Mira Kadrić

Gerichts- und Behördendolmetschen

Prozessrechtliche und translatorische Perspektiven[3]

Univ.-Prof. Mag. Dr. Mira Kadrić-Scheiber ist Leiterin des Universitätslehrgangs „Dolmetschen für Gerichte und Behörden“ sowie stellvertretende Leiterin und Studiendekanin des Zentrums für Translationswissenschaft der Universität Wien.

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Satz: Soltész. Die Medienagentur

Druck: FINIDR

Printed in the EU

ISBN 978-3-7089-1681-1 print

ISBN 978-3-99030-897-4 epub[4]

Vorwort

Das Dolmetschen vor Behörden und Gerichten ist heute in seiner gesellschaftlichen Bedeutung anerkannt. Angetrieben von Europäischer Union und Europarat hat sich auf diesem Gebiet auf nationaler Ebene in den letzten Jahren viel getan. Behörden und Gerichte schenken der Qualität der Dolmetschung zunehmend Beachtung. Die Zahl interdisziplinärer Foren, die sich mit dem Thema beschäftigen, nimmt zu. Der Bedarf an Dolmetschung steigt aufgrund verschiedenster Faktoren: Die voranschreitende Integration Europas mit der Mobilität seiner Bürgerinnen und Bürger, wachsender Tourismus, Migration, Binnenmarkt, aber auch ein Mehr an Kommunikation zählen dazu. So gibt es heute in ganz Europa eine enorme Zahl an gerichtlichen und behördlichen Verfahren, an denen Personen beteiligt sind, die die Gerichts- und Landessprache nicht sprechen und auf Dolmetschdienste angewiesen sind. Das Recht auf Dolmetschung wird immer öfter in Rechtstexten herausgestrichen; neben die Europäische Menschenrechtskonvention sind jüngere Richtlinien der Europäischen Union getreten, die die Dolmetschung für Opfer und Verdächtige eines Strafverfahrens garantieren.

Diese Entwicklung hat mich veranlasst, ein völlig neues Überblickswerk zu einem Kernbereich meiner Arbeit vorzulegen. Das Behörden- und Gerichtsdolmetschen bildet einen Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Tätigkeit, verbunden mit einer langjährigen Praxis als allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Dolmetscherin in Österreich. Das 2001 erschienene Buch „Dolmetschen bei Gericht. Erwartungen, Anforderungen, Kompetenzen“ ist in drei Auflagen erschienen. Die raschen rechtlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen beim Gerichts- und Behördendolmetschen haben nunmehr eine Neukonzeption erfordert. Das vorliegende Werk arbeitet die translations- und rechtswissenschaftlichen Grundlagen für den Bereich des Dolmetschens vor Gerichten und Behörden auf. Dementsprechend wendet es sich auch an zwei Berufsgruppen. Angehenden Behörden- und Gerichtsdolmetschenden, insbesondere aus jenen Sprach- und Kulturbereichen, für die keine universitäre Ausbildung im Dolmetschen besteht, will es einen Überblick über die Grundlagen dieser Tätigkeit bieten und den breiten Handlungsspielraum der Dolmetschenden aufzeigen; praktizierenden Dolmetschenden mag das Buch zur Reflexion der Tätigkeit dienen. Die zweite Ziel-[5]gruppe ist jene der Juristinnen und Juristen; sie haben sich in letzter Zeit verstärkt dem Thema Dolmetschen zugewandt, ist doch die Qualität ihrer Arbeit vom Standard der Dolmetschung abhängig. Dieses Buch will Juristinnen und Juristen eine ganzheitliche Perspektive auf den Bereich Translation und Recht bieten. Der Band vermittelt aber nicht nur die Grundlagen des Gerichts- und Behördendolmetschens. Er will auch zeigen, dass es sich beim Gerichts- und Behördendolmetschen um eine hochspezialisierte Tätigkeit handelt, die eine spezielle Ausbildung für diesen Fachbereich erfordert. Das Buch stellt eine solche postgraduale Ausbildung vor.

Für die Unterstützung bei Recherche und Redaktion gilt mein großer Dank Univ.-Ass. Dalibor Mikić, Bakk. MA und Maga Tamara Rubey. Dem Verlag danke ich für die langjährige, angenehme Zusammenarbeit und das Interesse an diesem neuen Band. Für hier und mehr – danke Oliver!

Wien, im Jänner 2019

Mira Kadrić[6]

Inhalt

Vorwort

1Konstitutionalisierung des gerichtlichen und behördlichen Dolmetschens

1.1Zusammenwirken von Translation und Recht

1.2Transdisziplinarität

2Kommunikative Garantien in Europa

2.1Supranationale Garantien

2.1.1Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

2.1.2Genfer Flüchtlingskonvention

2.2Recht der Europäischen Union

2.3Die europäische Grundrechtecharta

2.4Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates

2.4.1Richtlinie 2010/64/EU

2.4.2Richtlinie 2012/29/EU

2.4.3Richtlinie 2012/13/EU

2.4.4Richtlinie 2013/32/EU

2.4.5Richtlinie 2013/33/EU

2.5Grenzüberschreitende Fälle

2.5.1Inländische Gerichtsbarkeit im Strafrecht

2.5.2Internationale Zuständigkeit im Zivilrecht

2.5.3Europol

2.5.4Eurojust

2.5.5Europäische Staatsanwaltschaft

2.6Nationalstaatliche Bestimmungen am Beispiel Österreichs

2.6.1Verfassungsbestimmungen

2.6.2Gemeinsame Bestimmungen für das Zivil- und Strafverfahren

2.6.3Bestimmungen der Zivilprozessordnung

2.6.4Bestimmungen des Außerstreitgesetzes

2.6.5Bestimmungen der Strafprozessordnung

2.6.6Bestimmungen für das Verwaltungsverfahren

2.6.7Das Verfahren vor der Polizei

2.7Der institutionelle Schutz der Rechte[7]

