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Inhaltsverzeichnis































ANMERKUNG DER AUTORIN:

Die Charaktere und die Situationen, in die diese geraten, sind erfunden. Die Ruinen des Ludus Magnus, der als wichtigste Gladiatorenschule der damaligen Zeit angesehen wird, existieren heute noch. Auch das Restaurant, das einen Ausblick darauf bietet, gibt es tatsächlich. Allerdings habe ich mir die Freiheit genommen, den Grundriss des Ludus und seine Geschichte so zu verändern, dass sie zu meinem Roman passen.

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EINS

Als wir den Stadtrand von Rom erreichten, war ich zuerst enttäuscht.

Ich blinzelte in den Wind. Mein glattes Haar flatterte hinter mir her, und ich war ernüchtert, als ich über eine Landschaft segelte, die fast genauso aussah wie alle anderen zuvor.

Bodhi, mein Führer und Lehrmeister, mein Hund Buttercup und ich waren eine weite Strecke geflogen, um zu dieser alten Stadt zu gelangen, und obwohl Fliegen zweifellos unsere bevorzugte Art des Reisens war, ließ es sich nicht leugnen, dass die Szenerie uns nach einer Weile ein wenig langweilte. Sie verblasste zu einem sich ständig wiederholenden, verschwommenen Bild aus Wolken sowie natürlichen und von Menschenhand gestalteten Landschaften. Ich hatte mich daran gewöhnt, aber trotzdem hatte ich gehofft, dass Rom anders aussehen würde.

Bodhi warf mir einen Blick aus seinen grünen Augen zu, und als er mein enttäuschtes Gesicht bemerkte, grinste er. »Folg mir«, forderte er mich auf.

Er streckte seine Arme nach vorn, machte einen Purzelbaum und ließ sich dann im freien Fall absinken. Buttercup und ich taten es ihm nach. Und je schneller wir uns der Erde näherten, umso mehr erwachte die Landschaft unter uns zum Leben – sie erblühte in strahlenden Farben, und es wurden so viele herrliche Details sichtbar, dass ich unwillkürlich einen Freudenschrei ausstieß.

Rom war überhaupt nicht langweilig. Ganz im Gegenteil  – es war eine Stadt angefüllt mit Gegensätzen, wohin man auch schaute. Sie bestand aus einem Labyrinth aus kurvenreichen, viel befahrenen Straßen, die sich um alte, teils restaurierte, teils verfallene Gebäude wanden – und alle ragten über staubige Ruinen hinaus, die vor vielen, vielen Jahrhunderten erbaut worden waren. Andenken an eine längst vergangene Geschichte, deren Spuren sich weigerten, stillschweigend zu verschwinden.

Bodhi drosselte sein Tempo, und sein Haar flog ihm ins Gesicht, als er mit einem Kopfnicken auf die Ruine unter ihm deutete. »Da ist es. Was hältst du davon?«

Buttercup bellte aufgeregt und wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass er seitlich abdriftete. Ich starrte auf das riesige Amphitheater, bestaunte seine Größe und stellte fest, dass mich plötzlich Zweifel überfielen.

Ich meine, ja, ich hatte den großen Rat praktisch angefleht, mir eine Aufgabe als Seelenfängerin zuzuteilen, die mich noch mehr als bisher herausforderte. Schließlich wünschte ich mir nichts mehr, als mein Glühen zu verstärken und endlich dreizehn zu werden, und ich hatte mir irrigerweise eingebildet, dass ich das nur erreichen konnte, wenn ich mich in meinem Job hervortat. Aber je länger ich auf diesen massiven Steinbau mit seinen Bögen, Säulen und alten Mauern starrte, je mehr ich die Größe und die Ausmaße auf mich wirken ließ, umso mehr dachte ich daran, wofür er bekannt war: barbarische Grausamkeiten und Gemetzel, blutige Kämpfe um Leben oder Tod. Nun ja, da fragte ich mich unwillkürlich, ob ich nicht vielleicht ein wenig zu ehrgeizig gewesen war und mich damit übernommen hatte.

