Ann Cotten
Lyophilia
Suhrkamp
ISHIBASHI
MIT DEM KLEIDERBÜGEL IM ABFLUSS DER WELT Mein WIKILEAKS-Tagebuch
20. März, 2017 – ich fange endlich an.
XIN
NEPOMUK
PROTEUS oder DIE HÄUSER DENEN, DIE DRIN WOHNEN
XIN
TULLNER CREEKS
PUTZTRUPPWEISHEITEN
Aus der Kladde von Claudia
Leidige Schlaufen
Die Aliens im Marmeladeglas
Der Staubsauger
Sprüche meines Mentors, des Vorarbeiters Fritz
Weitere Anmerkungen zum Sägen
Ökonomische Überlegungen
Lingua Franca
Wegen der Bücher
IN EINER KNEIPE IM ALL
DAS GEISTERSCHIFF
ANEKDOTEN VOM PLANETEN AMORE (KAFUN)
1
2
3
4 Vague Transit
5 Mouyou Master
6 Die Vorgeschichte der Projektgruppe Bioadapter
7 Eine Antwort auf diese Fragen von Matsushita
8 Silikon Shakti geht auf diese Antworten nicht direkt ein, sondern setzt ihre Geschichte fort
9 Elektra / Wet Mix
10 Matsushita Notiz
11
12 Also.
13 Horatio, getrieben von Räsonnements, wie von Wind über Wasser – woher kommen sie?
14
15 Immer noch tollen Emile
16 Matsushita Notiz
17
18 Matsushita Notiz
19
20 Matsushita Notiz
21
22
23 Horatios Räsonnements
24
25 Kalter Kaffee
26
27 Emiles Erzählung
28 Die Erzählung der Spionin
29 Die Geschichte von Claudia
30
31 eankke
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EINE ZEITREISE
RIDING PUBLIC TRANSPORT
Die Sprache der Außerirdischen Intelligenz, wie wir sie nennen würden, ist voll von Wortspielen, wie wir sie nennen würden. Die Auswirkungen sind, wie wir meinen würden, fatal, es scheint den Außerirdischen aber nichts auszumachen, ja, sie bestehen aus dieser Fatalität, die für sie gleichbedeutend mit Schicksal ist, oder homonym, was nicht dasselbe ist, aber mit demselben Zeichen bedeutet wird und daher andauernder Auseinandersetzung bedarf.
Als sie beschlossen, die Erde zu kolonialisieren, also sozusagen uns als Kommunikationsform zu benutzen (so wie wir, sagen wir, von der »Sprache der Blumen« sprechen? Nein, eher sind wir, ist das, was wir »Sinn« nennen, ihre Tinte, ihre Langue oder ihr Computer), begannen wir zu sprechen. Was auch immer wir vorher für Wahrnehmungen gehabt hatten, ihr Geflecht begann sich, im Spiegel des Seins der Außerirdischen, zu einem manifesten System auszuformen, in anderen Worten, sich zu üben wie eine Sprache, ALS eine Sprache.
Die Außerirdischen also, die uns gegenüber die Erscheinungsform 宇宙人 gewählt haben, erzählen sich verschiedene Anekdoten über die Frühzeit der Kolonisation. Eine davon geht so:
Wie soll man das erzählen?1
Als es hieß, dass wir in Form von »Ishi« auf die Welt kommen, haben es manche als »Stein« ausgelegt und drückten sich in Form von Gesteinsbildungen aus. Das waren eher die langfristigen Denkernnnie. Die anderen bevorzugten die Auslegung als »Wille« und haben sich seither in Milliarden von Scharmützeln und sonstigen Tätigkeiten insbesondere der humanen Gattung ausgetobt. Die Erde gleicht auf sie bezogen ein bisschen dem Garten des Onkels von Tristram Shandy. Und eine kleine Fraktion hat sich auf die Lesart »Easy« kapriziert und bietet Billigflüge und andere Dienstleistungen an, die bestimmte Netzwerke lubrizieren.
Dabei ist schon die Form der Anekdote oder Sage eine Art Selbstmimikry. Kringel, eine häufige Figur der notwendig im Sand verlaufenden, also schiefgehenden (fraktalen: also wachsend wie abbrechend so oder so sich verlierenden) Fortentwicklung dieses durch die Evolution als auf einem Fleck bleibend auf ständige Kollision mit sich selbst getunten Systems.
