neapel. Oder um zerstörerische Bauvorhaben etwa bei einem Neubauviertel im Flussgebiet von Mantua. Wenn George Clooney sich gegen einen Großparkplatz hinter seiner Villa am Comer See wehrt, kann er jedenfalls auf die Unterstützung der Umweltschutzverbände rechnen. Der Schriftsteller Andrea Camilleri schreckte kürzlich die Öffentlichkeit auf, als er das Projekt einer amerikanischen Energiegesellschaft in Zusammenarbeit mit der Region Sizilien anprangerte. Die Ausbeutung von (eher mageren) Ölquellen und Gasvorkommen hätte das von der UNESCO geschützte Noto-Tal im Südosten von Sizilien in einen Wald von Bohrtürmen verwandelt. Nach Protesten aus dem In- wie dem Ausland sagte die Gesellschaft Panther Oil aus Texas weitere Probebohrungen in der Val di Noto zunächst ab.

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