Das Buch
Hallo zusammen, ich bin Josi. Und ich kann euch sagen, bei mir im Kiez wird’s nie langweilig. Eine Sache macht mir allerdings Sorgen: Frau Bulette vom Broilergrill um die Ecke. Die wird verfolgt. Es will ihr nämlich jemand den Broilergrill wegnehmen. Aber das lasse ich nicht zu! Und dann ist da auch noch dieser Junge, der sich hier seit Kurzem mit seinen teuren Klamotten und dem Smartphone herumtreibt und noch dazu eine große Klappe hat. Wie werde ich den bloß wieder los? Ihr seht: es muss dringend ein Plan her!
Die Autorin
Uticha Marmon, geboren 1979, studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Pädagogik in Mainz, Wien und München. Sie arbeitete als Theater-Dramaturgin und war einige Jahre als Lektorin und Regisseurin bei einem großen Hörbuchverlag tätig, ehe sie sich selbstständig machte. Seitdem schreibt sie Kinderbücher, produziert als Dramaturgin und Regisseurin Hörbücher und Hörspiele und engagiert sich in der Lese- und Zuhörförderung.
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Für Sonja (ohne die Josi nicht Josi wäre)
und ihre fabelhaften Geschwister.
»Tschüss, Josephine!«, ruft Papa durch den Flur.
»Nummer fünf, Thorsten!«, antworte ich, weil es schon das fünfte Mal ist, dass er Tschüss sagt. Die ersten vier Mal musste er an der Tür umdrehen, weil er irgendwas vergessen hat.
»Du sollst mich Papa nennen! Und denk an den Plan!«, ruft Papa.
»Ja-ha«, rufe ich zurück. »Und du mich Josi, wie jeder vernünftige Mensch«, murmle ich.
Ich werde den Teufel tun, das jetzt laut zu sagen. Weil er dann garantiert umdreht und mir die alte Geschichte erzählt, von wegen Josephine ist ein Name mit Geschichte und viele berühmte Frauen hießen Josephine, ja, ja. Dabei könnte ich wetten, Papa kennt nicht eine einzige. Höchstens vielleicht Josephine Baker. Die hat vor garantiert hundert Jahren gelebt und bei Partys für die Leute getanzt. Was Papa dabei natürlich nicht erzählt: Sie hatte immer ziemlich wenig an.
Josephine Baker spielt aber auch gar keine Rolle. Weil Papa mich (auch, wenn er das nie zugibt) nach einem Lied benannt hat. Hello Josephine heißt es. Ganz viele Leute haben es gesungen. Der Wichtigste davon ist Elvis. Zu dem komme ich später. Jetzt ist es erst mal wichtig, dass Papa endlich geht. Sonst kriege ich einen Vogel. Dann muss ich ihn nämlich doch noch zur U-Bahn oder zumindest bis ins Erdgeschoss und vor die Tür begleiten, damit er pünktlich bei der Arbeit ist.
Ich soll an den Plan denken? Vielleicht sollte Papa mal selber all seinen Kram im Kopf behalten, statt sich in meine Sachen einzumischen. Apropos Plan: Ich gucke den Zettel in meiner Hand an, dann die beiden Kisten, die vor dem Bett auf dem Boden stehen.
Blaue Kiste: gute Ideen.
Rote Kiste: schlechte Ideen.
Ich klappe die rote Kiste auf und werfe den Plan hinein. Dann knalle ich den Deckel wieder zu, ohne den Inhalt der Kiste überhaupt eines Blickes zu würdigen. Ich weiß ja schon, was da drin ist. Nichts. Nichts, nichts und noch mal nichts. Außer Papas Josi-muss-heute-dies-und-das-Plan natürlich. Den braucht er vielleicht, damit er durchblickt, wenn er von der Arbeit kommt. Aber ich brauche ihn nicht. Ich habe auch so den Durchblick. Immer. Darum ist es auch besser, den Plan zu beseitigen, bevor er alles durcheinanderbringt. Papa wird bestimmt traurig sein, dass er weg ist. Er hat ihn sich ja gerade erst mühevoll ausgedacht. Und das, obwohl Pläne ausdenken gar nicht so sein Fall ist. Genauso wenig, wie es mein Fall ist, mich an sie zu halten.
»Tschüss, Josephine!«, ruft er schon wieder aus dem Flur. Was er wohl diesmal vergessen hat? Vermutlich hat er sogar das vergessen.