A
Die Weltspionageakten
Es gibt ein Suchinterface. Ich weiß nicht, wonach ich suchen soll. Eines der in der Erklärung genannten Beispiele ist »Zahlung«. Gute Idee. Nach Relevanz ordnen? Klar.
Das erste von 28 000 Resultaten hat nach jedem Wort ein Â. Es klingt wie ein sprechender US-Amerikaner oder Engländer, und ich frage mich, ob es wohl von der Verschlüsselung oder vom Diktat kommt.
Planet der Zahlung, Händleranmeldung
Äh August, äh, 12ter, äh 2011 Äh äh John äh Gibbonsäh Stratfor äh
221 äh Westäh 6ste äh Straße äh Steäh 400äh AustinähTexas, Äh 78 701 äh
PER ÄH E-MAIL: Äh äh Gibbons@stratfor.com äh Äh Lieber äh John, äh
Bitte äh lass äh Don äh die äh Anmeldung äh unterschreiben äh wo äh markiert äh ist. Äh äh äh
Sobald äh die äh Anmeldung äh unterschrieben äh istäh, bitteäh schickeäh sieäh miräh per äh Email äh oderäh Fax. Äh
zusammen äh mit äh den äh folgenden äh unterstützenden äh Dokumenten: ähäh
Kopie äh der ähDon’s äh Führerschein ähäh€¢
3Äh komplette, Äh laufenden, äh, Chronologie äh der äh Bankauszüge Äh äh
Wenn äh ich äh diese äh Dokumentation äh erhalte äh werde äh ich äh es äh an äh unsere äh Unterzeichnungsabteilung äh weiterleiten äh und äh dich äh auf äh dem äh Laufenden äh halten äh bezüglich äh der äh Änderung äh des äh Status. Äh äh öh äh Beste äh Grüße, äh äh Ray äh Rafaty ääh äh öh€¢
Kopie äh von äh aktuellen äh Geschäftsähfinanzen äh für äh alle äh rechtlichen äh Einheiten. Äh
äh
408 Silverside Road, Suite 108, Wi
Es folgen einige Auszüge aus Haftungsausschlusserklärungen (mit diesen Texten wird unsere Ära in Erinnerung bleiben) von »Planet Payment« vom September 2001 und dann eine freak mail? von 1970?! an die Adresse
»Investitionen in Bildung, Innovation und Infrastruktur sind eine essentielle Anzahlung auf unsere Zukunft«
Mike sagt:
Ich glaube, das ist möglich, wenn auch ein bisschen komplex. Ich werde mich heute Nachmittag reinknien.
–Mike
Ende Juni 2011 stellt Medwedew eine neue Gesetzgebung vor, die es internationalen Dienstleistungszentren erlaubt, russische elektronische Zahlungen zu verarbeiten.
Dann türmt sich eine lange Re:-Pyramide auf, mit John Gibbons von Stratfor Globale Intelligenz in Austin, Texas, der sich sehr unhöflich an Fernando Jaimes wendet, auch bei Stratfor, mit einer ohne Fragezeichen geschriebenen Bitte, also einem Kommando. Unangenehm. Der ganze Strang dreht sich um Sylvia Chritchley von Coal of Africa Limited in Perth, die für ihre Unterlagen eine Rechnung über 700 Dollar benötigt.
Was ist Stratfor? Eine private Spionagefirma. »Führend in geopolitischer Analyse«, behauptet ihre Webseite. Ich abonniere nicht. Sie versprechen, meine Mail auf einem sicheren und verschlüsselten Server aufzubewahren.
»Stratfor liefert globale Aufmerksamkeit und Anleitung an Einzelpersonen, Regierungen und Firmen auf der ganzen Welt. Wir benutzen einen einzigartigen, intel-basierten Zugang, um zu analysieren, was auf der Welt passiert.«
Ich nehme jetzt an, »intel« bezeichnet, dass sie in einer niemals zu enthüllenden Weise mit der CIA in Verbindung stehen. Wenn ich annehmen würde, dass die führenden Spieler auf dem Schlachtfeld der Welt ihre Einsichten von hochqualitativen Agenturen für Insiderinformation wie dieser beziehen, dann ist die Entscheidung bei Stratfor, welche Informationen wem gegenüber veröffentlicht werden, extrem effektiv bei der Lenkung zum Beispiel der globalen Finanzökonomie. Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist. Es hat allerdings etwas Zirkuläres. Als ob, wenn man eine ordentliche Ladung Schrot in diesen Taifun schickte, alles endlich auf Restart gehen könnte.
