Walken ist von einer Randgruppen-Therapie zur Feld-, Wald-und Landplage geworden. Zudem offenbart der Walker eine besorgniserregende Psychostruktur. Wer glaubt, mit Stöckchenziehen Fett zu verbrennen, der investiert auch in Kettenbriefe, ruft bei 9Live an und hofft auf gute Laune durch Wellnessseife. Dass ausgerechnet Deutschland die Stockspitze der weltweit operierenden Walking-Sekte bildet, weist auf ein gewaltiges Standortproblem hin.
Eine Seuche, schlimmer als Pest, BSE und Vogelgrippe, greift unerbittlich um sich: Walking. Über acht Millionen Deutsche bewegen sich inzwischen im Schneckentempo durch die Grünanlagen, ziehen Skistöcke hinter sich her und glauben fest daran, dass sie Sport treiben. Zu allem Übel ist Walking auch noch ansteckend: Zehn Millionen Bundesbürger würden sich dieser übermenschlichen Herausforderung gern mal stellen. Dann wären genauso viele Walker wie Läufer unterwegs. Eine grausame Vorstellung. Walker empfinden sich als Stockspitze einer neuen Wellness-Bewegung, die überwiegend Frauen anzieht. Klar, denn Walken schont die Frisur und das Make-up. Man schwitzt nicht, Fahrtwind kommt auch nicht auf. Nur die aufgeklebten Fingernägel mit den Swarovski-Splittern leiden manchmal etwas in den Handschlaufen.
Wer seit Jahren echten Laufsport betreibt, betrachtete die ersten dieser bizarren Spaziergänger noch mit Amüsement. Doch inzwischen hat sich das Walken zur Landplage entwickelt. Läufer müssen jeden Quadratzentimeter Waldweg freikämpfen, einen schmalen Pfad finden durch Rudel unwirscher Übergewichtiger, Wälder von quer gestellten Stöcken und ein Meer neidisch-bösartiger Blicke. Früher schwieg man noch vorwurfsvoll, heute brüllt man sich gern mal an. Was der Borkenkäfer für den Baum, ist der Walker für den Läufer – eine Bedrohung.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Echtes Nordic Walking, bei dem sich der Athlet in großen armgetriebenen Sätzen voranbewegt, ist eine anspruchsvolle Sache. Auch der zügige Walk, der den Puls peitscht, geht sofort als guter Sport durch. Ebenso wenig ist gegen Reha-Patienten, genesende Senioren oder Adipöse zu sagen, die eine sanfte alltägliche Fortbewegung wiedererlernen müssen. Walking ist sicher auch eine gute Übergangsbewegung zwischen Sitting und Running. Solange es das Ziel ist, sich eines Tages ebenso elegant wie zügig vorwärtsbewegen zu wollen, also laufend.
Als Selbstzweck ohne weiteres Ziel ist Walken jedoch Zeitverschwendung, denn es bedeutet zuerst das Vermeiden von gesundheitsförderlichem Sport. Insbesondere die in Deutschland verbreitete Variante des Trottens mit schleifendem Stock, die jedes Wochenende millionenfach dargeboten wird und früher »Spazierengehen« hieß, bietet für halbwegs gesunde Normalbürger kaum messbare Vorteile außer ein wenig frischer Luft und Sozialkontakte. Ausdauer, Fitness und Muskelkraft werden mit dem schlurfenden Kriechgang am Stock kaum gefördert. 17 gute Gründe gegen das Walken finden sich am Ende dieses Buches. Dennoch hängen die Fans der um sich greifenden Schleichbewegung dem Irrglauben an, ihre Slow Motion habe etwas mit Sport zu tun. Es sind die gleichen Menschen, die sich vom Kauf eines Wellness-Duschbades ein dauerhaft besseres Leben erhoffen. Wer an Walking und Wellness glaubt, geht davon aus, dass man innere und äußere Zufriedenheit mal ebenso im Vorbeigehen tanken kann. Jede Form von Mühe empfinden sie als Unglück und Zumutung.
Glaubt man Berichten aus anderen Teilen der Welt, dann ist die sportliche Ersatzhandlung namens Walken ein deutsches Phänomen. Selbst in den USA, dem Mutterland der Trend-Hinterherrenner, ist Walking bei Weitem nicht so verbreitet wie zwischen Sylt und Berchtesgaden. Läuferfreunde berichten aus aller Welt, dass die Walk-Hysterie allenthalben abebbt oder gar nicht erst aufgekommen sei. Warum können sich englische Gentlemen oder italienische Großmütter würdevoll an einem Spazierstock vorwärtsbewegen, während hierzulande ein ganzes Volk am Stock geht?