Ich schluckte heftig, wollte mir meinen plötzlichen Anflug von Feigheit aber auf keinen Fall anmerken lassen. »Wow, das ist, ähm … um einiges größer, als ich es mir vorgestellt hatte.«

Ich ließ mich weiter in der Luft treiben und war plötzlich gar nicht mehr so erpicht auf die Landung, doch Bodhi zerrte an meinem Ärmel und sorgte dafür, dass wir uns alle wieder in Bewegung setzten. Anstatt uns in die Mitte des Amphitheaters zu führen, landete er auf der Terrasse eines sehr schicken Restaurants, und die ganz in Weiß gehaltene Ausstattung war die perfekte Kulisse für wahrscheinlich einen der eindrucksvollsten Ausblicke auf der Erdebene.

Er ließ sich auf der grauen Eisenbrüstung nieder, ich setzte mich neben ihn und zog unbeholfen den sich sträubenden Buttercup auf meinen Schoß, bis seine Beine auf beiden Seiten herabhingen. »Haben wir etwa eine Reservierung zum Abendessen, von der ich nichts weiß?« Ich wusste, dass der Scherz nicht besonders gelungen war, aber ich konnte nicht anders. Immer, wenn ich nervös war, riss ich dumme Witze.

Bodhi ließ seinen Blick über das Restaurant schweifen. Auf der geräumigen Terrasse saßen vornehm gekleidete Gäste und genossen ihr Abendessen bei Kerzenschein und den Ausblick auf das Kolosseum, das im Sonnenuntergang in einem orange- und pinkfarbenen Glühen erstrahlte. Und alle waren sich zum Glück nicht bewusst, dass sich drei Geister neben ihnen befanden.

Er wandte sich mir zu, und seine Stimme nahm einen geschäftsmäßigen Ton an. »Also, es geht um Folgendes. Der Geist, mit dem du dich beschäftigen sollst, heißt Theocoles. Einen Nachnamen hat er nicht – zumindest keinen, den ich kenne. Und tu dir selbst einen Gefallen und sprich ihn mit seinem vollen Namen an. Keine Abkürzungen wie Theo, T oder so.«

»Ich habe es kapiert – Theocoles«, blaffte ich ihn an. Ich hielt das zwar für etwas übertrieben, aber eigentlich spielte das keine Rolle. Sein Name war im Augenblick meine geringste Sorge. »Was noch?« Ich starrte konzentriert nach vorne und hoffte, dass ich selbstbewusst wirkte, obwohl ich meine Finger in Buttercups gelbes Fell krallte.

Bodhi blinzelte durch seinen langen, dichten Wimpernkranz, und seine Stimme klang leise und tief. »Wie der große Rat sagt, spukt er schon seit einer sehr langen Zeit im Kolosseum.«

Ich hob fragend die Augenbrauen – ein paar mehr Details brauchte ich noch. Er zuckte die Schultern, zog einen zerkauten grünen Strohhalm aus seiner Tasche und schob ihn sich zwischen die Zähne. Dann begann er, darauf herumzubeißen wie ein Hund auf einem Knochen. »Dieser Kerl ist sehr hartnäckig«, fuhr er fort. »Eine wirklich verlorene Seele. Er lebt schon so lange vollkommen abgeschlossen in seiner eigenen Welt, dass er keine Vorstellung mehr von irgendwelchen Dingen außerhalb hat. Er hat auch keine Ahnung, wie viele Jahre seit seinem Tod bereits vergangen sind – es sind übrigens mehrere tausend.«

Ich nickte, kraulte Buttercup noch einmal hinter dem Ohr und erlaubte ihm dann, von meinem Schoß zu springen, um alle Gäste anzuschnüffeln und an den Tischen ein paar Reste zu erbetteln – er verstand ja nicht, dass ihn niemand sehen konnte.

»Hört sich an wie ein ganz normaler Auftrag«, erwiderte ich etwas lässiger, als ich mich fühlte. Das Kolosseum war mit Sicherheit einschüchternd, aber was Bodhi mir bisher erzählt hatte, klang wirklich nicht nach einer großen Sache. »Fast alle Geister, mit denen ich mich bisher beschäftigt habe, waren hartnäckig«, fuhr ich fort. »Und trotzdem habe ich es immer geschafft, sie zu erreichen und sie dazu zu bewegen, die Brücke zu überqueren und weiterzuziehen, also bin ich ziemlich sicher, dass ich auch diesen Theocoles-Typen dazu bringen kann. Ist doch kinderleicht.« Ich nickte zur Bekräftigung, bemerkte aber dennoch, wie Bodhi leicht zusammenzuckte.