Xin, alte Seele. Drückt sich zunächst in Verwirrung aus. Verstörter Teenager mit unerklärlichem (»magischem«) Bezug zu Mustern, bestimmten Dingen; schockierende Ignoranz und Wurschtigkeit in anderen.
Vererbte Fremdheit? Du wirst mit 35 im selben fucking Körper wiedergeboren, man nennt es die »leise« Wiedergeburt und – wie kleinlich ist das? Auf deinem Wecker steht:
»Die Zeit, die dir zum Schmollen zur Verfügung steht, ist aufgebraucht. Ab jetzt musst du eine gute Haltung zur Welt haben. Sonst kommst du auf eine langsame und qualvolle Weise um. Du wirst begreifen, dass deine bisherige Art zu leben nahtlos in diese übergeht. Du wirst begreifen, dass du es in der Hand hast, es zu ändern. Du wirst begreifen, dass dir niemand anderer aus dem Sumpf deines vermeintlichen Selbst helfen kann als du selbst und dass du es aus unerklärlichen Gründen scheinbar nicht vermagst. Die theoretische Idee, dass du nur an der Untersuchung dranbleiben musst und irgendwann draufkommen wirst, heizt deine Ungeduld an und macht dich zugleich dich schuldig und selbstmitleidig fühlen und bei allen Gefühlen denken, dass genau die Gefühle dich daran hindern, das zu tun, was deine Aufgabe ist und was du tun willst und aus irgendeinem Grund nicht kapierst und durch das Nichtkapieren nicht richtig machen kannst. Wobei nicht gesagt ist, dass du es, wenn du es kapieren könntest, dann auch können würdest. Im Gegenteil könnte es dann noch schlimmer werden, weil du quasi in höherer Auflösung wahrnehmen würdest, wie du nicht weißt, ob du eigentlich verstehst und trotzdem nicht meisterst oder ob deine Idee von Verständnis überhaupt eine unnütze Idee von Verständnis ist, die mit der Realität nichts zu tun hat, so etwa wie wenn die Sonne sich selbst in einem deiner Augenwinkel ein wenig spiegelt: eine Verschwendung von Sonnenstrahlen, die sonst direkt zur Fotosynthese gehen würden wie Rotkäppchen zur Großmutter und sich in einen konstruktiven, aber ungestressten Biosphärenmulch einspeisen würden, den man nur positiv sehen kann.«
So etwas wie Xin ist – wie man auch dem überlangen Text des Weckers entnehmen kann, der selber echt ratlos ist und nicht weiß, was er, wenn er mit der Beratung von Xin zu Ende ist, machen soll, Xin vernichten oder Xin aufbauen – ein Ärgernis im Kosmos. Ein Ärgernis ist normalerweise selbst dafür verantwortlich, sich in eine Pfingstrose für den Kosmos zu verwandeln, normalerweise durch Umdeutung des Kosmos. Wenn es das unterlässt, wie Xin, sich in seinen Adidas-Trainingsanzug verkriecht, Serien schaut und dem Kosmos den kleinen Finger rausstreckt, nur weil eine letztlich selber total kaputte Lokalpolitikerin sich nicht wieder blicken lässt und er die letzten Fetzen von Wissen, was er zu tun hat, verlor: – dann weiß der Kosmos eigentlich auch nicht, was er mit ihm anfangen soll, außer ein paar Londoner Thugs auf ihn zu hetzen und ihn möglichst, bevor er aus lauter Sinn für Poesie – die ständig Fährten, nie Lösungen anzeigt – andere Leute reinzieht,
kaltzustellen.
Kalt, das ist dem Kosmos Gewohnheit, Hauptmasse und Utopie.