Der Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer (Alles oder nichts – über die Destruktivität der Ideale) liefert dafür einen interessanten Erklärungsansatz. In Deutschland habe die schwer traumatisierte Kriegsgeneration besonders anlehnungsbedürftige, unsichere Kinder herangezogen, die als »Achtundsechziger« bekannt geworden sind. Diese fanden es schick, von ihren Kindern mit Vornamen angeredet zu werden, wollten ganz dicht bei ihrem Nachwuchs sein, vergaßen dabei aber, ihren Kindern die Fähigkeit zu Konfliktverarbeitung und -toleranz mitzugeben. Jede Kritik wurde als Angriff auf die Persönlichkeit interpretiert. Die Fähigkeit, mit Kränkungen, Rückschlägen und Enttäuschungen umzugehen, ist in Deutschland vergleichsweise unterentwickelt, das Bedürfnis nach sofortiger Erfolgsmeldung dagegen übermäßig ausgeprägt. Die Umetikettierung der Alltagstätigkeit Gehen in einen vermeintlichen Sport namens Walken bietet dieser Spezies die perfekte Illusion: Fitness ohne Anstrengung, Siege ohne Niederlagen, Laufen ohne Schnaufen. Walking ist eine klassische Als-ob-Handlung, eine Simulation wie das Jumbo-Fliegen am Computer, deren Spannung nur in der Fantasie existiert.
Echte Leibesübungen verlangen gerade dem Anfänger Durchhaltewillen ab, liefern nur allmählich Erfolgserlebnisse, dafür aber jede Menge Kränkungen und Rückschläge. Wer sich jemals mit ein paar Kilos zu viel auf den Hüften von einem schlanken Schnellläufer überholen lassen musste, kennt dieses Gefühl nur zu gut. Dem Walker bleiben solche Enttäuschungen erspart. Walken kann jeder, es gibt kaum Vergleichsmöglichkeiten, die eine frustrierende Einteilung in gut und schlecht zementieren. Niemand kann verlieren. So liefert Walken subjektives Erfolgsgefühl und minimiert jedwede Frustration. Walker bleiben bereitwillig unter ihren Möglichkeiten und halten ihre Leistungsverweigerung auch noch für schlau.
Im Vergleich zum echten Freizeitathleten ist dem Walker jedwedes Gefühl für Scham abhandengekommen. Um die eigene Vorstellungskraft anzuheizen und sonntägliche Zeugen im Wald auch keineswegs im Unklaren zu lassen, was gerade dargeboten wird, braucht es ein brachiales öffentliches Zurschaustellen. Wichtiger als jede Leistung ist die furchterregende Ausrüstung, von den Stöckchen bis zum Trinkfassgurt, das Halsband mit Schlüssel, Handy und MP3-Player, dazu GPS-Ortung, Defibrillator, Kamera. Und auf den Ohren sitzen ein paar Kopfhörer, damit man hinterrücks nahende Läufer auch garantiert nicht hört. Je mehr exhibitionistisch transportiertes Equipment, desto stärker scheint die Illusion zu wirken, man bewege sich unheimlich professionell durchs Unterholz.
Es ist wie permanenter Karneval: Ein bisschen Verkleidung katapultiert den Walker aus dem Alltag des trägen Ichs heraus. Das wäre kein Problem, solange diesen armen Menschen von einer perfiden Industrie nicht die totale Gesundheit vorgegaukelt würde. Eine Bewusstseinsmaschine, mit dem Duo Diabolo Rosi Mittermaier/Christian Neureuther im Führerhaus und vielen anderen geschäftstüchtigen Strahlemännern dahinter, hat aus einem Irrtum ein hochprofitables Geschäft gemacht. Denn Walking lohnt sich. Mehr als vier Millionen Paar Stöcke gammeln in deutschen Kellern oder in den Händen ihrer Besitzer vor sich hin. Kein Freizeitvertreib der letzten Jahre hatte derartige Zuwachsraten zu bieten.
Langsam allerdings müssten die ersten Modern-Walking-Fans kapieren, dass sie getäuscht worden sind. Denn Walking funktioniert nicht. Wenn der Stockmarsch schön, fit und schlank machen würde, warum sehen Walker dann überwiegend so gruselig aus? Walking ist nichts anderes als Gehen, es heißt nur irgendwie dynamischer. Gehen ist gut und schön und seit Jahrhunderten erprobt, aber eben weit entfernt von erhöhtem Puls, Leistungszuwachs und Fettverbrennung.
Dass das Walken Hüftgold zum Schmelzen bringt, ist einer dieser unausrottbaren Mythen, den die Walker ganz besonders gerne glauben. Klingt ja auch zu schön. Man schlendert plaudernd durch die Gegend und das Fett schmurgelt einfach davon. Fettverbrennung! Wer dieses Wort erfunden hat, der ist ein begnadeter Demagoge. Es klingt so scharf wie »Teufelsaustreibung« für den Papst oder »Mullahverbannung« für den US-Präsidenten. Wer wollte das nicht – das Böse verbrennen?