3Gericht und Behörde als translatorisches Handlungsfeld

3.1Vermittelte Kommunikation in Funktion

3.2Die Sicht auf Dolmetscherinnen und Dolmetscher von außen

3.3Funktionsgerechte Kommunikation und Translation

3.3.1Kulturelle Aspekte

3.3.2Beiziehung der gerichtlichen Dolmetscherinnen und Dolmetscher

3.3.3Umfang der Dolmetschung

3.3.4Befangenheit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher

3.3.5Kosten der Dolmetschung

3.4Haftung der Dolmetscherinnen und Dolmetscher

3.4.1Strafrechtliche Haftung

3.4.2Zivilrechtliche Haftung

3.5Allparteiisches transkulturelles Handeln

4Möglichkeiten und Grenzen der Dolmetschung am Beispiel des Strafverfahrens

4.1Beteiligte des Strafverfahrens

4.2Die strafgerichtliche Hauptverhandlung

4.3Translatorischer Handlungsrahmen im Gerichtssaal

4.4Dimensionen des Fremden im Gerichtssaal

4.4.1Fremdsprache und -kultur als das Fremde

4.4.2Verfahrenssprache und -kultur als das Fremde

4.5Handlungsarten am Beispiel der Hauptverhandlung

4.5.1Handlungsarten des Gerichts- und Behördenverfahrens

4.5.2Abbildende und anpassende Dolmetschung

4.5.3Ablauf der Hauptverhandlung

4.5.4Handlungsschemata und Interaktionssituationen

4.5.5Texttypologie im gerichtlichen und behördlichen Kontext

4.6Dynamisches Handlungskonzept im Gerichtssaal

4.7Handlungswissen und Funktionsgerechtigkeit: Möglichkeiten und Grenzen

5Funktion der Dolmetscherinnen und Dolmetscher im rechtlichen Gefüge

5.1Rolle der Dolmetscherinnen und Dolmetscher

5.2Sind Dolmetscherinnen und Dolmetscher Sachverständige?[8]

5.2.1Klassische Sachverständigentätigkeit

5.2.2Sachverständigentätigkeit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher

5.2.3Verantwortung der Dolmetscherinnen und Dolmetscher

5.3Anforderungen und Kompetenzen in der gerichtlichen und behördlichen Realität

5.3.1Anforderungsprofil aus rechtlicher Sicht am Beispiel Österreichs

5.3.2Anforderungsprofil aus der Sicht der gerichtlichen und behördlichen Praxis

5.3.3Aufgabenprofil und Qualifikation

6Qualifikationsprofil und Curriculum

6.1Anforderungen an die Ausbildung

6.2Anforderungen an die Didaktik

6.3Universitätslehrgang „Dolmetschen für Gerichte und Behörden“ an der Universität Wien

6.3.1Interdisziplinäre Arbeit und wissenschaftliche Fundierung

6.3.2Institutionelle Kommunikation und Translation

6.3.3Dolmetschen

6.3.4Übersetzen

7Gerichts- und Behördenkommunikation in der Multiminoritätengesellschaft

7.1Die Realität versus Idealität

7.2Handlungsspielraum der Dolmetscherinnen und Dolmetscher

Bibliografie

Anhang

Abkürzungsverzeichnis[9][10]

1 Konstitutionalisierung des gerichtlichen und behördlichen Dolmetschens

Gleichberechtigung, Waffengleichheit und Fairness sind Schlüsselbegriffe für jedes behördliche Verfahren. Nur eine gleichberechtigte Kommunikation gewährleistet ein faires Verfahren; das faire Verfahren wiederum ist ein zentrales Grundrecht. Das Recht auf ein faires Verfahren und auf einwandfreie Verständigung im Verfahren bildet die gemeinsame Herausforderung für Rechts- und Translationsberufe.

1.1 Zusammenwirken von Translation und Recht

In der neueren Geschichte wurzelt die Verbindung der beiden Berufe in einem Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung: in den von 1945 bis 1949 geführten Nürnberger Prozessen über die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten.1

Die Errichtung des Internationalen Militärgerichtshofs gilt als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse waren nicht nur ein Meilenstein in der Geschichte der internationalen Strafgerichtsbarkeit, sondern auch in der Geschichte des Gerichtsdolmetschens. Artikel 25 des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof (1945) sah vor, dass die Prozesse in englischer, französischer, russischer sowie in der Sprache der Angeklagten, also vorwiegend in deutscher Sprache, geführt werden: „Alle amtlichen Urkunden müssen in englischer, französischer und russischer Sprache, sowie in der Sprache des Angeklagten vorgelegt werden und die Verhandlung muss in diesen Sprachen geführt werden.“