An einem Abend im Oktober, als die rostenden Weinberge in einem wogenden Nebel standen, der die Horizontchen des Kahlenbergs wie Hochgebirge wirken ließ, ging ich denselben hinauf und an der Kimme entlang. An den Ausschänken, die ungefähr seit der Neugestaltung des Gipfels links und rechts des Eichelhofwegs sprießen, wurden die Tische schon nass im Niederschlag der wütenden Temperaturdifferenz am Abend. Schlichter: Tau fiel, das Licht war im Abgang.
Ich kam bald an die Stelle, wo hinter einem mit Warnschildern gespickten Tor (auch eine Pistole ist abgebildet) immer böse Hunde bellen, an die Schwelle zum dichten Laubwald der Gegend um den Gipfel. Den Hunden rief ich keck zu, »Hoitz zamm!«, ohne, natürlich, eine Wirkung abzuwarten und in falscher Einzahl – ich merkte, da stimmt etwas nicht, und hatte Zeit, dem nachzusinnen, bis ich draufkam. »Hoitzes zamm!«, hätte es heißen müssen. Den Worten folgte ein mulmiges Gefühl, als wäre ich vor der angedrohten Gewalt nicht so sicher, wie ich mich wähnte. Schließlich konnte man ja von innen, zumal in der Dämmerung, das Tor leicht aufmachen.
Ich ging zügig durch den schmalen Tunnel aus Laub, in den links zwischen den Ästen die Landschaft hereinblinkte; eine Brise riss Blätter und Tropfen von den Ästen über mir; ich sah schon die Stiege zur breiteren Gipfelzufahrt, da stand plötzlich ein Mann in Weiß vor mir: eben dort am Kopf der Stiege, wo sie auf die Asphaltstraße mündete. Ein heller Fleck in der Pixelierung der Stunde, der nicht deutlicher wurde, wenn man die Augen darauf scharfzustellen versuchte. Normal für diese Lichtverhältnisse. Waluliso fiel mir ein, ich dachte an den Mann, der jahrzehntelang in Römerkleidern mit einem Efeukranz auf dem Kopf durch die Wiener Innenstadt wandelte und für Frieden warb. Oder eine dieser lebenden Statuen für Touristen, verirrt? Auf jeden Fall stand ein Verrückter am Kopf der Treppe. Ich war kurz zusammengeschreckt und hatte den Schritt zurückgehalten, doch jetzt hatte ich Vorsicht walten lassen, wie ich konnte – lästig, verunsichernd und nutzlos die mangels anderer Kriterien geschmäcklerische Erwägung einer Ängstlichkeit –, und ging weiter, gemäß meinem Prinzip, in jeder Situation, komme, was wolle, zu schauen, was passiert.
Es war der heilige Nepomuk. Die Statue, die ich ja kannte, gegenüber der Wegmündung, war offenbar frisch angestrichen worden oder trat schlicht in der Dämmerung so hervor, dass der Mann lebendig erschien. Auf diesen Steinfiguren aus dem 18. Jahrhundert sind meist mehrschichtige Roben von einem katholischen, anmutig drehenden Wind oder der Drehung des Heiligen, die diesen Wind erzeugt, erfasst. Das erzeugt leicht den Eindruck von Belebtheit.
Ich meine, es wäre passend, die Ursache des Effekts Wind zu nennen, weil ich denselben Wind am Windgott im Tempel der 33 Zwischenräume in Kyoto gesehen habe und auch an anderen Dämonenstatuen. Außerdem habe ich gehört, dass die antiken Wörter für Seele oder Leben von Windhauch (ἄνεμος, animum) oder dem Blasen auf etwas, um es zu kühlen oder wärmen (psyche), stammen. Bei 息 (iki) ist es so ähnlich. Natürlich ging ich, ohne zu halten, in Gedanken weiter.