Doch Fett ist wie Sonne: Theoretisch bietet es wahnsinnig viel Energie, praktisch aber nie dann, wenn man sie braucht. Der Körper will sein Fett nicht hergeben. Er hat über Jahrmillionen gelernt, überschüssige Kalorien an Bauch, Beinen und Po zu speichern, als Reserve für lange, kalte Winter. Er klammert sich an sein schönes warmes Polster. Also muss man den Körper einlullen, ihn gefügig machen, ihm den Eindruck geben, es kämen große Anstrengungen auf ihn zu. Frühestens ab einer Stunde Langsamlaufen macht der Körper sein Fett locker. Aber nur, wenn nicht zwischendurch neuer Treibstoff eingefüllt wird.
Man muss ihm jedes Gramm abringen, und das strengt an. Entweder weil die Läufe lang und langsam sind oder kurz und schnell. Was garantiert hilft, ist lang und schnell. Was garantiert nicht hilft, ist kurz und langsam. Dass es hinter einer Walker-Horde trotzdem nach Frittenbude riecht, hat weniger mit Fettverbrennung zu tun als mit deren liebstem Aufenthaltsort.
Natürlich ist es jedem Menschen unbenommen, seine Freizeit so unsinnig zu gestalten, wie er möchte. Doch die Freiheit des Walkers endet dort, wo die Unfreiheit anderer temporärer Waldbewohner beginnt. Und genau an diesem Punkt hat das Millionenheer der Walker den Bogen zu oft überspannt. Sie stehen nicht nur im Weg, sie betrachten inzwischen auch jeden Pfad als ihr Privateigentum und verbellen jeden, der es wagt, sich in ihrem Revier zu bewegen. Am Stalinisten-Blick sollt ihr sie erkennen.
Es ist an der Zeit, den Irrsinn auch als solchen zu bezeichnen und diese Volksverdummung und ihre schrecklichen Folgen zu bekämpfen. Denn der Walker ist grundsätzlich intolerant. Weil er im tiefsten Inneren ahnt, dass sein Treiben nah an der Albernheit rangiert, kompensiert er sein schlechtes Gewissen mit einem besonders selbstherrlichen Auftritt. Er philosophiert unablässig über die angeblichen Vorzüge seines Zeitvertreibs, zeiht Läufer ihres Ehrgeizes und der Körpermisshandlung. Verbarg sich der Walker früher noch in Grünanlagen, so klackern seine Stöcke inzwischen überall: in Fußgängerzonen und U-Bahnen, auf Flughäfen und in öffentlichen Bedürfnisanstalten.
Walking ist zu einer Geißel der Menschheit geworden, die Walker-Bewegung, wenn auch naturgemäß langsam, auf dem Weg zur terroristischen Vereinigung. Erbarmungslos breiten sie sich aus, bekämpfen Andersgläubige, sind überzeugt, dieser Planet sei nur für sie gemacht. Sie klammern sich an Märchen und faseln wissenschaftlich unhaltbare Viertelweisheiten, die sie sich in Büchern des grinsenden Elends Dr. Strunz zusammengestohlen haben. Was dem einen die Freifahrt ins Paradies, ist dem anderen die Fettverbrennung.
Die Psychostruktur des Walkers entspricht in etwa der von Alfred Tetzlaff, dem schlichten, gutgläubigen Motzkopf, im steten Kampf für sich und gegen alle, die anders sind. Er glaubt nur, was er im Fernsehen gesehen hat, sogar wenn es vom Altbroiler Strunz stammt. Hauptsache, es wird Erfolg ohne Anstrengung versprochen. Der Walker entspricht dem Typus des Teleshoppers, der Bauch-weg-Gürtel, Zauberunterwäsche und Klebedrinks bestellt, von denen man angeblich schnell dünn wird. Sixpack ohne Situps, Marathon ohne Schweiß, Abnehmen ohne Verzicht. Es ist kein Zufall, dass fast alle Walker aussehen wie Harry Wijnvoord, vor allem die Frauen.
Das Versprechen von Wundern bedient perfekt die Schnäppchen-Mentalität des Walkers, ein Typ also, der als Erster den Flughafenbus besteigt, um sich mitten im Eingang mit seiner für Handgepäckverhältnisse viel zu großen Tasche breitzumachen, damit er auch ja als Erster die Treppe zum Flugzeug erklimmen kann. Menschen, die sich von Ich-bin-doch-nicht-blöd-Reklame angesprochen fühlen, an Horoskope glauben, früher an Bauherrenmodelle und bis heute an die wundersame Geldvermehrung durch Kettenbriefe. Zeitgenossen also, die sich für so schlau halten, dass sie die Naturgesetze aushebeln können, zum Beispiel jenes, dass man eine Buttercremetorte zum Frühstück mit 27 Minuten Stöckchenziehen nicht davon abhalten kann, sich auf den Hüften niederzulassen.
