Tom Clancy, geboren 1947, hatte mit seinem ersten Thriller Jagd auf Roter Oktober auf Anhieb internationalen Erfolg. Clancy gilt als Begründer des modernen Techno-Thrillers und zählt neben John Grisham zu den erfolgreichsten amerikanischen Spannungsautoren. Aufgrund seiner gut recherchierten, überaus realistischen Szenarien wurde der Autor nach den Anschlägen vom 11. September von der amerikanischen Regierung als spezieller Berater hinzugezogen. Bei Heyne erscheinen Tom Clancys große Thriller aus dem Universum um den Spezialagenten Jack Ryan.
Nationalfriedhof Arlington
Expräsident Jack Ryans Leibwächter hatten zwar dafür gesorgt, dass niemand nahe genug kommen konnte, um heimlich Fotos zu machen; dennoch waren die meisten Mitarbeiter des Campus – Gerry Hendley, Tom Davis, Jerry Rounds, Rick Bell, Pete Alexander, Sam Granger und Gavin Biery – sicherheitshalber mehrere Minuten zu früh und in drei verschiedenen Autos vorgefahren. Chavez und Clark kamen im vierten Wagen, zusammen mit einem neuen Mitarbeiter: dem seit Kurzem aus der Army entlassenen und vom Campus sofort angeheuerten Sam Driscoll. Sam hatte die meiste Zeit im Campus verbracht, um sich dort auf den neuesten Stand bringen zu lassen; die übrige Zeit hatte er zwischen der Suche nach einer Wohnung und seinen Rehabilitationsmaßnahmen im Johns Hopkins-Hospital aufgeteilt. Obwohl er den gefallenen Caruso-Bruder nicht persönlich gekannt hatte, war Driscoll mit Leib und Seele Soldat, und ob man sich nun gekannt hatte oder nicht oder ob man miteinander verwandt war oder nicht, war doch ein Kamerad in Waffen fast so was wie ein Bruder.
»Sie kommen«, murmelte Chavez der Gruppe zu und nickte in die Richtung der von Bäumen gesäumten Auffahrt.
Wie es im Marine Corps Brauch war, fuhren Brians engste Familienangehörige, angeführt von Dominic, in der ersten Limousine vor. Sie hielt hinter dem Sargwagen an, neben dem acht Marines mit ausdruckslosen Mienen als Ehrenwache strammstanden, die Augen geradeaus gerichtet. Kurz darauf rollte die zweite Limousine mit Familie Ryan heran und hielt sanft an. Special Agent Andrea Price-O’Day nickte kurz, die hinteren Türen beider Limousinen wurden geöffnet, und die Trauergäste stiegen aus.
Am Grab standen Gerry Hendley und John Clark nebeneinander und verfolgten stumm, wie die Ehrenwache stoisch und geübt den mit der amerikanischen Flagge bedeckten Sarg vom Sargwagen nahm und sich hinter dem Geistlichen zum Trauerzug über den sattgrünen Rasen formierte.
»Jetzt sinkt es allmählich ein«, murmelte der Chef des Campus leise.
»Ja«, nickte Clark. Seit Yucca waren sechs Tage vergangen und vier Tage, seit Brians Leiche von Tripolis nach Hause überführt worden war. Endlich fanden sie die Zeit, alles in sich einsinken zu lassen, was sich zugetragen hatte. Der Campus hatte einen großen Sieg für das Land erfochten, aber einen hohen Preis dafür bezahlt.
Im Laufe des Vormittags hatte es geregnet, doch die Wolkenfront war vor etwa einer Stunde weitergezogen. Eine bleiche Nachmittagssonne war durch die Wolkendecke gebrochen und übergoss nun die weißen Grabsteine mit ihrem Licht, die wie von selbst aufzuleuchten schienen. Parallel zur Ehrenwache mit dem Sarg marschierte eine Kapelle der Marines im Gleichschritt über den Rasen, und ein langsamer Trommelschlag begleitete den Trauerzug.
Bald kamen die Sargträger am Fußende des Grabes an; die Familienmitglieder gruppierten sich dahinter. Der Kommandeur der Ehrenwache bellte gedämpft seine Befehle: »Ehrenwache … stillgestanden …«, dann: »Ehrenwache … absetzen.«
Auf Dominics Bitte hielt der Geistliche die Zeremonie kurz.
»Ehrenwache … Achtung! Ehrenwache … Präsentiert das Gewehr!«
Die Hymne des Marine Corps wurde gespielt, gefolgt von einem Ehrensalut. Die Marines schossen Salut mit knappen, fast roboterhaften Bewegungen, dann verhallte der letzte Schuss über dem Friedhof. Dann erklang der Taps, das einfache Trompetensalut, während Brians Flagge sorgfältig gefaltet und der Familie Caruso übergeben wurde. Zum Abschluss spielte die Marineband die Hymne der Marine: Eternal Father, Strong to Save.