Oben am Gipfel des Kahlenbergs, den sie vor einigen Jahren neu gestaltet haben, weswegen ich kaum mehr ganz hinaufgehe, bemerkte ich, dass sich unterhalb der öffentlichen Aussichtsterrasse noch eine zweite befand. Sie gehörte zum Hotel oder Lokal, einer Ausbildungsstätte für angehende Gastronomen. Heute war alles goldgelb beleuchtet, der Balkon mit Stehtischen und Aschenbechern versehen, es schien ein größeres Fest stattzufinden. Von oben sah ich auf drei Menschen im Abendgewand beim Rauchen. Ein unauffälliger Businessmann mit Kurzhaarschnitt und ein mitteljunger Mann mit rotblondem Pferdeschwanz sprachen mit einer Frau, deren Brüste gegen ein rotes Cocktailkleid drückten und die sich sehr wohlzufühlen schien, während sie über Zigaretten scherzte, soweit ich die Fetzen verstand. Sie sprachen Ukrainisch, und das zog mich an, aber mein Schülereifer reichte wie meistens nur dazu, mich zurm Voyeurni zu machen. Schließlich hört jede fließende Konversation auf, sobald dier Schülerni zu nahe tritt. Manchmal fühle ich mich dann wie so eine Statue aus einem vergangenen Jahrhundert, wie ein noch nicht bemerkter steinerner Gast – was die Hemmung zu sprechen noch ein bisschen erhöht.
Der Balkon war wie eine halb aufgegangene Lade, aus ihr strahlte es wie vergessene Uranproben in die düstere, neblige Landschaft. Gern wäre ich dabeigestanden, wie sonst oft am Rand von Partys an hoch gelegenen Orten, wo die Wärme von der Buffetversorgung die Kälte von draußen anrührt. Doch jetzt wandte ich mich rasch und stolz um und machte mich auf den Rückweg, warum auch immer. War es, dass ich mir Geschäftigkeit anzugewöhnen versuchte und wusste, wer sich nach dekadenten Partys sehnt, wird nie auf sie gelangen, war es nur der Einfall einer Art zu sein, dem ich einen Augenblick folgte, als wäre er ein Blick in eine enge Gasse im Vorbeigehen. Beim Eingang zum Hotel hing eine Reihe blauer und gelber Luftballons.
Diese Euro-Ukrainer! Ein Moralist schimpfte in mir, während ich voll Gusto wieder in die feuchte, kühle Dunkelheit spazierte, gegen die Reichen, die diesen Sommer unter anderem auch mit einem Kreuzschiff an der Wiener Marina angekommen waren, wie ich beim Radfahren beobachtet hatte, auf dem ein Schweizer Name mit einem ukrainischen Namen übermalt worden war. Mein Moralist war der Meinung, es sei besonders dekadent, sich, während der Krieg im eigenen Land tobe, fern von diesem aufzuhalten und es sich gutgehen zu lassen. Mein Moralist vergisst, dass es, wenn jeder sich selbst definieren darf, keine Reichen gibt, weil kaum jemand der Meinung ist, reich zu sein. Alle diese Kreuzfahrer sind bloß am Überleben. Sobald man den Lebensstandard hat, gehört er zur Identität und zur Normalität. Außerdem fiel mir gar nicht ein, dass es, den Luftballons zufolge, vielleicht gar keine Ukrainer waren, sondern Neoliberale.
Hinter meine irrelevante Kritik an den Ukrainern setzte ich einen Schlusspunkt, indem ich im Vorbeigehen den heiligen Nepomuk bat – ich siezte ihn und verwendete ansonsten eine leise Alltagsstimme –, wenn er sich schon nicht zu schade gewesen sei, mir lebendig zu erscheinen, so möge er bei Gelegenheit dort oben am Balkon auftauchen und die Ukrainer daran erinnern, was sie aus ihrer jeweiligen Lage heraus tun könnten, um sich dem Vorwurf des Eskapismus zu entziehen. Ich wollte ihn wohl von mir ablenken, überzeugt, dass ich bereits verstört genug durch die Gegend ginge. Es fiel mir komischerweise nicht ein, ihn zu fragen, was für Handlungsmöglichkeiten denn, ganz im Allgemeinen, mir selbst zur Verfügung standen. Kann sein, das Handeln war etwas, was mir in Bezug auf mich selbst gar nicht in den Sinn kam. Ich bin doch Schriftstellerin. Ich mische mich ohnehin schon zu viel in Sachen ein, die mich nichts angehen.