»Nummer sechs … Thorsten!«, antworte ich. Papa seufzt, dabei hat er nun wirklich keinen Grund dazu. Dann fällt die Wohnungstür ins Schloss. Endlich!
Mein Papa ist der tollste Vater der Welt, aber er ist auch sehr, sehr anstrengend. Wenn er mich nicht hätte, wüsste er wahrscheinlich morgens beim Aufstehen nicht mal mehr, wie er heißt. Wirklich wahr. Er vergisst einfach alles überall. Seinen Geldbeutel im Broilergrill. Den Hausschlüssel auf dem Küchentisch. Die U-Bahn-Monatskarte ausgerechnet in der Jacke, die er gerade in die Waschmaschine gesteckt hat. Seine Pomade in meiner Brotdose (fragt mich nicht, wie die da reingekommen ist, aber seitdem riechen alle Stullen nach Kokosnuss, weil Papas Pomade aus Kokosfett gemacht ist). Pomade? Kennt ihr nicht? Ist so was wie Haargel, nur von früher. Und total hip bei Papa und seinen Kumpels von den Pancakes. Aber wo war ich? Ach ja, genau: bei Papas Vergesslichkeit.
Er hat tatsächlich schon mal einen Turnschuh in unserem kaputten Fahrstuhl liegen gelassen. Wen wundert es da also, dass er sogar meine Mutter vergessen hat? Irgendwo in der Berliner Nacht ist sie ihm abhandengekommen. Behauptet er zumindest. Ach, Papa!
Das ist auch etwas, das er sehr gut kann. Sachen behaupten, die klingen wie ein Märchen. Meistens macht er das aber nicht, damit die anderen sie glauben. Nein, die Märchen sind für ihn selbst. Weil Papa davon überzeugt ist, dass ein zurechtgeschummeltes Märchenleben schöner ist als das echte.
Okay, ich gebe zu, er hat mich damit angesteckt. Seit ich sprechen kann, denke ich mir mindestens so viele Geschichten aus wie er. Nur, dass meine spannender sind. Mit Aliens. (Die gibt es wirklich, lasst euch da bloß nichts anderes erzählen!) Oder mit anderen seltsamen Wesen. Meistens hat Captain J mit ihrem Raumschiff The Blitz die aber unter Kontrolle.
Das ist der Unterschied zu Papa. Die Märchen-Schummelei geht bei ihm immer nur eine Weile gut. Und plötzlich kriegt er einen Rappel und nimmt sich vor, von jetzt an nur noch knallharte Fakten zu akzeptieren. Was dabei dann herauskommt, sind so bekloppte Pläne wie der Josi-muss-heute-dies-und-das-Plan. Das ist nämlich das wirkliche Problem an der Sache. Nicht dass Papa so gerne in seiner eigenen Welt lebt, das habe ich im Griff. Aber sobald er sich für die Wirklichkeit entscheidet, sieht es für mich schlecht aus. Diese knallharten Fakten, die Papa dann im Kopf rumschwirren, sind nämlich fast immer irgendwelche Aufgaben für mich. Er kommt dabei selten vor.
Ich starre auf die beiden Kisten vor mir und warte. Zähle bis zehn. Die Wohnungstür bleibt zu. Gut, dann hat er es diesmal wohl geschafft. Und ich kann mich endlich mit den wirklich wichtigen Dingen befassen. Wie zum Beispiel dem Mittwochsklatsch.
Ich muss dringend los zu Frau Bulette in den Broilergrill, um ihr die alten Klatschzeitungen vorbeizubringen, die ich jeden Mittwoch nach der Schule bei Köfte Kalle im Kiosk abstaube. Mittwochabend kommt die neue Lieferung, da muss alles raus, sagt Kalle. Und Frau Bulette liebt Klatsch. Aber Frau Bulette ist auch geizig. Darum wartet sie lieber, bis der Klatsch schon eine Woche alt ist, bevor sie ihn liest. Das meiste, was in den Zeitungen steht, ist sowieso nicht wahr, sagt sie. Darum ist es auch total egal, ob sie es eine Woche zu spät erfährt. Ich frage mich ja, warum sie es dann überhaupt liest. Vielleicht, damit sie sich über die Seiten mit der Mode und den Schönheitstipps ärgern kann.