Und dann war es vorbei.
Am nächsten Morgen, einem Montag, kehrte der Campus wieder zu seiner normalen Arbeitsroutine zurück, aber die Stimmung war merklich gedrückt. In den Tagen vor Brians Beerdigung hatte jeder einen eigenen Abschlussbericht verfasst und eingereicht, aber heute trafen sich die Mitglieder der nunmehr aufgelösten Kingfisher-Arbeitsgruppe zum ersten Mal zu einem Postmortem. Mit grimmig-entschlossenen Mienen betraten die Mitarbeiter den Konferenzraum. In stillschweigender Übereinstimmung wurde ein Stuhl am Tisch für Brian frei gehalten.
Die Antwort auf Jacks große Frage nach dem »Warum?« hatte alle überrascht. Der Emir hatte also tatsächlich noch Größeres für Lotus angestrebt. Verglich man Lotus mit einem Boxkampf, so wären die Anschläge in Heartland und der vereitelte Anschlag auf die Losan vielleicht so etwas wie kurze Gerade gewesen. Doch die Explosion im Atommüllendlager von Yucca Mountain hätte den ultimativen Aufwärtshaken dargestellt – ein äußerst brutaler Schlag, der den trägen Riesen bis in die letzten Knochen erschüttert hätte. Selbst mit dem unfähigen Edward Kealty als Steuermann hätten FBI und CIA bestimmt aufgedeckt, wer für die Anschläge verantwortlich war. Doch sie hätten nur sorgfältig konstruierte und mehrfach abgesicherte Legenden zu sehen bekommen – Legenden, die sie schließlich direkt zur Tür des Direktorats der ISI, des militärischen Geheimdienstes der Streitkräfte Pakistans, geführt hätten – und natürlich zu den radikalisierten Elementen im pakistanischen Generalstab. Schließlich wurden sowohl die ISI als auch der Generalstab seit Langem verdächtigt, den Krieg gegen den Terror nicht gerade enthusiastisch zu unterstützen.
Wie die Vereinigten Staaten nach den Anschlägen des 11. September fast sofort in Afghanistan einmarschiert waren, so würden auch sie nach Lotus schnell und brutal reagieren und ihre militärischen Operationen nach Osten über den Gebirgszug Safed Koh und den Hindukusch ausweiten. Nach Auffassung des Emirs würde damit Pakistan, ein ohnehin fast gescheiterter Staat, unvermeidlich weiter destabilisiert, und dies wiederum würde ein politisches Machtvakuum hervorrufen. Der Umayyad-Revolutionsrat würde in das Vakuum treten, die Macht an sich reißen und sich damit zugleich auch die Kontrolle über das beachtliche Atomwaffenarsenal Pakistans verschaffen.
»Das klingt ziemlich plausibel«, meinte Jerry Rounds. »Das Worst-Case-Szenario: Sein Kalkül hätte genau nach Plan aufgehen können. Dann hätten wir nichts anderes mehr tun können, als massiv in das Gebiet einzugreifen – verdammt, vielleicht hätten wir sogar unsere militärische Präsenz dort vervierfachen müssen.«
»Und wir hätten ein paar Jahrzehnte lang dort bleiben müssen«, ergänzte Clark.
»Man könnte sagen, der Irak wirkt auf die Islamisten wie ein Werbeplakat zur Rekrutierung von Militanten …«, bemerkte Chavez.
Jack nickte. »Eine Situation, durch die der Emir und sein URC nur gewinnen können«, fügte er hinzu.
»Ich habe Werner gebeten, sich zuerst einmal die Legenden genauer anzusehen«, sagte Dominic Caruso. »Er findet bestimmt etwas heraus. Trotzdem bleibt die Frage: War das der einzige Trick, den der Bastard noch auf Lager hatte?«
Und wie auf ein Stichwort klingelte das Telefon, das neben Hendleys Ellbogen auf dem Tisch stand. Er meldete sich, hörte kurz zu und sagte: »Bringen Sie Mary zu uns herauf.« Beim Auflegen sagte er in die Runde: »Vielleicht wird jetzt gleich eine unserer Fragen beantwortet.«
Eine Minute später betrat Mary Pat Foley den Raum und legte eine braune Aktenmappe vor Hendley auf den Tisch, der sie sofort aufschlug und zu lesen begann.