Der heilige Nepomuk ist ja der Heilige der Politik, könnte man sagen (deswegen ja auch weiß). Er ist auch der Heilige der Verschwiegenheit und des geraden Rückgrats als Juristni. Quasi dier gute Politikerni. Als verbreiteter Staatsheiliger des barocken und spätbarocken Habsburgerreichs steht er zugleich als spanische Wand vor den Schweinereien eines kirchlich hinterbauten Weltreichs und als Galionsfigur für dessen Möglichkeiten bei der Einführung neuer, unbequemer bis grausamer Gerechtigkeiten. Er ist zugleich auf den populären Schlammwegen aller Provinzen der Heilige der Brücken, weil er in Prag von einer in die Moldau geschmissen wurde. Das ist eben das Unvergleichliche an den Heiligen, dass sie das Dumme und das Wahre, das Starke und das Spitzfindige zu einer skarabäischen Lehmsphäre zusammenkneten (lassen), gewissermaßen, mit der man gemäß der Ballistik verfahren kann, dort, wo Treffen und Verschleudern knapp nebeneinanderliegen.
Zwanzig Jahre später sitze ich an einem Tisch mit anderen älteren – also gleichaltrigen – Geschäftsleuten aus der Hotelbranche am Ende eines Empfangs der Brancheninnung in Czernowitz. Ich hatte damals die Literatur, die mir immer zäher aus der Feder tropfte, endlich aufgegeben und ein altes Kurhotel in den Karpaten gekauft. Ich habe mich, neben den japanischen Sprachseminaren, auf feinsinnige, extravagante Hochzeitsfeiern spezialisiert, weswegen ich auch viel ukrainische Kundschaft habe und eben gelegentlich zu solchen Empfängen eingeladen werde. Und da sitze ich, übrig geblieben, mit drei sympathischen Leuten, die so wenig wie ich bald ins Bett gehen, um morgen wieder neue Verbrechen mit ihrem Scharfsinn zu zieren, sondern zu sinnlosem, effektfreiem Hiersein bereit sind. Wir haben zwei Flaschen vom Buffet besorgt und uns auf dem Balkon um einen überquellenden Aschenbecher gruppiert, den die blondierte Kettenraucherin mit den Extrempumps soeben über das Geländer auf den Parkplatz gekippt hat. Aus Wien war ich? Ja, Wien, da haben sie einige Jahre verbracht, als hier Krieg war und kein Geschäft lief. Es war ein seltsamer Urlaub, Fortbildung, Sprachkurs, Geschäftsreise, wer weiß? Sie lachen. Die Österreicher. So ängstliche Leute, in ihrer Beflissenheit angenehm, aber – man müsse sich unaufhörlich vor Tücke und Betrug hüten, weil sie so ängstlich sind. Und eine irgendwie deutschnationale opportunistische Menschenverachtung, die mehr wie eine Art Blindheit ist, die sie aus der Tasche holen, wenn es darum geht, nicht mitzubekommen, wenn ein Ausländer gekränkt oder empört ist. Und sensibel sind sie ja auch, deswegen, sie merken genau, wann sie dein Vertrauen haben, und erst dann schlagen sie zu. Deswegen, leider, was soll man machen? Haben wir gelernt, dass man mit Österreichern nur innerhalb gewisser Grenzen Geschäfte machen kann. Kleinliche Geister … Keine großen Zockereien möglich, undenkbar die epischen Freundschaften, die Millionengewinne, die bei uns nach 91 – naja, es war unsere Teenagerzeit. In jeder Abschlussklasse unserer Generation, wenn wir uns wiedertreffen, finden sich mindestens ein Millionär und ein Obdachloser. Danach zwanzig Pleitiers, der Rest Hausfrauen, Lehrernnnie, Säufer.