»Wer soll denn det anziehn?«, meckert sie immer. »Det passt ja nich mal meinem linken Bein. Wejen det viele Stehen, vastehste, Josi?«
Das mit dem Stehen ist bloß eine Ausrede. Ja, klar, sie steht wirklich den ganzen Tag hinter der Theke im Grill. Aber darum geht es nicht. Frau Bulette würde sich doch überhaupt nicht wohlfühlen in schicken Kleidern. Ich habe sie noch nie in was anderem gesehen als in ihrer Kittelschürze voller Fritteusenfett.
Was allerdings die Seiten mit den Schönheitstipps angeht, da meckert sie einfach nur, weil es ihr so viel Spaß macht. Wenn sie genug gemeckert hat, liest sie die dann nämlich doch und merkt sich alles ganz genau.
»Man kann ja nie wissen, wann man det mal braucht«, behauptet sie immer. Dabei weiß sie es ganz genau. Einmal in der Woche, und zwar immer donnerstags, hat Frau Bulette ihren freien Nachmittag. An dem bleibt der Broilergrill zu. Dann sind wir in ihrer Wohnung, die direkt über dem Grill liegt, und machen Schönheit.
»Bjuhtih«, sagt Frau Bulette, und so wie sie es ausspricht, muss man schon dreimal überlegen, bis man raushat, dass sie Englisch spricht. Was Frau Bulette meint, ist Beauty, also Schönheit. Dafür sollen all die Gurkenscheiben und der Quark und das Eigelb-Bier-Gemisch, das die in den Zeitschriften anpreisen, schließlich nützlich sein. Ich kann da allerdings nichts erkennen, wenn ich den Kram benutzt habe. Zumindest keinen Unterschied zu unseren Gesichtern vor dem Schönheit-Machen.
Das Beste an den Klatschzeitungen sind übrigens die Parfümproben. Die probieren wir immer gleich mittwochs aus und stinken dann den ganzen Laden voll, sodass die Stammgäste im Broilergrill am liebsten an der Tür wieder umdrehen würden, wenn sie nicht solchen Hunger auf Fritten und Hähnchen vom Spieß hätten. Hähnchen sind das Hauptgeschäft von Frau Bulette, ist ja klar. Sonst müsste der Broilergrill ja Schinkenknackergrill oder so heißen. Was? Versteht ihr nicht? Ach so, ihr kennt keine Broiler! Broiler sind dasselbe wie Hähnchen, nur eben die aus Berlin. Keine Ahnung wie Hähnchen zum Beispiel in München heißen. Bei uns sind es jedenfalls Broiler. Und auf die haben die Stammgäste im Broilergrill logischerweise am meisten Lust. Von denen traut sich also keiner, sich über unsere Parfümproben zu beschweren. Wer weiß schließlich schon, ob Frau Bulette einen dann nicht rauswirft und das war’s mit dem Stammgastdasein?
Man könnte jetzt fragen, wer darauf überhaupt so scharf ist. Also auf das Dasein als Stammgast, wo doch der Broilergrill garantiert der älteste und frittenfettstinkigste Imbiss ganz Berlins ist. Aber das ist kein großes Geheimnis: die Hähnchenbrüder.
Das sind der Köfte Kalle, der Manni und Jannis. Hähnchenbrüder haben die sich übrigens selbst genannt. Frau Bulette und mir würde ein so bekloppter Name gar nicht einfallen. Apropos Hähnchenbrüder, Kalle und so: Ich muss los.
Ich schnappe mir die Zeitungen, die ich vorhin schon abgeholt habe. Diese Woche ist es nicht so viel, nur drei Hefte. Kalle hatte einen Lauf, hat er gesagt. »’n Lauf beim Verkauf! Da guckst du, Josi, was?!«
»Nö«, habe ich geantwortet, weil ich das nicht so richtig zum Staunen fand.
»Nicht?«, hat Kalle sich gewundert.
»Nein. Das liegt am Lohn«, habe ich ihn aufgeklärt. Ist doch klar. Weil heute der Dritte des Monats ist, haben alle, die bei Kalle Klatsch kaufen, wieder Geld.
»Ach«, hat Kalle gesagt. Mehr nicht, aber ich glaube, er hat angestrengt nachgedacht. Damit das nicht so auffällt, hat er den Teller mit den Köfte, die man bei ihm neben den Klatschheften, Süßigkeiten, Getränken, Feuerzeugen, Büroklammern, uralten Ansichtskarten und allem andern nützlichen und unnützen Kram kaufen kann, neu sortiert.