Währenddessen sagte Mary Pat zu Driscoll: »Collage hat endlich eine Erklärung für Ihr Sandkastenmodell ausgespuckt.«
»Wirklich?«
»Lasst mich mal raten«, sagte Chavez. »Schnee von gestern: Der Sandkasten ist Yucca Mountain.«
»Nein, ist er nicht«, sagte Hendley. Er schob die Mappe über den Tisch zu Clark und Jack, die den Inhalt gemeinsam überflogen. Jack blickte schließlich Mary Pat verwundert an. »Sind Sie sich sicher, dass das stimmt?«
»Wir haben es ein Dutzend Mal überprüft. Immer erhielten wir zweiundachtzig perfekte Übereinstimmungen der geografischen Daten.«
Dominic drängte: »Was ist es, nun sagt schon!«
»Kirgistan«, antwortete Clark, ohne von der Mappe aufzublicken.
»Was zum Teufel hatte der Emir in Kirgistan vor?«, fragte Chavez.
Gerry Hendley antwortete: »Das ist die Millionen-Dollar-Frage. Und wir sollten uns jetzt auf die Suche nach einer Antwort machen.«
Die Besprechung dauerte noch eine weitere Stunde. Um 11.00 Uhr nahm Jack ein frühes Mittagessen ein und fuhr nach Peregrine Cliff. Als er auf die Veranda trat, öffnete Andrea Price-O’Day die Tür.
»Das nenne ich guten Service«, sagte Jack. »Wie steht’s?«
»So wie immer. Das mit Ihrem Cousin tut mir leid.«
Jack nickte. »Danke. Wo ist Dad?«
»In seinem Arbeitszimmer. Er schreibt«, sagte sie nicht ohne Betonung.
»Ich klopfe ganz leise und vorsichtig.«
Und das tat er auch, hörte aber zu seiner Überraschung ein fröhliches »Herein!«.
Jack trat ein, setzte sich und wartete ein paar Sekunden, bis sein Vater einen Satz zu Ende getippt hatte. Schließlich drehte sich Ryan sr. auf seinem Bürostuhl zu ihm um. »Wie geht es dir?«
»Okay. Kommst du allmählich zum Ende?«, fragte er und nickte in Richtung Bildschirm, wo der Text der Autobiografie zu sehen war.
»Ich sehe Licht am Ende des Tunnels. Für heute lasse ich es gut sein und schreibe dann später weiter. Hast du heute Morgen gearbeitet?«
»Ja, wir haben ein Postmortem durchgeführt.«
»Was ist der letzte Stand?«
»Das FBI hat ihn. Das ist alles, was wir wissen. Vielleicht alles, was wir jemals wissen werden.«
»Er wird kapitulieren«, prophezeite der Expräsident. »Wird vielleicht ein paar Wochen dauern, aber dann wird er aufgeben.«
»Woher willst du das wissen?«
»Im Innern ist er ein Feigling, mein Junge. Das sind die meisten von ihnen. Er wird vielleicht eine richtig gute Show abziehen, aber er wird sie nicht durchhalten. Wir müssen noch über was anderes reden. Kealty hat bereits die Handschuhe ausgezogen.«
»Er sucht nach schmutziger Wäsche?«
Der Expräsident nickte. »Arnie schnüffelt ein wenig bei ihnen herum, aber es klingt so, als dächten Kealty und seine Leute an illegale Geheimdienste. Wird vielleicht nächste Woche zur Sensationsstory in der Post.«
»Illegale Geheimdienste«, wiederholte Jack. »Klingt ganz wie der Campus. Haben sie etwa …«
»Das kann ich noch nicht sagen. Vielleicht. Und wenn, dann werden sie es als Startschuss benutzen – um uns aus dem Wasser zu pusten, bevor die Regatta richtig losgeht.«
»Was können wir dagegen tun?«
»Es gibt kein ›wir‹, mein Sohn«, sagte Ryan milde, dann lächelte er. »Ich werde damit schon fertig.«
»Du wirkst nicht sonderlich besorgt«, meinte Jack. »Das gibt mir wirklich zu denken.«
»So ist es eben in der Politik. Es wird noch mehr Schlamm hin und her fliegen, aber Kealtys Tage sind gezählt. Die einzige Frage ist, wie lange er wohl braucht, bis ihm das selbst klar wird. Aber jetzt sage ich dir mal, was mir wirklich Sorgen macht.«
»Was denn?«
»Wie wir es deiner Mutter beibringen, dass du ins Familiengeschäft eingestiegen bist.«
»Oh, verdammt, ja.«
»Wenn die Sache mit dem Campus herauskommt und sie es in der Zeitung liest oder wenn sie zu dem Thema von einem Reporter richtig hart befragt wird, dann fallen wir beide, du und ich, bei ihr in sehr tiefe Ungnade.«
»Und was können wir dagegen tun?«
»Wir bleiben so vage wie möglich. Ich übernehme den Teil mit dem Campus. Und du erklärst ihr ein bisschen, was du dort so machst.«
»Aber nicht alles, okay? Kein Wort über Feldeinsätze.«
»Kein Sterbenswörtchen.« Jack jr. überlegte kurz. »Wird wohl besser sein, wenn auch du darüber nicht Bescheid weißt, stimmt’s?«
Ryan sr. nickte.