»Da gibt es noch etwas, was du wissen solltest«, erklärte er leise. »Theocoles war in seiner Zeit ein meisterhafter Gladiator. Gefürchtet von allen und von niemandem geschlagen.«

»Hast du Gladiator gesagt?« Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Das musste ich wohl missverstanden haben.

Bodhi nickte. »Sie nannten ihn die Säule der Verdammnis« , fügte er hinzu.

Ich zwinkerte und versuchte, ein Lachen zu unterdrücken  – ohne Erfolg. Mir war klar, dass der Name Furcht erregend klingen sollte, aber mich erinnerte er an einen dummen Cartoon.

Mein Lachen erstarb sofort, als Bodhi mir einen betroffenen Blick zuwarf. »Er war ein Meistergladiator. Ein echter primus palus. Übersetzt bedeutet das, dass er der sogenannte erste Pfahl war, also an der Spitze stand. Er war weit und breit angesehen als der härteste, erschreckendste, stärkste und furchtloseste Kämpfer dieser Truppe. Da gibt es nichts zu lachen, Riley. Ich befürchte, dass du eine Menge Arbeit vor dir hast. Aber du hast ja schließlich um eine Herausforderung gebeten.«

Ich ließ meine Schultern sinken und vergrub mein Gesicht in den Händen. Mein Anflug von Selbstvertrauen war wie weggeblasen.

Ich meine, ernsthaft, ein Gladiator? Das war die Herausforderung, die der große Rat für mich für geeignet hielt?

Das musste ein Trick sein oder vielleicht ein Scherz.

Möglicherweise wollte der große Rat es mir damit heimzahlen, dass ich ständig ihre Regeln missachtet und meine eigenen aufgestellt hatte.

Wie sollte ich, eine dürre, magere Zwölfjährige mit leicht knubbeliger Nase und flacher Brust, es mit einem großen, starken und wütenden Koloss aufnehmen, der den größten Teil seines Lebens damit verbracht hatte, seine Wettstreiter in blutige Stücke zu schlagen?

Nur weil ich tot war, und er mich daher nicht verletzen konnte, bedeutete das nicht, dass ich nicht vor Angst zitterte. Denn genau das tat ich. Und wie. Und ich scheue mich nicht davor, es zuzugeben.

»Ich weiß, dass es eine große Herausforderung für eine relativ neue Seelenfängerin wie dich darstellt«, meinte Bodhi. »Aber mach dir keine Sorgen – der große Rat vergibt nur Aufgaben, die zu bewältigen sind. Die Tatsache, dass du jetzt hier bist, zeigt, dass sie an dich glauben, also ist es an der Zeit, dass du anfängst, dir selbst zu vertrauen. Du musst es zumindest versuchen, Riley. Was hat Mahatma Gandhi einst gesagt?« Er sah mich an und hielt inne, so als würde er tatsächlich eine Antwort von mir erwarten. »Voller Einsatz bedeutet vollkommener Sieg«, sagte er schließlich und schwieg dann eine Weile, um die Worte wirken zu lassen. »Du kannst nur dein Bestes geben. Das ist alles, was man von dir verlangen kann.«

Ich seufzte und schaute zur Seite. Eigentlich hatte ich selten damit zu kämpfen, an mich selbst zu glauben – im Gegenteil, ich war oft auf gefährliche Weise zu selbstsicher. Allerdings war die Situation, mit der ich hier konfrontiert wurde, nicht im Geringsten normal oder üblich. Und obwohl ich wusste, dass ich darum gebeten, ja, beinahe gebettelt hatte, nahm ich es dem großen Rat doch ein kleines bisschen übel, dass er meinem Drängen nachgegeben hatte.

»Und was ist mit all den anderen Seelenfängern?«, wollte ich wissen. »Mit denjenigen, die vor mir hierher geschickt wurden und versagt haben? Ich nehme an, der große Rat hat auch an sie geglaubt, oder?«

Bodhi kaute auf seinem Strohhalm herum und fuhr sich nervös mit der Hand durch das Haar. »Wie sich herausstellte, ist die Sache nicht gut für sie ausgegangen …«

Ich blinzelte und wartete auf mehr Informationen.