Köfte sind türkische Buletten. Keine Ahnung, wie Kalle darauf kam, die zu verkaufen, wo sein Kiosk doch nur zwei Häuser vom Broilergrill entfernt ist, in dem sogar eine Bulette hinter der Theke steht. Vielleicht liegt es daran, dass er Karim so gerne mag. Und der macht eben die besten Köfte im ganzen Kiez. Aber die kann Kalle nicht alle alleine essen, weil er ja auch täglich zu Frau Bulette zum Essen kommt.
Ich stopfe den dünnen Stapel in meinen Turnbeutel und renne mit dem Skateboard unter dem Arm aus der Wohnung. »Bambule!« steht in roten Glitzerbuchstaben auf dem knallgelben Stoff. Das ist mein Motto. Bambule ist, wenn man alles, was man tut, mit einem Bääm! macht. Wild und laut und bunt und lustig. Bambule eben! In dem Bambule-Beutel habe ich alles, um mich aus einer komplizierten Notlage zu befreien. Bis jetzt gab es die noch nicht, aber man weiß ja nie. Und für den Fall der Fälle will ich ausgerüstet sein. Ich meine, vielleicht landen ja doch irgendwann mal Aliens bei uns im Kiez, auch wenn alle außer mir das für unwahrscheinlich halten. Aber wenn man von vorneherein nicht an Sachen glaubt, passieren sie einem auch nicht. Oder eben doch, weil es sie gibt, und es ihnen ganz egal ist, ob man an sie glaubt. So wie die Aliens. Und hinterher bin ich dann die Einzige, die vorbereitet war.
Heute sind allerdings keine Aliens unterwegs. Auch sonst ist niemand da, das Treppenhaus ist leer.
Der Fahrstuhl ist mal wieder kaputt. Alles wie immer also. Ich sprinte die fünf Stockwerke runter, zur Haustür raus, brettere auf meinem Board einmal quer über den Platz und zur Tür vom Broilergrill wieder rein.
Elvis begrüßt mich mit einem schmalzig gesungenen Love me tender.
Nicht der echte Elvis natürlich, nee, der ist ja schon längst tot. Papa hat Frau Bulette so eine Klingel eingebaut, bei der man selbst bestimmen kann, welchen Ton sie macht. Und Frau Bulette hat bestimmt, dass ihre Klingel wie Elvis singt. Weil alles, was bei Frau Bulette Geräusche macht, von Elvis ist. Ihr Wecker. Ihr Telefon. Ihr Duschradio … »Sogar der Vogel in ihrem Kopf«, sagt Papa, wenn wir alleine sind. Das meint er aber nicht böse. Papa findet Elvis auch toll. Und einen Vogel haben hier sowieso fast alle. Ich nicht so. Also das mit Elvis. Vogel habe ich auch keinen. Ziemlich sicher.
»Der Klatsch ist da!«, rufe ich über Elvis hinweg, springe hinter die Theke und umarme Frau Bulette.
»Achtung, Josi!«, begrüßt sie mich und schwankt leicht.
»Also, ehrlich, Frau Bulette«, schimpfe ich. »Du musst wirklich was an deiner Standfestigkeit tun.«
Frau Bulette lacht und wischt sich die Hände am Hintern ab. »Und du an deinem Schwung. Mensch, Manni! Wat sage ick da. Nüscht musste machen, Josikind. Bist doch eins a, so wie de bist. Und den Klatsch haste ooch dabei. Da jeht doch gleich die Sonne uff in meiner dunklen Hütte.«
Ich nicke und breite die Zeitungen auf der Theke aus. Sofort bildet sich ein dunkler Fleck am oberen Rand des einen Hefts. Vermutlich saugt das Papier gerade einen Rest Ketchup oder so auf.
Frau Bulette runzelt die Stirn.
»Wat denn, nur drei? Hat der Kalle seinen knauserigen Tag?«, beschwert sie sich.
»Nee, Frau Bulette«, sage ich schnell. »Heute ist der Dritte. Los! Zeit zu stinken.« Ich blättere das oberste der drei Hefte durch und suche das Parfüm.
»Ohdöfamm«, sagt Frau Bulette, als ich die richtige Seite gefunden habe und sie das Briefchen heraustrennt.
»Wie bitte?«
»Det is Französisch, Josi«, erklärt Frau Bulette. Aber was es bedeutet, weiß sie wohl auch nicht. Ist ja schon ein Wunder, dass sie das überhaupt aussprechen kann. Geschrieben wird es nämlich ganz anders. Eau de Femme steht da. Aber Frau Bulette wird schon recht haben.
