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© 2020 Conrad Thiess (Hrsg. u. Bearb.)

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 978-3-75191-049-1

Inhaltsverzeichnis

Die große Pest in London.

EINE der überraschendsten Tatsachen, welche uns die Geschichte bietet, ist die in unregelmäßigen Zwischenräumen sich zeigende Wiederkehr ansteckender Krankheiten von außergewöhnlichem Charakter, welche unerwartet an einzelnen Orten ausbrachen und sich bisweilen über gewisse abgegrenzte Distrikte, bisweilen über ganze Länder, bisweilen über die ganze zivilisierte Welt, ja es möchte scheinen bisweilen über die ganze Oberfläche unseres Planeten verbreiteten, überall der Kraft und Geschicklichkeit des Menschen trotzten und Myriaden zu Grabe gebracht haben. Diese schrecklichen Heimsuchungen haben die Menschen mit dem zugleich unbestimmten und passenden Namen Pestilenz oder Pest belegt und bedienen sich dieses Ausdruckes besonders in Fällen, wo menschliche Wesen das Opfer werden, wogegen man ähnliche Fälle von ungewöhnlicher Sterblichkeit unter den niedrigeren Geschöpfen mit dem Namen Seuche bezeichnet.

Von einer allgemeinen Pestilenz ist das bekannteste Beispiel neuerer Zeit die berühmte Pest, oder der sogenannte Schwarze Tod in den Jahren 1347-52; derselbe nahm in Asien seinen Anfang, verbreitete sich westlich nach Europa und wütete hier viele Monate hindurch auf furchtbare Weise. Den ausführlichsten Bericht, welchen wir über diese Pest besitzen, gibt der berühmte italienische Schriftsteller Boccaccio in der Einleitung zu seinem Dekameron, wo wir eine lebendige Schilderung von deren Verheerungen in der Stadt Florenz finden. Von allen anderen Erzählungen einer bekannten Pest sind die beiden berühmtesten diejenigen, welche uns Thukydides von der Pest zu Athen im Jahre 430 vor Christi Geburt gibt, und diejenige der großen Pest von London in den Jahren 1664-65 durch Daniel Defoe. Hinsichtlich der Wahrheit und Genauigkeit kann keine andere Schilderung ähnlicher Art mit diesen beiden Berichten verglichen werden, die, obwohl sie in einem Zwischenraum von 2.000 Jahren, die eine von einem alten Griechen, die andere von einem Engländer unter der Regierung der Königin Anna geschrieben wurden, sich doch in vielen Punkten gleichen. Indessen besteht zwischen diesen beiden Berichten der Unterschied, daß, während Thukydides Augen- und Ohrenzeuge von dem war, was es schreibt, und selbst an der Pest darniederlag, Defoe den seinigen 50 Jahre nach dem Unglück verfaßte, welches er schildert, und noch ein Kind zu der Zeit war, wo die Pest wütete. Doch geht aus allem augenscheinlich hervor, daß Defoe sich bemühte, seinen Bericht dadurch zu einem authentischen zu machen, daß er Anekdoten und möglichst genaue Einzelheiten von Bekannten sammelte, welche die Pest überlebt hatten, sowie alle öffentlichen und Kirchspielberichte und gedruckte Flugschriften durchging, welche von Ärzten und anderen über das Pestjahr geschrieben worden waren. Wir können somit seine Beschreibung, was sie auch ausspricht, mit vollkommenem Vertrauen als diejenige eines Augenzeugen betrachten, der aus eigener Erinnerung schreibt. In der folgenden Abhandlung bieten wir daher unseren Lesern einen Auszug aus Defoes Journal des Pestjahrs zu London; wir halten das ganze Wesen dieser unnachahmlichen Schilderung fest und verweben im Verlauf unserer Beschreibung damit nur weitere Details, welche wir anderen Quellen entnommen haben.

Ausbruch der Pest in London.

ZU Anfang des 17. Jahrhunderts wurde London zu wiederholtenmalen, wenn nicht beinahe jährlich von der Pest heimgesucht, wobei die im allgemeinen engen Straßen und der gänzliche Mangel geeigneter Anordnungen zu Erhaltung der Gesundheit stets mehr oder weniger mitwirkten. So gewöhnlich diese Heimsuchungen waren, brachten sie doch immer einen gewissen Grad von Unruhe hervor; und als man daher im Monat September 1664 erfuhr, daß die Pest sich in der Hauptstadt gezeigt habe, war eine gewisse Aufregung in der öffentlichen Meinung nicht zu verkennen. Gleichwohl scheint wenig zu Abwendung des ansteckenden Übels getan worden zu sein, und man kann sagen, daß bis zu dem nächsten Frühjahr keine entschiedenen Mittel zu ihrer Unterdrückung ergriffen waren.