Auf diese Weise sollte ein faires Verfahren gewährleistet und den Angeklagten die Möglichkeit und das Recht eingeräumt werden, das Verfahren in ihrer Muttersprache zu verfolgen und sich in der eigenen Sprache[11] mitzuteilen und zu verteidigen. Im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Verständigung entstand schon im Vorfeld der Prozesse Besorgnis darüber, wie eine reibungslose Kommunikation sichergestellt werden konnte – nicht nur zwischen Angeklagten und Richtern, sondern etwa auch zwischen einzelnen Richtern und Anklägern, die aus unterschiedlichen Ländern stammten. Der amerikanische Chefankläger Jackson äußerte schon vor Verhandlungsbeginn die Befürchtung, dass der Prozess zu einer Farce in vier Sprachen werden würde, sollte die Verständigung nicht zufriedenstellend funktionieren. Er betonte in seinem Eröffnungsplädoyer den Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren und auf innere Überlegenheit und geistige Unbestechlichkeit des Gerichts:

Wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. (…) Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, daß dieser Prozeß einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge. (zit. nach Laster/Taylor 1994: 206)

Dieser Aufruf richtete sich an alle am Tribunal Tätigen, selbstverständlich auch an die Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Für sie war es oft eine besondere Herausforderung, denn mehrere Dolmetschende in Nürnberg waren selbst Opfer des Nationalsozialismus.2 Zur Illustration die Aussage des Dolmetschveterans Peter Less aus Nürnberg zu seiner Tätigkeit: „You have to disassociate your feelings from your job. You have sworn to faithfully translate whatever it’s said. You can’t get up and say liar, liar! (…) You have to translate these lies with a straight face.“3

Das Vermächtnis der Nürnberger Prozesse und der dort tätigen Juristen und Dolmetschenden, die eine Vorreiterrolle innehatten, ist beachtlich. Auch die Angeklagten wussten von der Bedeutung einer einwandfreien[12] Kommunikation: „Ich brauche keinen Rechtsanwalt, ich habe nie etwas mit Anwälten zu tun gehabt, sie würden in diesem Prozess nichts nützen. Was ich wirklich brauche, ist ein guter Dolmetscher“ (Schneider 2005), sagte Hermann Göring im Zusammenhang mit seiner Verteidigung.4

Die Nürnberg-Dolmetschenden leisteten Pionierarbeit in vielerlei Hinsicht. Die damals erprobte Simultantechnik ist heute aus den internationalen Gerichtshöfen und Arbeiten internationaler Organisationen nicht mehr wegzudenken. Die Nürnberger Prozesse legten den Grundstein für die Entstehung eines neuen Berufsbildes und für professionelle Ausbildungsstätten für das Übersetzen und Dolmetschen. Die 1950 unterzeichnete Europäische Menschenrechtskonvention schrieb die Standards für ein faires Verfahren einschließlich des Rechtes auf ausreichende Verständigung im Strafverfahren nieder.

Seit damals steigt der Bedarf an Gerichts- und Behördendolmetscherinnen und -dolmetschern in den westeuropäischen Ländern.5 Die Gründe liegen zunächst in der ausgeprägten Arbeitsmigration, die bereits in den 1950er-Jahren einsetzte. Die Familienzusammenführungen der 1980er-Jahre machten aus den Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern zunehmend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit unbefristetem Aufenthalt oder neue Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. In den 1990er-Jahren erhöhte sich die Zuwanderung durch den Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens.

Die 2000er-Jahre brachten wechselnde Migrationsströme und eine wachsende Mobilität innerhalb der Europäischen Union. Die zugewanderten oder vorübergehend in einem Land aufhältigen Menschen beherrschen die Sprache des Gastlandes bzw. ihrer neuen Heimat nur bedingt – oft nur begrenzt im Alltag oder am Arbeitsplatz. Wenn sie mit Behörden bzw. der Behördensprache in Berührung kommen, sind sie in der Regel auf die Dienste der Translatorinnen und Translatoren angewiesen.

Mit dem steigenden Bedarf nach Dolmetschung bei Gerichten und Behörden erwachte allmählich ein Problembewusstsein, das schließlich auch zu einem verstärkten politischen und wissenschaftlichen Interesse[13] führte. Der Schwerpunkt der thematischen Diskussion liegt heute in Bereichen wie Dolmetschstandards, Arbeitsbedingungen, Ausbildungsprogrammen und ethischen Fragestellungen, was den Schluss zulässt, dass das Gerichts- und Behördendolmetschen sowohl in der praktischen Ausübung als auch in der Forschung hohe Bedeutung und Aktualität hat.

Die Bezeichnung „Gerichts- und Behördendolmetschen“ bezieht sich sowohl auf die wissenschaftlich-theoretische Beschäftigung mit dem Thema als auch auf die praktische Tätigkeit im Rahmen eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens. In dieser Arbeit wird das Fachübersetzen ausgeklammert; lediglich in der Diskussion um mögliche Ausbildungsformen wird die Vorbereitung auf den Beruf auch im Hinblick auf die Übersetzung gerichtlicher und behördlicher Schriftstücke behandelt.