Jedenfalls reißt sie das Briefchen auf und tupft das Ohdöfamm erst sich selbst in den Nacken und auf die Handgelenke und dann mir.
»Puuuh«, mache ich.
»Uuuh«, macht Frau Bulette. Ohdöfamm gewinnt wahrscheinlich viele Parfümpreise. Aber es ist das Schlimmste, was wir seit Langem probiert haben. Wer kauft sich so was denn bloß freiwillig?
»Ich glaube, dagegen hilft nur eine ordentliche Portion Pommes, Frau Bulette«, schlage ich vor.
Frau Bulette nickt. »Na, det will ick meinen.« Und schon macht sie sich an der Fritteuse zu schaffen. Ich setze mich auf die Arbeitsplatte zwischen die Würzschüssel für die Pommes und einen Rest Krautsalat und betrachte die Blumenwiese auf Frau Bulettes Frittenkittel. Lila und gelb. Zumindest waren die Blumen das früher mal. Ziemlich früher! Jetzt sind sie eher grau und beige.
»Und?«, will Frau Bulette wissen, als ich gerade anfange, die grauen Blumen zu zählen.
»Was und?«
»Na, biste uffjeregt?«
»Ach so. Nö.« Und das ist die Wahrheit. Im Gegensatz zu Frau Bulette. Dass sie vor Aufregung fast platzt, kann ich sogar ihrem grau-beigen Blumenrücken ansehen.
»Hach, det wird bestimmt wieder ’ne Knallersause!«, sagt sie und wiegt sich ein bisschen in den unter all den Blumen und ihrem Hüftgold nicht zu sehenden Hüften. Hüftgold ist ein Geheimwort dafür, dass Frau Bulette selbst ihre beste Kundin ist und tagein, tagaus am liebsten Pommes und Buletten isst. Deshalb ist sie eben so rund wie eine Bulette. Da ist der Name Programm. (Auch, wenn sie eigentlich Frau Köfte heißen müsste, weil es im Grill ja nur Hähnchen gibt und sie darum immer mal schnell zu Kalle rüberflitzt.)
In Wirklichkeit heißt Frau Bulette Annemarie Bolle. Aber der Name ist so gut wie Geschichte, seit die Hähnchenbrüder und ich sie eines Tages Frau Bulette getauft haben. Nur Manni bekommt manchmal seinen Nostalgischen. Dann guckt er sich die Fotos an, die Frau Bulette im Broilergrill aufgehängt hat. Auf denen ist sie in ihrem ersten Beruf zu sehen. Bevor sie den Frittenkittel angezogen hat, hatte sie nämlich Abend für Abend eher wenig an. Nicht ganz so wenig wie Josephine Baker, das nun wirklich nicht! Das wenige von Frau Bulette war zwar auch meistens mit Blumen verziert, aber die waren nicht lila und gelb, sondern golden und silbern und schwarz und manchmal auch rot wie die Liebe und haben im Scheinwerferlicht geglitzert. Überhaupt war Frau Bulettes Beruf damals ein einziges Glitzern und Schillern. Sie war nämlich Tänzerin in einem Varieté.
Wenn Manni die Fotos ansieht, denkt er nicht nur daran, wie er nach den Vorstellungen am Garderobenausgang auf Frau Bulette gewartet hat. (Das erzählt er auch ganz gerne mal.) Er denkt dann überhaupt an früher und findet, dass damals alles besser war. Das passiert zum Beispiel, wenn er allzu lang im Broilergrill beim Stammtisch war. Dann ist Frau Bulette plötzlich wieder »die Annemarie«. Wartet man noch ab, bis nach dem nächsten Getränk, wird sie zu »det Annemiechen«, und wenn er dann noch etwas tiefer ins Glas schaut, nennt er sie »mein Mietzeken«, was hier bei uns in Berlin so viel heißt wie »kleine Katze«. Dann ist der Stammtisch allerdings sofort zu Ende, weil Frau Bulette schlechte Laune kriegt und Feierabend macht. Dabei ist Manni doch einfach nur knallverliebt in sie. Aber mit der Liebe hat Frau Bulette es nicht so. Außer bei Elvis.