»Sie sind verloren gegangen. Er hat sie so tief in seine Welt hineingezogen, dass sie …« Er hielt inne, kratzte sich am Kinn und räusperte sich ausgiebig, bevor er weitersprach. »Na ja, sagen wir einfach, sie sind nicht mehr zurückgekehrt.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an und brachte kein Wort hervor.

Ich war erledigt. Aus dieser Sache kam ich nicht mehr heraus. Aber zumindest würde ich nicht allein gehen müssen. Schließlich gab es noch Bodhi und Buttercup, die mir den Rücken stärken würden.

»Du kannst dir sicher sein, dass Buttercup und ich immer hier sein werden, falls du uns brauchen solltest. Wir werden nicht ohne dich von hier weggehen, das verspreche ich dir.«

Ich sah ihn an, mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, und meine Stimme verriet, wie hysterisch ich war. »Du erwartest von mir, dass ich allein dort hineingehe?« Ich schüttelte den Kopf und konnte es nicht fassen, wie schnell die Dinge, die schon sehr, sehr schlecht gestanden hatten, auf unfassbare Weise noch schlimmer wurden. »Ich dachte, in deinem Job als mein Führer sei es deine Pflicht, mich zu führen. Und was ist mit Buttercup? Willst du mir allen Ernstes sagen, dass ich nicht einmal meinen Hund zu meinem Schutz mitnehmen darf?«

Verzweifelt ließ ich meinen Blick über das Restaurant schweifen, bis ich meinen süßen Labrador entdeckte, der sich unter einen Tisch gehockt hatte und an einem goldfarbenen Stöckelschuh einer Dame kaute, die ihn von ihrem Fuß gestreift hatte. Das erinnerte mich daran, dass er sich in der Vergangenheit nie als große Stütze erwiesen hatte. Wenn es hart auf hart kam, verhielt er sich eigentlich eher wie ein Angsthase als wie ein bedrohlicher Wachhund. Aber er war liebevoll und loyal (na ja, meistens), und auf jeden Fall war es schöner, ihn dabeizuhaben, als allein gehen zu müssen.

Bodhi sah mich an, und in seiner Stimme schwang Mitgefühl, als er sagte: »Es tut mir leid, Riley, aber der große Rat hat sich ganz klar dafür ausgesprochen, dass es sich hier um deinen Job handelt – um einen Seelenfang, den du nur auf dich gestellt durchführen sollst. Sie haben mich gebeten, mich herauszuhalten, dich nur dabei zu überwachen, dich aber ganz allein arbeiten zu lassen. Aber wir werden versuchen, dir eine Rettungsleine zuzuwerfen, falls du sie brauchen solltest. Oder sollte ich sagen, eine Seelenleine? Ich habe mir überlegt, ob ich dir Buttercup mitgeben soll, wenn auch nur zur Gesellschaft, aber in dieser Arena sind Tausende wilde Tiere gestorben, und einige lauern dort immer noch als Geister. Wenn Buttercup von einem Löwen oder einem Bären gejagt würde, wäre das für ihn sicher entsetzlich – er begreift ja nicht wirklich, dass er bereits tot ist.«

Ich blinzelte in das schwindende Tageslicht und betrachtete den lang gezogenen, rechtwinkligen Platz mit den Reihen von schmalen, zerbröckelnden Bauten ohne Dach, die sich unter uns erstreckten – noch so eine alte Ruine. In Rom gab es davon anscheinend jede Menge.

»Es wird bald dunkel«, sagte Bodhi vorsichtig drängend. »Je eher du anfängst, umso besser. Und vielleicht solltest du gleich hier beginnen.« Er deutete auf die Ruine direkt unter uns. »Das ist der Ludus Magnus, einer der größten und wichtigsten Gladiatorenschulen in der Geschichte Roms. Das könnte ein guter Ort sein, um den Anfang zu machen, um dich zurechtzufinden und ein Gefühl für die Umgebung zu bekommen. Du weißt schon, bevor du dann in die Arena gehst.«

Die Arena.

Ich schluckte, nickte und versuchte, nicht an meine Vorgänger zu denken – an die Seelenfänger, die es nicht geschafft hatten, zurückzukehren. Ich meine, wenn der große Rat glaubte, dass ich das schaffen würde … Na ja, wer weiß? Vielleicht gelang es mir. Vielleicht wussten sie ja etwas, was ich nicht wusste.