Ziel des vorliegenden Buchs ist die Vorstellung eines prozessgeleiteten Konzeptes für die Tätigkeit bei Gerichten und Behörden aus einer funktional-pragmatischen Perspektive. Die funktionale Translationstheorie ermöglicht eine weitergehende Reflexion der Dolmetschpraxis und die Bildung eines dynamisch-funktionalen Theorierahmens. Dabei werden die gesetzlichen Anforderungen an die Dolmetschung und die Dolmetscherin bzw. den Dolmetscher berücksichtigt. Dieser Vorgabe folgend wird zunächst der Dolmetschbedarf unter Berücksichtigung der demografischen Trends und der rechtlichen Basis festgestellt. Ausgehend von den wichtigsten gesetzlichen Grundlagen, die den Rechtsanspruch auf Dolmetschung in einem behördlichen Verfahren festschreiben, wird ein (dolmetsch-)prozessrechtlicher Rahmen erstellt.

Die Praxis des Gerichts- und Behördendolmetschens wird durch Beispiele illustriert. Es wird aus dolmetschwissenschaftlichem, aber auch prozessrechtlichem Blickwinkel diskutiert, welche Möglichkeiten die Dolmetscherinnen und Dolmetscher im rechtlichen Gefüge haben, welchen Handlungsspielraum sie in Anspruch nehmen und wie sich das translatorische Handlungskonzept auf die Gesamtsituation und -kommunikation auswirkt. Es geht mithin nicht um die Analyse der einzelnen Äußerungen oder um die Fahndung nach ‚richtiger Wiedergabe’ – vielmehr besteht die Aufgabe darin, allgemeine Antworten zu den Möglichkeiten und Grenzen der translatorisch Handelnden vor dem Hintergrund institutioneller und individueller Zielsetzungen zu finden. Anhand dieser Grundlage wird aufgezeigt, dass die komplexe translatorische Aufgabe des Gerichts- und Behördendolmetschens einer fundierten Ausbildung bedarf. Weiter ergeben sich daraus neue Perspektiven für das Rollenbild und[14] das Anforderungsprofil der Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Es wird diskutiert, welche Ausbildungsschwerpunkte gesetzt werden könnten, um die angehenden Gerichtsdolmetscherinnen und -dolmetscher professionell auf die Arbeitswelt vorzubereiten.

1.2 Transdisziplinarität

Die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen basieren auf einer Theoriebildung, die Impulse insbesondere aus Translations-, Kultur- und Handlungstheorie heranzieht und zu einem interdisziplinären Ansatz verknüpft. Die interdisziplinäre Methodik wird weiterverfolgt: Es werden rechtliche Grundlagen, die die Beiziehung von Dolmetscherinnen und Dolmetschern regeln, auf nationaler und supranationaler Ebene ermittelt. Das umfasst sowohl die kommunikativen Garantien, die fremdsprachigen Personen eingeräumt werden, als auch die Regelungen, welche die Person der Dolmetscherin bzw. des Dolmetschers in ihrer oder seiner Eigenschaft als gerichtliche Dolmetscherin oder gerichtlicher Dolmetscher definieren. Anhand authentischer Beispiele werden die Dolmetschpraxis und der Handlungsspielraum der Dolmetscherin bzw. des Dolmetschers gezeigt. Die Analyse der Beispiele wirft die Frage auf, inwieweit eine entsprechende Vorbereitung auf den Beruf zu einem besseren Gelingen der Kommunikation beiträgt. Eine mögliche Antwort darauf wird im anschließenden Kapitel zur Ausbildung diskutiert. Dort wird zunächst der Rahmen, der die Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit bildet, skizziert und ein Vorschlag ausgearbeitet, wie das festgestellte Defizit an Ausbildung durch gesellschaftspolitische und didaktische Maßnahmen verbessert werden könnte. Es wird ein Curriculum vorgestellt, das inzwischen erfolgreich implementiert wurde. Das Abschlusskapitel bietet eine Zusammenschau der Ergebnisse der Arbeit.

Die Terminologie in dieser Arbeit ist in den einzelnen Abschnitten unterschiedlich. Im translationswissenschaftlichen Teil werden Begriffe aus der Translationswissenschaft verwendet. Der Terminus Translation wird in Anschluss an die Leipziger Schule (Kade 1968: 33) als Oberbegriff für Übersetzen und Dolmetschen verwendet; der Begriff Translat als Produkt der Translation (Reiß/Vermeer 1984: 7); die Translation als Beschreibung der Expertentätigkeit, gerichtet auf professionelle Produktion von Translaten, wird in Anlehnung an Holz-Mänttäri als translatorisches Handeln (1984: 87) bezeichnet. Der Begriff Text wird für mündliche und schriftliche[15] Äußerungen verwendet. Die Handlungen, die im Rahmen des Gerichtsverfahrens von Juristinnen und Juristen (ohne Unterscheidung, ob es sich dabei um Richterinnen, Richter, Staatsanwältinnen, Staatsanwälte, Rechtsanwältinnen, Rechtsanwälte oder sonstige im Verfahren juristisch tätige Personen handelt) gesetzt werden, werden als juristisches Handeln bezeichnet. Der Begriff des Gerichts bezeichnet die unabhängigen Gerichte; Behörde wird nicht nur als Terminus für die weisungsunterworfenen Verwaltungsbehörden verwendet, sondern je nach Kontext auch als Oberbegriff für staatliche Einrichtungen und umfasst dann gelegentlich Verwaltungsbehörden und Gerichte.