Die Knallersause, die Frau Bulette meint, ist übrigens der Auftritt der Pancakes in zwei Tagen beim Kiezfest. Der ganze Kiez steht auf die Pancakes. Das sind immerhin drei Geradeaus- und zwei Querstraßen bis zu den Schienen der Straßenbahn. Aber das war es dann leider auch schon mit den Fans. Weil sonst überhaupt keiner jemals was von Papas Band gehört hat. Es ist ja auch nicht so, dass er und seine Kumpels die Einzigen hier bei uns in Berlin sind, die die Idee hatten, sich mit Kokos-Pomade in den Haaren hinzustellen und Songs zu spielen, die schon so alt sind, dass man sogar vom Zuhören graue Haare kriegt.
Höchstwahrscheinlich sind die Pancakes aber die beste von all den Pomadenbands. Ich meine, sie müssten von mir aus nicht unbedingt Elvis und solchen Kram spielen. Aber trotzdem ist es zum Aus-der-Haut-Fahren, dass Papa einfach Papa ist. Wäre er das nicht, dann würde er es vielleicht endlich mal hinkriegen, ordentlich Werbung zu machen. Und zwar über unsere drei mal zwei Kiezstraßen hinaus. Aber so hängt er nicht mal bei uns im Kiez ein Plakat auf, das Werbung für die Knallersause macht.
»Wenn man was will im Leben, dann muss man sich auch dahinterklemmen.«
»Wat haste jesagt, Josi?«, fragt der blumige Bulettenrücken, weil Frau Bulette ihre Vorderseite noch immer der Fritteuse zuwendet.
»Was?«, frage ich.
»Wat de eben vor dich hin jemurmelt hast, will ick wissen.«
Ach so. Habe ich also mal wieder gemurmelt und es gar nicht gemerkt. Ich glaube wirklich, die Hähnchenbrüder und die Pancakes und all die schrägen Fritzen, die im Broilergrill ein und aus gehen, färben langsam auf mich ab.
»Och, bloß, dass eben von nix auch nix kommt.«
Frau Bulette wiegt nachdenklich den Kopf, während sie die Pommes aus der Fritteuse holt.
»Kluges Mädchen«, brummelt sie mit ihrer vom Kiez und den vielen Stammtischen schnarrig gewordenen Stimme vor sich hin, als sie die Pommes in die Würzschüssel kippt.
Ich nicke, weil damit alles gesagt ist, und schlage die Schönheitstipps auf, die nach der Seite mit dem Ohdöfamm kommen.
Da fängt Elvis an zu singen. Und gleich darauf ertönt eine Stimme:
»Puh, stinkt das hier!«
Ich schnappe nach Luft. Frau Bulette dreht sich langsam von der Fritteuse zur Tür und macht große Augen. Und ich auch. Denn der, der da in der Tür steht, der ist neu.
Wenn ich sage, der ist neu, dann meine ich das auch so. Funkelnagelneu ist der. Jedenfalls, was unseren Kiez angeht. Den haben wir noch nie gesehen, was so gut wie gar nicht sein kann im Broilergrill. Abgesehen davon: Wie frech war das denn, bitte schön?! Mensch, Manni!
Kommt hier neu, wie er ist, reingestiefelt und sagt als Erstes, dass es stinkt?
Ich meine, der hat ja recht. Aber so was sagt man doch nicht! Und wenn, dann sagt man wenigstens noch was Nettes hinterher. Pöbeln darf man, aber wenn, dann höflich. Meint zumindest Papa. Und ich finde, da ist was dran.
Hätte der Neue also zum Beispiel »Puh, stinkt das hier, ihr Hübschen« gesagt, dann wäre das doch gar nicht so schlecht gewesen. Dann hätten Frau Bulette und ich nämlich schon am Ende des Satzes vergessen, dass da irgendwo von Gestank die Rede war. Weil wir uns so hübsch gefühlt hätten, dass so ein bisschen schlechter Geruch ganz egal gewesen wäre. Aber der Junge mit der Basecap, der jetzt von der Tür zur Theke kommt, beherrscht die Kunst des Pöbelns offensichtlich nicht.
Frau Bulette erholt sich schneller von dem Schreck als ich.
»Na, wenn det so stinkt«, sagt sie, »auf der anderen Seite der Tür is frische Luft.«
Ha! Das nenn ich mal einen Bulette-Rauswurf. Jeder andere würde auf dem Absatz kehrtmachen und zusehen, dass er wegkommt. Weil Frau Bulette in solchen Fällen einen Ton draufhat, der nicht von schlechten Eltern ist.