Ist das schon Grund genug, Walker zu hassen? Natürlich ist »hassen« ein böses, schwarzes Wort und es steht zuerst einmal aus Gründen der Plakativität auf dem Titel dieses Buches. »Hassen« trifft die Empfindungen des echten Läufers gegenüber seinem übergewichtigen Nachäffer auch nur ungefähr. Es ist mehr ein Verabscheuen, Bescheuertfinden und Ignorierenwollen, wenn das möglich wäre.
Ist es aber nicht, seit jeder sonnige Sonntagmorgen, an dem der ehemals gut gelaunte Läufer zu seiner Runde startet, zu einem Slalom zwischen maulenden Tonnen geworden ist, die sich wie die Herren aller Grünanlagen aufführen. Schon auf dem ersten Kilometer hat er mit Mühe dem Stock ausweichen können, der just in der Sekunde emporschnellte, als er den ersten Walker zu überholen gedachte. Entkräftet von den ersten 300 Metern hatte der wulstleibige Mann eine Pause eingelegt, die natürlich nicht wie eine aussehen durfte. Also stoppte er schnaufend, als habe er etwas Unglaubliches im Dickicht gesehen, und riss seine Gehhilfe empor, um darauf zu deuten – natürlich unmittelbar vor der Nase des im Überholvorgang befindlichen Läufers.
Mit Walkern ist jeder Sonntag Vatertag. Denn rudelweise bevölkern sie nach getanem Schlurf die Biergärten, manche ziehen ihre Schuhe aus, die Pilzbefallenen auch gern die Socken. Volkswirtschaftlich immerhin ist der Walker ein Gewinn, denn er konsumiert unablässig. Leider auch frische Waldluft.
Eine schweigende Mehrheit von Millionen von Läufern hat das bizarre Schlurfen bislang halbwegs stoisch ertragen. In unzähligen zustimmenden Mails auf die Walker-skeptischen Kolumnen des ebenso ausdauernden wie erfolgsentwöhnten Freizeitläufers Achim Achilles auf SPIEGEL ONLINE machten sie ihrem Unmut Luft, ihrer Furcht vor der Walker-Diktatur.
Dieses Buch ist all denen gewidmet, die still dort leiden, wo sie früher mit sich, der Natur und ihrem stolzen Sportsgeist alleine waren. Ihre Zuschriften finden sich zwischen den einzelnen Kolumnen, Zeugnisse traumatischer Erlebnisse.
Die Archäologen der Zukunft werden bei ihren Grabungen in ein paar hundert Jahren auf eine merkwürdige Schicht stoßen aus einer Epoche, die sie das Walkozän nennen werden. In Kellern, auf Speichern und in Kofferräumen werden sie bunte Aluminiumstöcke finden, deren Zweck angesichts der Klimaveränderung kein wintersportlicher sein konnte. Die Forscher werden nach Erklärungsmustern fahnden: plötzliche Schwächeanfälle vielleicht, eine seltsame Krankheit oder eine bizarre Religion? Den wahren Grund werden sie wohl nie herausfinden. Es war schlichtweg Blödheit.
Lieber Achim,
Ihre Walker-Artikel sprechen mir voll aus dem Herzen. Schon lange muss man sich über einige sogenannte Sportarten wundern, denn wir Deutschen waren doch immer dafür in der Welt bekannt, dass wir gerne laufen. Weshalb dann auf einmal Walking? Davon mal abgesehen, sieht es ja auch ziemlich lächerlich aus.
Kurt
Moin Achim,
ist Dir eigentlich schon aufgefallen, dass man bei Nordic Walkern an den Stockbewegungen genau ablesen kann, ähnlich dem Lippenlesen beziehungsweise den Flaggensignalen bei der Seefahrt, über welches Thema gerade gesprochen wird? Am letzten Freitag im Wald schlich eine Kollegin von mir mit zwei Freundinnen vor mir her, und ich versuchte festzustellen, über was da gerade gesprochen wird. Es ging eindeutig ums Kochen. Was mir auch heute auf der Arbeit bestätigt wurde. Eine Prise Salz beispielsweise bedeutet den Stock nach oben drehen, um das Einstreuen der Prise zu simulieren. Mein Ziel ist nun eine vollständige Übersetzung von nordic gewalkten Rezepten.
Gruß,
Walter