Im März 1665 nahm endlich der Stand der Dinge eine beunruhigendere Wendung; es war außer Zweifel, daß in St. Giles und in den umliegenden Kirchspielen mehrere Personen an der Pest gestorben waren. Im Mai wurde die Witterung warm und verschlimmerte so das Übel; und „im Juni“, fährt Defoe fort, „nahm die Ansteckung auf eine fürchterliche Weise überhand. Ich wohnte außerhalb Aldgate, etwa in der Mitte zwischen Oldgate Church und Whitechapel Bars, auf der linken oder nördlichen Seite der Straße, und da die Krankheit diesen Stadtteil noch nicht erreicht hatte, so blieb unsere Nachbarschaft fortwährend ruhig. Am anderen Ende der Stadt war dagegen die Bestürzung sehr groß; und der reichere Teil der Bevölkerung, besonders der Adel und die Vornehmen, aus dem westlichen Teil der City drängte mit Familie und Dienerschaft auf eine ungewöhnliche Weise aus der Stadt; besonders auffallend sah man dies in Whitechapel, das heißt in der breiten Straße, in welcher ich wohnte. In der Tat sah man nichts als Wagen und Karren mit Hausgerät, Frauen, Dienerschaft, Kindern usw., Kutschen mit Leuten aus höheren Ständen und Reiter, welche sie begleiteten; alles eilte fort. Dieser Zug dauerte mehrere Wochen, und zwar um so anhaltender, da das Gerücht ging, es werde von der Regierung ein Befehl erlassen werden, nach welchem Schlagbäume und Barrieren auf der Landstraße angebracht werden, um das Wegziehen der Leute zu verhindern, sowie daß die Städte an der Landstraße den Durchzug der aus London Kommenden nicht dulden wollten, aus Furcht, dieselben möchten die Ansteckung mitbringen, obwohl diese Gerüchte, besonders im Anfang nur in der Einbildung ihren Grund hatten.“

Diese Berichte Defoes von der schnellen Verbreitung der Pest und der dadurch veranlaßten Beunruhigung werden von anderen Berichten bestätigt. So erfahren wir, daß am 13. Mai zu Whitehall ein Geheimrat wegen der Ansteckung gehalten und eine Versammlung der Lords bestimmt wurde, um die Mittel zu besprechen, welche deren weiterem Fortschreiten Einhalt tun sollten. Unter den Auspizien dieser Versammlung gab das Kollegium der Ärzte eine kleine Flugschrift aus, welche Anweisungen zu Heilung der Pest, sowie Mittel enthielt, um sich gegen die Ansteckung zu schützen. Einer der Artikel dieses kostbaren medizinischen Gesetzbuches ist amüsant. Er lautet, wie folgt: „Man reiße die Federn aus den Schwänzen lebendiger Hähne, Hennen, Tauben oder Küken, nehme sie an dem Schnabel, halte sie so fest auf die Beule oder Geschwulst und lasse sie dort so lange, bis sie sterben und dadurch das Gift ausziehen. Es ist auch gut, wenn man ein Schröpfglas oder glühende Asche auf einem Teller anwendet, unter welche letztere man eine Hand voll Sauerampfer mischt.“

Ein Auszug aus Pepys’ Tagebuch, das eines Sattlers, welches Defoe vorzugsweise benützte, wird einen Begriff von der Aufregung geben, welche zu der Zeit in London herrschte, als die Pest zu wüten anfing: „Der 7. Juni war der heißeste Tag, den ich je erlebte. An diesem Tag sah ich ganz gegen meinen Willen in Drury Lane zwei oder drei Häuser mit roten Kreuzen über den Türen und der Aufschrift: Gott sei uns gnädig!; ein trauriger Anblick für mich.“ Am 17. desselben Monats schreibt Pepys weiter: „Diesen Nachmittag fuhr ich in einer Mietkutsche aus dem Haus des Lord Schatzmeisters Holborn hinab und sah, wie der Kutscher immer langsamer fuhr, bis er endlich anhielt, herabstieg, jedoch nur mit Mühe stehen konnte und mir sagte, er fühle sich plötzlich sehr krank und beinahe blind; er könne nicht sehen; ich stieg aus und setzte mich mit bekümmertem Herzen in eine andere Kutsche, sowohl wegen meiner selbst, wie auch wegen des armen Mannes, der von der Pest befallen schien.“