Bei der Anwendung von Zitaten, Abkürzungen oder Quellenangaben werden im translationswissenschaftlichen Teil die in dieser Disziplin üblichen Konventionen angewandt; im rechtstheoretischen Teil richtet sich die Anwendung nach den im Auftrag des Österreichischen Juristentags erarbeiteten „Abkürzungs- und Zitierregeln der österreichischen Rechtssprache“.

Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag zu der im Lichte einer modernen Auslegung der rechtlichen Grundlagen als auch der modernen Translationswissenschaft notwendigen Auseinandersetzung mit dem Thema. Die zeitgemäße Auslegung der von der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleisteten Rechte sowie die funktionale Auffassung des translatorischen Handelns verlangen ein umfassendes Verständnis der Tätigkeit und in diesem Zusammenhang wohl auch die Beiziehung qualifizierter Dolmetscherinnen und Dolmetscher, die sowohl der fremdsprachigen Partei als auch der Behörde gleichermaßen zur Verfügung stehen.[16]

2 Kommunikative Garantien in Europa

Der folgende Abschnitt fasst alle maßgeblichen Regelungen zusammen, die den Anspruch einer an einem behördlichen Verfahren beteiligten Person auf Vernehmung bzw. Anhörung in einer ihr verständlichen Sprache garantieren. Es handelt sich um Bestimmungen grundrechtlichen Charakters, die der Sicherstellung fairer Verfahren und des rechtlichen Gehörs dienen. Da sich die Kommunikation zwischen der Behörde und der fremdsprachigen Person in der Praxis nur im Wege der Dolmetschung herstellen lässt, bedeuten diese Bestimmungen gleichzeitig den Anspruch auf Beiziehung einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers und bilden somit auch die Grundlage der Dolmetscherinnen- und Dolmetscherbestellung durch die Behörde. Zu betonen ist dabei, dass durch die Dolmetschung nicht nur die Rechte der Fremdsprachigen gewahrt werden; auch das Recht der der Verfahrenssprache mächtigen Prozessparteien auf ein faires Verfahren ist nur gewährleistet, wenn die reibungslose Kommunikation mit der fremdsprachigen Zeugin oder dem fremdsprachigen Zeugen gesichert ist. Gleiches gilt etwa für den Verfolgungsanspruch des Staates im Strafverfahren.

Ähnlich ist das Asylverfahren zu sehen, dessen Entscheidungen besondere Tragweite haben. Auch hier geht es einerseits um Ansprüche der Schutz suchenden Antragstellerinnen und Antragsteller, sich in der eigenen Sprache mitteilen zu können, und andererseits um die Möglichkeit der Behörde, den Grundsatz des fairen Verfahrens bestmöglich umzusetzen.

Nicht viel anders verhält es sich im Verfahren um zivilrechtliche Ansprüche; auch sie fallen wegen ihrer Bedeutung in den Anwendungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dolmetschung muss daher auch dort gewährleistet sein, wo Bürgerinnen und Bürger untereinander Streitigkeiten in einem zivilrechtlichen Verfahren vor Gericht austragen oder wo es in einem Verwaltungsverfahren um zivilrechtliche Ansprüche geht, etwa die Erteilung einer Gewerbeberechtigung oder einer Baubewilligung.[17]

2.1 Supranationale Garantien

Zu den supranationalen Rechtsnormen zählen vor allem internationale Übereinkommen wie die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Genfer Flüchtlingskonvention. Dazu kommen bi- und multilaterale Abkommen, die eine überschaubare Zahl von Ländern betreffen; für Österreich sind im Bereich der sprachlichen Garantien die nach den Weltkriegen geschlossenen Verträge von St. Germain (1919) und von Wien (Staatsvertrag von Wien, 1955) maßgeblich. Das Recht der Europäischen Union ist eine Rechtsform eigener Art. Da die Union viel an Souveränität ihrer Mitgliedstaaten übernommen hat, ist sie auf halbem Weg vom Staat zum Staatenbund. Ihre Normen haben daher einen eigenen rechtlichen Charakter und bilden hier einen eigenen Abschnitt. In der Hierarchie der rechtlichen Regelungen steht die Europäische Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1950 weit oben. In jüngerer Zeit hat die Europäische Union mit der Grundrechtecharta aus dem Jahr 2000 und für das Gerichtsdolmetschen ganz konkret mit der sogenannten Dolmetschrichtlinie aus dem Jahr 2010 markante Normen erlassen. Auf nationaler Ebene finden sich die Ausgestaltungen der grundrechtlichen Vorgaben in den einzelnen Verfahrensgesetzen, die hier am österreichischen Beispiel angeführt sind.

2.1.1 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

Das wichtigste Dokument zum Schutz der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg – entstanden zunächst als Reaktion auf Krieg und Faschismus – ist die am 4.11.1950 unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Die EMRK, die auf unbestimmte Zeit geschlossen wurde, geht auf die Declaration of Human Rights zurück, in der die Vereinten Nationen im Jahre 1948 eine Aufstellung der grundlegenden Menschenrechte ausgearbeitet haben.6 Während die UN-Menschenrechtserklärung unverbindlich ist, können die von der EMRK gewährten Rechte vor dem Europäischen Ge-[18]richtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eingeklagt werden. Die Rechtsprechung des EGMR hat ihrerseits zur Weiterentwicklung des europäischen Grundrechtssystems maßgeblich beigetragen. Da die EMRK im Rahmen des Europarats erlassen wurde und ihr nahezu alle europäischen Staaten als Mitglieder angehören, geht ihre räumliche Wirkung deutlich über die Europäische Union hinaus und umfasst etwa auch die Türkei und Russland.