Aber der Neue bleibt einfach stehen. Bleibt stehen und starrt die Speisekarte an, die über der Fritteuse an der Wand hängt, so als würde er sie auswendig lernen wollen. Allerdings wäre er dann ziemlich langsam im Auswendiglernen. Frau Bulette hat nämlich nur fünf Gerichte im Angebot. Grillhähnchen vom Spieß, Grillhähnchen vom Spieß mit Pommes, Pommes klein, Pommes groß und heiße Apfeltasche zum Nachtisch. Nicht mal eine Currywurst gibt es bei ihr. Braucht aber auch keiner.
»Um ’ne Currywurst zu kriegen, muss man in Berlin bloß einmal lang hinschlagen«, sagt Kalle immer. Das bedeutet, dass an jeder Ecke eine Wurstbude ist. Aber ein ordentliches Grillhähnchen vom Spieß, dafür muss man schon bis zu Frau Bulette in unseren Kiez fahren.
Dass die Karte so kurz ist, bedeutet übrigens nicht, dass man für sein Geld nichts bekommt. Im Gegenteil, Frau Bulettes Portionen sind so groß, dass schon einmal Pommes klein ausreicht, um für den Rest des Tages mit einer Futterkugel rumzulaufen. Das kann der Neue aber nicht wissen. Er ist ja neu.
»Ich nehme einmal alles«, sagt er, als ich schon gar nicht mehr daran glaube, dass er sich irgendwann entscheiden wird.
»Äh«, sagt Frau Bulette. Zu Recht. Einmal alles kann im Broilergrill kein Mensch schaffen. Aber auch das weiß der Neue nicht. Er guckt Frau Bulette an und wartet. Frau Bulette guckt ihrerseits den Neuen an und wartet auch.
»Sie will wissen, wie du das meinst«, helfe ich aus.
»Hä?«, macht der Neue. »Na, wie soll ich das schon meinen? Einmal alles eben. Grillhähnchen vom Spieß, Grillhähnchen vom Spieß mit Pommes, Pommes klein, Pommes groß und heiße Apfeltasche zum Nachtisch. Wie es da steht. Ach, und eine große Cola.«
»Bitte«, murmele ich. Nicht dass ich selbst dauernd Bitte und Danke und so sagen würde. Darum erwähnt Papa ja auch immer das mit dem höflichen Pöbeln. Aber wenn jemand so aufdringlich unfreundlich ist, dann kann ich einfach nicht anders.
Der Neue tut so, als hätte er mich nicht gehört. Aber das hat er. Weil er nämlich die Augenbraue hochzieht.
Frau Bulette hat sich inzwischen wieder gefangen und erklärt: »Nimm’s mir nich übel, aber det wirste nich schaffen. Det hat noch nie eener jeschafft.«
»Dann bin ich also der Erste«, antwortet der Neue. Er sieht zufrieden aus.
Auch Frau Bulette guckt plötzlich sehr zufrieden, weil in ihr die Geschäftsfrau durchkommt. Sie denkt daran, dass nicht nur noch nie jemand alles auf einmal geschafft hat. Es hat auch noch nie jemand alles auf einmal bestellt. Aber alles auf einmal heißt, dass die Kasse klingelt.
Also fragt Frau Bulette nicht weiter und macht sich an die Arbeit.
»Na, denn setz dir«, sagt sie und deutet mit dem Kinn auf den Stammtisch. Der Hähnchenbrüdertisch? Ehrlich?
»Aber …«, will ich Einspruch erheben. Umsonst.
Dem Neuen sind die Hähnchenbrüder egal oder – was wahrscheinlicher ist – er kennt sie gar nicht. Er zieht seinen Rucksack ab und setzt sich. Ich bleibe bei Frau Bulette hinter der Theke und beobachte ihn. Eins ist klar: Der ist nicht nur neu, der kommt quasi von einem anderen Stern.
Erstens sieht sein Rucksack ziemlich teuer aus. Teure Sachen hat in unserer Gegend eigentlich schon deswegen kaum jemand, weil er sie vermutlich ziemlich schnell wieder los wäre. Sozusagen auf der Straße an den Nächstbesten verliehen. Wobei die Leute, die sich hier im Kiez neue Sachen ausleihen, eher nicht aus einer unserer Geradeaus- und Querstraßen kommen, sondern von was weiß ich woher, weil hier kennt ja jeder jeden. Außerdem haben sie die Eigenschaft, die ausgeliehenen Sachen nicht wieder zurückzugeben, sondern sie zu verscherbeln. Jeder, der hier wohnt, weiß das. Was also dafür spricht, dass der Neue nicht hier wohnt.