Diese zwei Jahre in Wien, da waren wir um die vierzig, nicht. Intensive Beziehungen, Einladungen, gegenseitige, eine Art unausgesprochene Hoffnungsblase vor dem Hintergrund des nahenden Todes, wie ein bedrohliches Abendrot, wie eine Verliebtheit, ja, so wäre es am besten zu bezeichnen. Rosa Hemden! Parfüm, Rosen, Tiramisu! Und an einem Abend, passt auf, eine merkwürdige Geschichte. Da waren wir auf so einem Galaabend der österreichischen Hoteliers für die ukrainischen Geschäftspartner, der fand in der Gastronomieausbildungsschule statt, die auf einem Berg liegt, wie heißt euer Hausberg? Am leeren Berg, so ähnlich – also, einerseits kann man sagen billig, die Lehrlinge mit der Anwendung des Kaviarbrots beschäftigt ohne Bezahlung und so weiter, andererseits tolle Location, aber es war natürlich nichts los, dass man sich schon verflucht vorkam: eine Ansprache von einem pickligen Gastronomiemusterschüler im Stimmbruch, ein zweiter Vortrag von einem Klon von ihm – hier Gesprächspause, da sie aus nicht ganz ersichtlichen Gründen zu lachen begannen – am Cocktailstehtisch, also, ein beschwipster Fünfzehnjähriger, der versucht, Geschäftsbeziehungen zu knüpfen, vorwitzig, transluzent, Abscheu und Sympathie erweckend, die Fraktionen schieden sich, man hatte im Alkohol schon selbst bald vergessen, auf welche Seite man sich geschlagen hatte, ob man auf der Linie war, der Jugend mit Sadismus oder mit sentimentalem Wohlwollen zu begegnen? Man wusste es selber nicht; zum Glück konnte sich der Kleine auch nicht mehr erinnern, welcher der Männer und Frauen noch vor wenigen Sekunden ganz gegenteilig zu ihm gesprochen hatte. Aber schlussendlich gingen wir, in der noch zu drei Vierteln bestehenden Helligkeit schon komplett dicht, auf den Balkon, um zu rauchen, entspannten uns, Ukrainisch redend über Zigaretten und Nichtigkeiten, nach Gossip von zu Hause kratzend, aber nur nach dem harmlosen – da plötzlich schwebte eine Statue vor dem Balkon, oder sagen wir eine weiße Figur, nein, es war egal, wir machten noch Scherze, aber wie die Kühle der Nacht sich unters Gewand schlich, so wussten wir noch im Scherzen den Ernst, die Ehre, an die wir gemahnt wurden, sie fuhr uns in Mark und Bein. Wir wurden an unsere Körperlichkeit, unsere Gebrechlichkeit erinnert, nicht mehr – das genügte. Kälte waren wir gewohnt, es brauchte eben diesen übernatürlichen Zugriff. Ja, wir sind Rationalisten. So sind wir erzogen – Kommunismus – du weißt Bescheid, nicht? Minusgrade das geringste der Probleme …
Ein Wind wehte in den jetzigen Balkon, dass die Geranien nickten. Alle zogen wir an unseren Zigaretten. Jemand aschte in den Aschenbecher. Das Licht brannte auf die Geranien. Zeit ist Luxus.
»Ja, aber, entschuldigt – hat Nepomuk etwas gesagt?«
»Nepomuk?«
(aber ich schon zwanzig Jahre älter als jetzt, weise:)
»So heißt das berühmte Gespenst vom Kahlenberg. Das war er ohne Zweifel. Was hat er euch denn gesagt?«
»Hat gesagt – hat gesagt, man muss etwas machen.«
Alle waren plötzlich aufgelöst in Gelächter. Jäh war die herzliche, konstruktive Stimmung einmütig geworden wie um ein gemeinsames Ziel, etwa als gälte es, einem Elefanten im Raum zu entfliehen.
»Das ist nicht Chernyshevskiy!«, lachte jemand mit literarischem Ehrgeiz im Hintergrund.
»Also hat er nichts gesagt. Ich kenne ihn ja. Nepomuk ist ein politischer Heiliger.«
»Aber nein! Mensch, wir sind daraufhin umgedreht. Wir merkten, es reicht jetzt mit dem Urlaub. Wir haben uns um unser Land gekümmert, um den Frieden, der ja auch die Bedingung für unsere Geschäfte –«
»Ich will davon nichts wissen! Behaltet eure Scheußlichkeiten für euch! Ich will nur wissen: Versteht ihr euch gut mit euren Ehegatten?«
»Du bist so asiatisch! Willst du mich heiraten? Ich lasse mich sofort scheiden. Ich liebe das Exotische, das Neue …«
Und so ging auch diese Nacht langsam, blubbernd unter, wie ein blutiges Schiff in einem Meer von Öl. Oder Ananas in Champagner, wenn man an das Schicksale scheffelnde Rad eines Paddeldampfers denkt.