Art. 1 EMRK sichert die in der Konvention festgehaltenen Rechte allen Menschen zu, die sich innerhalb der Jurisdiktion der Vertragsstaaten aufhalten, also nicht nur den eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern. Der Anwendungsbereich der EMRK ist demnach räumlich auf die betreffenden Staatsgebiete beschränkt, personell bestehen jedoch keine Einschränkungen. Dass jedem Menschen die gleichen Rechte zukommen – ungeachtet seiner Staatsbürgerschaft – wird noch durch Art. 14 EMRK, welcher ausdrücklich Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion usw. verbietet, unterstrichen.

Wie die Anwendung der Bestimmungen der Konvention im nationalen Recht gewährleistet wird, bleibt jedem Vertragsstaat selbst überlassen. Die Verfahrensgarantien der EMRK gelten für alle Verfahren, in denen es um strafrechtliche Anklagen und zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen geht, also sowohl für Strafverfahren als auch Zivilverfahren und viele Verwaltungsverfahren. Die für unser Thema zentralen Bestimmungen der EMRK lauten auszugsweise:

Artikel 5 – Recht auf Freiheit und Sicherheit

(…)

(2) Jeder Festgenommene muß unverzüglich und in einer ihm verständlichen Sprache über die Gründe seiner Festnahme und über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen unterrichtet werden. (…)

(5) Jeder, der entgegen den Bestimmungen dieses Artikels von Festnahme oder Haft betroffen ist, hat Anspruch auf Schadenersatz.

Artikel 6 – Recht auf ein faires Verfahren

(1) Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Das Urteil muß öffentlich verkündet werden,[19] jedoch kann die Presse und die Öffentlichkeit während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozeßparteien es verlangen, oder, und zwar unter besonderen Umständen, wenn die öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde, in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang.

(2) Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.

(3) Jeder Angeklagte hat mindestens (englischer Text) insbesondere (französischer Text) die folgenden Rechte:

a)in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden;

b)über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen;

c)sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten und, falls er nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers verfügt, unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;

d)Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken;

e)die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers zu verlangen, wenn der Angeklagte die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder sich nicht darin ausdrücken kann.

Aus den Art. 5 und 6 geht hervor, dass mit der Formulierung „verständliche Sprache“ nicht unbedingt die Anwendung der Muttersprache angeordnet wird, sondern einer der fremdsprachigen Person vertrauten Sprache. In der Praxis kann dies die Anwendung einer der Amtssprachen des jeweiligen Herkunftslandes der fremdsprachigen Beteiligten bedeuten, die nicht mit der Muttersprache von dessen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern ident sein muss, oder eine Sprache, die die Angeklagten einwandfrei beherrschen.[20]

Als Beispiel der Umsetzung der Vorgaben der EMRK dient der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), der von 1993 bis 2017 bestand und als mehrsprachiges Gericht mit Englisch und Französisch als Arbeitssprachen eingerichtet war.7 Jede am ICTY angeklagte Person hatte das Recht, eine ihr vertraute Sprache zu verwenden, sodass regelmäßig die Sprachen Bosnisch/Kroatisch/Serbisch zum Einsatz kamen; bei Bedarf auch andere Sprachen, wie etwa Albanisch im Verfahren gegen Slobodan Milošević oder Niederländisch im Srebrenica-Prozess.8

Der Bedarf an Translation am ICTY ging weit über die öffentlichkeitswirksamen Verfahren gegen die Hauptangeklagten hinaus. In den Prozessen des Haager Tribunals wurden Anfang dieses Jahrhunderts pro Jahr zwischen 500 und 600 Zeuginnen und Zeugen aus rund 25 Ländern einvernommen.9 Alle diese Zeuginnen und Zeugen wurden bereits vorab in ihrem Heimatland kontaktiert – diese Arbeitsweise, die im Opferschutz neue Maßstäbe setzte, löste einen enormen Bedarf an Translationsleistungen aus.

Die in Den Haag tätigen Translatorinnen und Translatoren gehörten zu den besten ihres Berufsstandes. Das war auch notwendig, denn der Gerichtshof wollte Sicherheit, dass zur Erforschung der Wahrheit und Aufklärung des Sachverhalts die Aussagen der Zeuginnen und Zeugen unver-[21]fälscht das Gericht erreichen. Die Angeklagten wiederum hatten so die Garantie, dass ihre Aussagen unverfälscht in die Verhandlungssprachen übertragen und umgekehrt die Mitteilungen des Gerichtes ihnen in jeder Einzelzeit korrekt vermittelt wurden.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat zu Art. 5 und 6 EMRK eine reiche und dynamische Rechtsprechung entwickelt. Dabei legt der EGMR ein modernes Verständnis der Bestimmungen der EMRK an den Tag und fasst Art. 6 Abs. 1 als umfassende Garantie eines fairen Verfahrens auf. Auch zur Frage, wann eine Dolmetschung in einem Gerichtsverfahren nach den Bestimmungen der EMRK zu erfolgen hat und wie die Dolmetschung auszugestalten ist, hat sich der EGMR bereits mehrmals geäußert.10 Auf die Spruchpraxis des EGMR wird später noch zurückzukommen sein.