Also schob ich mir meinen Pony aus der Stirn, warf einen letzten Blick auf meinen Hund, der immer noch auf dem goldfarbenen Stöckelschuh herumkaute, und stieß mich dann von der Brüstung ab. Ich hoffte mehr als alles andere, dass der große Rat Recht behielt und ich tatsächlich zu mehr fähig war, als ich glaubte.

Doch schon auf meinem Weg nach unten wettete ich dagegen.

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ZWEI

Als ich im Ludus landete, nahm ich als Erstes den Lärm wahr. Es war laut hier. Wahnsinnig, nervtötend, ohrenbetäubend laut. Ich konnte nicht feststellen, welcher Welt dieser Krach zuzuordnen war – der irdischen, der überirdischen oder beiden.

Und dann bemerkte ich den Gestank. Nur weil ich tot war – nur weil ich nicht mehr atmete –, hieß das nicht, dass ich nichts mehr riechen konnte. Und dieser spezielle Gestank war grässlich – unerträglich, abstoßend und auf die schlimmste Art und Weise Ekel erregend. So, als hätten sich die übelsten Gerüche des Universums vermengt und wären genau an die Stelle geströmt, an der ich stand.

Ich ging weiter und hoffte, ein ruhiges Plätzchen zu finden, an dem es ein wenig besser roch. Meine Schuhe versanken teilweise im Schlamm oder rutschten über große Grasflecken, die noch nass vom Morgentau waren. Ich versuchte, einen besseren Überblick über die Ruine zu bekommen, die ich vorher von oben betrachtet hatte, aber ich sah nur durchweichte Erde, zerbröckelte Mauern und … tja … das war’s. Keine Menschen, keine Geister, keine wilden Tiere – weder tot noch lebendig – und kein erkennbarer Grund für diesen schrecklichen, fauligen Gestank.

Ich schaute zurück zu Bodhi und rechnete beinahe damit, ihn und Buttercup an einem Tisch sitzen zu sehen, wo sie ein ausgesuchtes Fünf-Gänge-Menü genossen und mich bereits total vergessen hatten. Erleichtert sah ich, dass Bodhi immer noch auf der Brüstung balancierte, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Er winkte mir lächelnd zu und feuerte mich mit einer telepathischen Nachricht an, die rasch meine Gedanken erreichte.

Mach dir keine Sorgen. Der beruhigende Klang seiner Stimme berührte mich tief in meinem Inneren. Du schaffst das. Stell dir selbst die folgende Frage: Was ist es, was alle Geister gemein haben?

Ich hielt inne, steckte meine Daumen durch die Laschen am Bund meiner Jeans und dachte eine Weile angestrengt nach. Mit einem Lächeln antwortete ich ihm: Einen grauenhaften Modegeschmack? Ich dachte dabei an die furchtbaren Klamotten, die einige Geister trugen, obwohl sie sich problemlos jederzeit etwas anderes manifestieren könnten.

Bodhi lachte. Ich hatte gehofft, dass er so reagieren würde. Das nahm den Druck von mir und half mir dabei, mich zu entspannen. Ja, das mag stimmen, erwiderte er. Aber was beweist dieser mangelnde Sinn für Mode?

Ich brauchte nur eine knappe Sekunde, und ich befürchtete, dass meine Antwort in Bodhis Kopf wie ein Aufschrei ankam: Es zeigt, dass sie feststecken! Es beweist, dass sie in der Zeit festhängen, in der sie gestorben sind, und sich weigern, weiterzugehen!

Genau ☺, bestätigte er und fügte einen Smiley hinzu  – ein telepathisches Emoticon, das mir ein Lächeln entlockte. Sie stecken fest, und Theocoles ist keine Ausnahme. Er nimmt den Ludus nicht auf die gleiche Weise wahr wie du. Bisher hast du nur an der Oberfläche gekratzt. Du musst viel weiter in die Tiefe gehen, um zu sehen, was er sieht. Du musst alles so wahrnehmen, wie es früher einmal war. Leider sind meine Ratschläge damit erschöpft. Es ist mir nicht erlaubt, dir zu verraten, wie du das anstellen kannst.