Wir nehmen Defoes, oder vielmehr Pepys’ Bericht wieder auf: „Ich fing jetzt an“, sagt er, „ernstlich über meinen Fall, sowie darüber nachzudenken, was ich tun, das heißt, ob ich in London bleiben oder mein Haus abschließen und fliehen solle, wie es viele meiner Nachbarn getan hatten. Nach langem, ängstlichen Überlegen, wobei ich mich bald für die eine, bald für die andere Handlungsweise entschied, kam ich zu dem Schluß, daß es im ganzen meine Pflicht und mir bei meinem Gewerbe als Sattler nützlich sei, in der Stadt zu bleiben und mich ganz auf die Güte und den Schutz des Allmächtigen zu verlassen, obwohl ich ein unverheirateter Mann war und für Haus und Laden, die mit Waren angefüllt waren, zu sorgen hatte. Ich hatte indessen einen älteren Bruder, welcher verheiratet war und mit Frau und Kindern die Stadt verließ. Im Monat Juli ging ich, während unser Stadtteil in Vergleich mit dem westlichen verschont schien, gewöhnlich über die Straßen, wie es mein Geschäft erforderte, und kam in der Regel einmal täglich oder in zwei Tagen in die City und nach dem Haus meines Bruders, dessen Beaufsichtigung er mir übergeben hatte. Allein auch die City wurde von der Krankheit heimgesucht und während des ganzen Monats Juli flohen die Leute. Im August flüchteten sie sich in noch weit größerer Anzahl, so daß mir der Gedanke kam, außer obrigkeitlichen Personen und Dienern werde niemand in der City bleiben.“

„Meine Geschäfte führten mich bisweilen nach dem anderen Ende der Stadt, selbst zu einer Zeit, wo die Krankheit hauptsächlich dort ihren Sitz hatte; und da, wie jedermann, so auch mir die Sache neu war, so sah man mit Überraschung die sonst so gedrängt vollen Straßen jetzt ganz leer. Als ich eines Tages in Geschäften in diesem Stadtteil war, so beobachtete ich aus Neugierde außergewöhnliche Dinge und machte in der Tat einen weiten Weg, wo ich nichts zu tun hatte; ich ging Holborn hinauf, und es war die Straße hier voll von Menschen, allein alle gingen nicht zu beiden Seiten, sondern in der Mitte der großen Straße, weil sie, wie ich vermute, mit niemandem, der aus den Häusern kam, zusammentreffen und ansteckenden Ausdünstungen ausweichen wollten. Die Rechtskollegien waren alle verschlossen, und man sah nicht sehr viele Advokaten in dem Temple, Lincoln’s Inn, oder Gray’s Inn. Ganze Häuserreihen waren an manchen Orten geschlossen; die Bewohner hatten sich geflüchtet, und nur einige Wächter waren zurückgeblieben.“

„Man darf hier nicht zu bemerken vergessen, daß die City und die Vorstädte zur Zeit dieser Krankheit außerordentlich bevölkert waren, zu der Zeit nämlich, wo sich dieselbe zu zeigen anfing. London zählte nach einer angestellten Berechnung damals über 100.000 Menschen mehr als je zuvor; die Freude über die Restauration1 hatte eine große Menge von Familien dahin gebracht.“

„Die Befürchtungen der Leute wurden durch die irrigen Ansichten jener Zeit außerordentlich vergrößert, wo nach meiner Ansicht, aus welchem Grund kann ich mir nicht denken, die Menschen mehr an Prophezeiungen und astrologische Beschwörungen, Träume und Weibermärchen glaubten, als dies je früher oder später der Fall war. Die Leute sahen Lily’s Almanach und andere derartige aufregende Werke, welche beinahe alle den Untergang der Stadt prophezeiten. Viele, welche aus dieser oder einer anderen Ursache wahnsinnig geworden waren, rannten in den Straßen auf und ab und weissagten alle Arten von Greueln. Das Wahrsagergewerbe wurde so offen und so allgemein betrieben, daß Aushängeschilde und Aufschriften über den Türen etwas ganz Gewöhnliches waren: Hier wohnt ein Wahrsager, Hier wohnt ein Astrologe, usw. Gewiß ist, daß eine unzählige Menge aus der dienenden Klasse sich jeden Tag an deren Türen versammelte; und wenn sich nur ein Mann mit wichtiger Miene, in einer Samtjacke, mit einer Binde und schwarzem Mantel, wie sich diese Marktschreier gewöhnlich trugen, in den Straßen sehen ließ, so liefen ihm die Leute in Menge nach und stellten Fragen an ihn, während er weiter ging.“

„So fröhlich und üppig es damals an dem Hofe zuging, so fing man doch auch dort an, gerechte Besorgnisse wegen der allgemeinen Gefahr zu hegen; alle Schauspiele und Unterhaltungen, welche nach Sitte des französischen Hofes eingeführt worden waren und bei uns sehr um sich griffen, wurden verboten; Spieltische, öffentliche Tanzböden und Konzerthäuser, deren Zahl sehr zunahm und die Sitten des Volkes zu verderben anfingen, wurden geschlossen und eingestellt; Hanswurste, Marionettenspieler, Seiltänzer und derartige Lustbarkeiten schlossen ihre Buden, da sie in der Tat ihre Rechnung nicht fanden, denn in dem Kopf der Leute gingen ganz andere Dinge herum, und eine Art von Kummer und Schrecken über diese Vorgänge hatte sich selbst auf den Gesichtern der niederen Klassen gelagert; sie hatten den Tod vor Augen; jedermann dachte an sein Grab und nicht an Lustigkeiten und Zerstreuungen.“