2.1.2 Genfer Flüchtlingskonvention

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)11 bildet bis heute das wichtigste internationale Dokument für den Flüchtlingsschutz. Sie wurde am 28. Juli 1951 als Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge auf einer UN-Sonderkonferenz in Genf verabschiedet und trat am 22. April 1954 in Kraft. In den Schutzbereich der Konvention fallen Menschen, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden. Die Konvention garantiert diesen Menschen Schutz und definiert ihre Rechte und Pflichten in den Konventionsstaaten. Der ursprüngliche Wirkungsbereich der GFK war vor allem auf europäische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg gerichtet und wurde im Jahr 1967 durch ein Protokoll zeitlich und geografisch erweitert. Bis heute sind 145 Staaten der Konvention beigetreten.

Artikel 16 GFK garantiert Flüchtlingen im Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts den freien und ungehinderten Zugang zu den Gerichten, wie ihn sonst Staatsbürger haben. Über die Anwendung der Konvention wacht der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR).[22]

2.2 Recht der Europäischen Union

Am Gipfel von Nizza im Dezember des Jahres 2000 proklamierte die Europäische Union ein eigenes Menschenrechtsdokument, die Grundrechtecharta der Europäischen Union.12 Die Charta ist mittlerweile rechtsverbindlich und gilt innerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Unionsrechts. Sie übernimmt in Artikel 1 aus dem deutschen Grundgesetz die einleitenden Sätze leicht modifiziert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“

Etwa ab der Jahrtausendwende wandte sich die Union auch verstärkt der Harmonisierung des Strafrechts und Zivilrechts zu, für die die Union sukzessive neue Zuständigkeiten erhielt. In diesem Zusammenhang beschäftigte sich die Union auch intensiv mit der Frage der Kommunikation im öffentlichen Raum. Die Kommission führte über Jahre einen breiten Diskussionsprozess mit Rechts- und Translationswissenschaft und mit Rechts- und Translationspraxis;13 diese Arbeiten mündeten in das zentrale europäische Regelungswerk zum Gerichtsdolmetschen, die sogenannte Dolmetschrichtlinie aus dem Jahr 2010. Ihr folgten eine Reihe weiterer Richtlinien zu Fragen des Strafrechts, in denen die Dolmetschung immer wieder eine Rolle spielt. Auf Grundrechtecharta und maßgebliche Richtlinien wollen wir im Folgenden kurz eingehen.[23]

2.3 Die europäische Grundrechtecharta

Der Grundrechtskatalog gilt für die europäischen Organe und Einrichtungen und für die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Unionsrecht. Die Charta fasst bürgerliche, politische, wirtschaftliche und soziale Rechte zusammen; sie gliedert diese Rechte in sechs Kapitel, die die Überschriften Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheiten, Solidarität, Bürgerrechte und Justizielle Rechte tragen. Die für die Herstellung gleichberechtigter Kommunikation relevanten rechtlichen Garantien finden sich in den Artikeln 21, 22 und 47.

Artikel 21 Abs. 1 verbietet Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Artikel 22 enthält die allgemeine Erklärung, dass die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet. Artikel 47 gewährt jeder Person das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht; die Bestimmung lautet:

Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen. Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.[24]

2.4 Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates

2.4.1 Richtlinie 2010/64/EU

Die Europäische Union erhielt erst spät, mit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2007, Kompetenzen zur Gesetzgebung im Strafrecht. Nach mehreren Gesetzesinitiativen der Kommission sowie einzelner Mitgliedstaaten erließen dann Rat und Parlament die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (RL 2010/64/EU). Die RL 2010/64/EU war der erste Rechtsakt, den die Union im Strafverfahrensrecht erließ. Das zeigt, welchen Stellenwert der Unionsgesetzgeber der Dolmetschung für die Qualität der Strafverfahren beimisst.

Die Erwägungsgründe der Richtlinie arbeiten die Bedeutung von Übersetzung und Dolmetschung heraus, indem sie auf die Unionsarbeiten seit dem Gipfel des Europäischen Rates von Tampere 1999 hinweisen und insbesondere an die Menschenrechtskonvention14 und die Grundrechtecharta der Europäischen Union anknüpfen. Der Richtlinientext an sich ist kurz; es lohnt sich, die vorangestellten Erwägungen zu lesen. Sie fassen die Fachdiskussion zum Gerichtsdolmetschen anfangs dieses Jahrhunderts zusammen.

Die Richtlinie verlangt von den Mitgliedstaaten, allen fremdsprachigen Beschuldigten und Verdächtigen während eines Strafverfahrens – und zwar nicht nur in der Hauptverhandlung, sondern auch für alle Zwischenverhandlungen, polizeilichen Vernehmungen und die Verständigung mit ihrem Rechtsbeistand – qualitativ ausreichende Dolmetschleistungen zur Verfügung zu stellen (Art. 2 der Richtlinie).

Außerdem wird ein Recht auf schriftliche Übersetzung aller zur Verteidigung wesentlichen Unterlagen geschaffen, zu denen durch ausdrückliche Erwähnung jedenfalls alle Anordnungen freiheitsbeschränkender Maßnahmen, Anklageschriften und Urteile zählen. Ein Verzicht auf dieses Recht ist nur unter besonderen Kautelen möglich (Art. 3 der Richtlinie).