Zweitens packt er jetzt doch tatsächlich ein Handy auf den Tisch, das genauso neu ist wie er und bestimmt noch teurer als sein Rucksack, was hier schon gleich dreimal keiner tut.
Es gibt noch eine einzige Chance, jetzt alles richtig zu machen. Eine letzte. Aber … nein, auch die ignoriert der Neue. Denn drittens – und damit hat er sich definitiv verraten – fragt er Frau Bulette nicht danach, ob er bei ihr ins Netz kann.
Es ist nicht so, dass das jeder hier im Kiez fragen würde. Denn jeder hier weiß, dass Frau Bulette selbstverständlich kein Internet hat, weil sie nichts davon hält, dass irgendwer am anderen Ende der Welt dann genau weiß, was im Broilergrill so vor sich geht. Sagt sie. Ich bin nicht sicher, ob sich am anderen Ende der Welt überhaupt jemand für den Broilergrill interessiert. Aber Frau Bulette ist fest davon überzeugt, dass man gar nicht vorsichtig genug sein kann.
Das hat Gründe. Die gehen den Neuen aber ganz sicher nichts an. Und sie interessieren ihn wohl auch nicht. Er fragt nämlich ganz einfach deshalb nicht nach Frau Bulettes Netz, weil er fremdes Netz nicht braucht. Der fängt doch glatt mit seinem eigenen Netz an, auf dem Handy einen Film zu gucken.
Ich schnappe mir einen Spüllappen und tue so, als würde ich die Theke sauber machen. Dabei versuche ich zu erspähen, was er da guckt. Dummerweise ist die Theke ziemlich hoch. Ich kann nichts erkennen, egal wie sehr ich mich verrenkte.
»Neugier ist keine Sünde. Aber wir sollten sie mit Umsicht walten lassen«1, sagt da auf einmal der Neue zu seinem Handy.
»Wie bitte?«, platze ich heraus und würde am liebsten den Kopf auf den Tresen hauen, weil ich mich verraten habe.
»Dumbledore.« Der Neue klickt den Film weg und steckt das Handy ein.
Allerdings sieht er dabei gar nicht so lässig aus, wie er klingt. Im Gegenteil. Es ist total klar, dass keiner mitkriegen soll, was er da gerade angeguckt hat. Ich zumindest sicher nicht.
Aber so einfach wird der mir nicht davonkommen. Ich muss meinen Fehler ausbügeln. Der hält mich für neugierig? Na, warte.
»Frau Bulette«, flöte ich.
Frau Bulette, die gerade das bestellte Grillhähnchen vom Spieß auf einen Pappteller schiebt, guckt mich komplizenhaft an. Die Show kann beginnen.
»Ich gehe mal nach hinten und hole einen neuen Putzlappen. Der hier macht es nur noch schlimmer«, sage ich, als wäre Fettbeseitigung meine größte Leidenschaft. Zumindest hoffe ich, dass der Neue das glaubt.
Frau Bulette nickt und rückt dem Hähnchen mit der Geflügelschere auf den Leib.
Durch den Perlenvorhang neben der Arbeitsplatte verschwinde ich ins Hinterzimmer. Zwischen Frau Bulettes Kühltruhe, den Instrumenten der Pancakes und allem möglichen anderen Krempel in Kisten und Regalen steht ein abgewetzter Sessel. Darauf habe ich früher, wenn Frau Bulette nachmittags auf mich aufgepasst hat, meinen Mittagschlaf gemacht. Und wie oft ich abends hier war, wenn die Pancakes geprobt haben, kann ich gar nicht mehr zählen. Der Sessel ist meine Insel. Immer noch.
Ich setze mich hin und schlage das Klatschheft auf, das ich unauffällig habe mitgehen lassen. Einen neuen Lappen holen? Denkste. Aussitzen und nervös machen, so lautet der Plan. Will man mehr über jemanden herausfinden, muss man so tun, als wäre man kein bisschen an ihm interessiert. Dann wird er irgendwann nervös. Und wer nervös ist, der kann einem nichts mehr vormachen.
Woher ich das weiß? Von Papa. Zugegeben, das ist auch