Ich runzelte die Stirn und fragte mich, ob der große Rat ihm untersagt hatte, mir zu helfen, oder ob das auf seinem eigenen Mist gewachsen war. Bodhi hielt nicht viel davon, mir die Tricks für den Seelenfang zu verraten oder mir andere hilfreiche Hinweise oder Ratschläge zu geben, die mir tatsächlich bei meinem Job helfen könnten. Alles, was ich bisher gelernt hatte, war auf praktische Erfahrung zurückzuführen. Ich war auf mich allein gestellt gewesen, hatte einiges ausprobiert und dafür Lehrgeld zahlen müssen. Er hatte mir zwar immer noch nichts gesagt, was ich nicht bereits wüsste, aber er hatte das Wissen, das ich mir angeeignet hatte, untermauert – und vielleicht war das genau das, was ein guter Führer tun musste.

Ich erstarrte, als ich mir diesen Gedanken noch einmal durch den Kopf gehen ließ.

Ich hatte Bodhi als guten Führer bezeichnet.

Eigentlich hatte ich seit dem Moment, in dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, darauf gehofft, dass er durch einen anderen Lehrmeister ersetzt würde. Wir schienen uns nie einig zu sein und uns ständig nur zu streiten – nur wenn wir bereits knietief in Problemen steckten und keine andere Möglichkeit mehr sahen, rauften wir uns zusammen und zogen gemeinsam an einem Strang.

Deshalb konnte ich meinen plötzlichen Gesinnungswandel kaum fassen. Woher kam das? Und wann hatte ich aufgehört, ihn als meinen Feind Nummer eins zu betrachten?

Und dann fiel es mir ein. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich ihn mit seiner neuen Freundin Jasmine gesehen hatte. Und ich dachte daran, wie merkwürdig ich mich gefühlt hatte, als ich ihn dabei beobachtete, wie er ihr aus einem Gedichtband vorlas, wie er einen Moment lang innehielt, um eine Blume zu manifestieren – eine Jasminblüte für Jasmine –, und sie ihr sanft in einen ihrer Zöpfe steckte.

Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerung daran loszuwerden. Ich musste mit einem großen, bösen Geist fertigwerden, einem Gladiator. Und meine Zeit damit zu verschwenden, über meine Beziehung zu Bodhi nachzudenken, würde daran nichts ändern. Also konzentrierte ich mich wieder auf den Ludus. Ich wusste jetzt, dass ich einen Weg finden musste, ihn auf die gleiche Art zu sehen, wie Theocoles es tat, wenn ich ihn finden wollte. Leider hatte ich keine Ahnung, wie diese alten Mauern zu seiner Zeit ausgesehen haben mochten. Ich war schon lange gestorben, bevor in meinem Geschichtsunterricht das Römische Reich auf dem Stundenplan gestanden hatte.

Ich ging weiter und versuchte, die Umgebung so zu sehen, wie sie einmal gewesen war. Ich manifestierte ein Dach und ersetzte die Unkrautfelder durch trockene Erde – aber das war das Einzige, was mir dazu einfiel. Ich meine, ich muss leider darauf hinweisen, dass ich im 21. Jahrhundert gestorben bin – ich war ein Kind des neuen Milleniums und eindeutig ein Mitglied der Generation, die sich vor allem in Einkaufszentren auskennt. Eine alte Gladiatorenschule nachzubilden war eine Nummer zu groß für mich.

Ich biss die Zähne zusammen, schob mir meinen fransigen Pony aus dem Gesicht und versuchte es mit aller Kraft noch einmal. Als ich eine kleine Ansammlung von Steinen entdeckte, die im Mondlicht wie Knochen schimmerten, bückte ich mich, um sie mir genauer anzuschauen. Ich ließ meine Finger über die tiefen Sprünge und Risse gleiten, schloss meine Augen und dachte: Was habe ich übersehen? Bitte zeigt es mir – zeigt mir alles, was es hier zu sehen gibt! Und als ich meine Augen wieder öffnete und mich umsah, schnappte ich überrascht nach Luft.

Das Universum hatte mir meinen Wunsch erfüllt.

Aber anstatt Theocoles von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, sah ich mich von Hunderten wütenden, rasenden Gladiatorengeistern umgeben.