Die Richtlinie geht auch auf die Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen (Art. 5) und die Weiterbildung der Justizbediensteten in Translationsfragen ein (Art. 6).[25]15

Die Richtlinie brachte die wichtige Klarstellung, dass es die Aufgabe des Staates ist zu prüfen, ob ein Bedarf nach Dolmetschung besteht; es ist also nicht so, dass der Verdächtige den Dolmetschbedarf anmelden muss. Gemäß Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie haben die Staaten der Europäischen Union ein Verfahren oder einen Mechanismus einzurichten, um festzustellen, ob verdächtige oder beschuldigte Personen die Verfahrenssprache verstehen oder ob sie eine – und damit ist wohl auch gemeint: welche – Dolmetschung benötigen.

Ein wichtiges Element der Richtlinie besteht in der Garantie der kostenfreien Dolmetschung im Verhältnis zwischen Beschuldigtem und seinem Rechtsbeistand. Die Richtlinie baut auf dem modernen Verständnis auf, dass der Staat fremdsprachigen Verdächtigen Dolmetschleistungen für den Kontakt mit der Rechtsvertretung kostenlos zur Verfügung stellen muss, und zwar nicht nur im Falle der Amts- oder Verfahrenshilfeverteidigung, sondern auch bei einem frei gewählten Rechtsanwalt. Erst ein solches Verständnis gewährleistet Fremdsprachigen den gleichen Zugang zum Recht wie den der Verfahrenssprache kundigen Personen. Ein faires Verfahren lässt sich ohne sichergestellte Kommunikation zwischen verdächtiger Person und ihrer Verteidigung auch im Vorfeld eines Gerichtstermins kaum herstellen.

Art. 2 Abs. 6 der Richtlinie ermöglicht ausdrücklich den Einsatz von Videodolmetschungen oder sonst technikgestützten Translationsleistungen: „Gegebenenfalls können Kommunikationstechnologien, wie etwa Videokonferenzen, Telefon oder Internet, verwendet werden, es sei denn, die persönliche Anwesenheit des Dolmetschers ist für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens erforderlich.“ Erwägungsgrund 28 führt dazu näher aus, dass sich die zuständigen Behörden der Instrumente bedienen können, die im Zusammenhang mit der europäischen E-Justiz entwickelt werden (zum Beispiel Informationen über Gerichte mit Videokonferenzanlagen oder Handbücher).[26]

Die lang diskutierte verpflichtende Audio- oder Videoaufzeichnung aller gedolmetschten Vernehmungen und Verhandlungen fand letztlich nicht Eingang in die Richtlinie. Ihre Einführung liegt somit im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten.16 Die Umsetzung der Richtlinie ins österreichische Bundesrecht erfolgte durch das Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2013; Näheres dazu bei den nationalen österreichischen Bestimmungen.

Da viele Mitgliedstaaten die Richtlinie mit Verzögerungen umsetzten, erstellte die Kommission den ihr aufgetragenen Bericht über die Wirkungen der Richtlinie erst 2018.17 Die Überprüfung durch die Kommission ergab, dass in mehreren Staaten Probleme mit der Umsetzung bestehen, insbesondere was die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand, die Übersetzung wesentlicher Unterlagen und die Kosten für Dolmetschleistungen und Übersetzungen betrifft. Die Kommission nimmt diesbezüglich Mahnungen und auch Vertragsverletzungsverfahren in Aussicht. Gleichzeitig kommt die Kommission zum Ergebnis, dass die Richtlinie jedenfalls bereits jetzt einen EU-Mehrwert erbracht hat, indem sie das Schutzniveau für an Strafverfahren beteiligte Bürgerinnen und Bürger angehoben hat, insbesondere in einigen Mitgliedstaaten, in denen das Recht auf Übersetzungen und Dolmetschleistungen zuvor nicht bestand. Die Kommission schlägt vor, die Richtlinie vorerst nicht zu überarbeiten, sondern ihre Anwendung in der Praxis zu verbessern.[27]

Bis zum Bericht der Kommission im Jahr 2018 war der Europäische Gerichtshof (EuGH) dreimal mit der Richtlinie befasst worden.18 In der Rechtssache Sleutjes, C-278/16, entschied der EuGH, dass „ein im nationalen Recht vorgesehener Strafbefehl zur Sanktionierung von minder schweren Straftaten, der von einem Richter nach einem vereinfachten, nicht kontradiktorischen Verfahren erlassen wird, eine ‚wesentliche Unterlage’ im Sinne des Abs. 1 dieses Artikels darstellt“, da „ein solcher Strafbefehl zugleich eine Anklageschrift und ein Urteil im Sinne des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 dar[stellt]“. Die verdächtige oder beschuldigte Person müsse daher eine schriftliche Übersetzung eines solchen Strafbefehls erhalten, um ihre Verteidigungsrechte wahrnehmen zu können und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

Die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren war jedoch nur die erste von insgesamt sechs Richtlinien, mit denen das Strafverfahrensrecht von der EU harmonisiert wurde. Dolmetschung und Übersetzung spielt dabei immer wieder eine Rolle.

2.4.2 Richtlinie 2012/29/EU