»Und wenn sie direkt danach fragt?«, wollte Jack wissen.
»Das wird sie nicht. Dazu ist sie viel zu klug.«
»Ich sage dir, Dad, ich freue mich nicht auf dieses Gespräch. Sie wird darüber nicht gerade glücklich sein.«
»Das ist eine gewaltige Untertreibung. Aber besser jetzt als später. Glaube es mir.«
Jack Ryan jr. dachte darüber nach und zuckte die Schultern. »Okay.«
Sein Vater stand auf und schlug seinem Sohn auf die Schulter.
»Kopf hoch, mein Sohn. Blicken wir gemeinsam dem Schicksal ins Auge.«
Die Soldaten leichter Einheiten – gemäß des MOS-Systems der US-Army ist das Eleven-Bravo leichte Infanterie – sollen wie geleckt aussehen, makellose Uniformen tragen und glatt rasiert sein. Hauptfeldwebel Sam Driscoll entsprach diesem Bild nicht und das bereits seit einiger Zeit. Zu einer Tarnung gehört eben oft mehr als eine mustergültige BDU (Battle Dress Uniform). Ach nein, so heißen sie ja nicht mehr, oder? Neuerdings werden sie »Army-Kampfanzüge«, also ACU (Army Combat Uniform) genannt. Genau dasselbe, genau dasselbe.
Driscolls Bart war gut zehn Zentimeter lang und so grau meliert, dass seine Männer ihn Santa Claus nannten – äußerst ärgerlich für einen Mann, der gerade 36 Jahre alt war, aber da die meisten seiner Landsleute mindestens zehn Jahre jünger waren… Nun ja, es hätte schlimmer kommen können, wenn sie ihn »Grandpa« genannt hätten.
Sein langes Haar ärgerte ihn erheblich mehr. Es war dunkel, ungepflegt und fettig, und sein Bart war verwahrlost. Hier war es jedoch für seine Tarnung wichtig, einen Bart zu tragen, und die Einheimischen kümmerten sich nicht um Haarschnitte. Auch hatten er und seine fünfzehn Männer sich wie Einheimische gekleidet. Ihr Kompaniechef, ein Captain, war ausgerutscht und hatte sich das Bein gebrochen – in dieser Gegend reichte das schon, außer Gefecht gesetzt zu werden –, und jetzt wartete er auf einem Hügel auf den Chinook-Hubschrauber, um sich mit einem der beiden Sanitäter evakuieren zu lassen. Der Sanitäter war bei ihm geblieben, um zu verhindern, dass er auch noch in einen Schockzustand fiel. Jetzt hatte Driscoll das Kommando für diesen Einsatz, was ihm nichts ausmachte. Er hatte mehr Fronterfahrung als Captain Wilson, obwohl der Captain einen Hochschulabschluss hatte, der Driscoll noch fehlte. Alles zu seiner Zeit. Erst einmal musste er diesen Einsatz überleben, bevor er wieder die Schulbank an der University von Georgia drücken konnte. Es ist schon komisch, dachte er, dass er fast drei Jahrzehnte gebraucht hatte, um endlich Lust aufs Studieren zu bekommen. Immerhin besser als nie, fand er.
Er war müde. Es war diese die Sinne betäubende Schläfrigkeit, welche die Rangers ständig begleitete. Er konnte tief und fest mit seinem Gewehrkolben als Kopfkissen auf einem Granitfelsen schlafen oder wachsam auf der Hut bleiben, während sein Hirn und sein Körper rebellierten und ihn um Schlaf anflehten. Sein Körper beschwerte sich einfach jetzt, da er seinem vierzigsten Geburtstag näher war als dem dreißigsten, sehr viel mehr, als er es noch vor zehn Jahren getan hatte, und Driscoll brauchte morgens doppelt so lange, um in die Gänge zu kommen. Andererseits wogen seine Weisheit und Erfahrungen diese Schmerzen auf. Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass der Geist die Materie beherrscht, auch wenn das ein abgegriffenes Klischee war. Und er hatte gelernt, seine Schmerzen auszublenden, was ihm sehr zugute kam, wenn er jüngere Männer führte, auf deren Schultern sich der Rucksack viel leichter anfühlte als auf den seinen. Das ganze Leben bestand aus Kompromissen, sagte er sich.
Sie bewegten sich jetzt seit zwei Tagen durch diese Hügel und bekamen nachts nur zwei bis drei Stunden Schlaf. Er gehörte zum Team für Spezialeinsätze des 75th Ranger Regiment, das fest in Fort Benning, Georgia, stationiert war. Dort hatten sie ein schönes Unteroffizierskasino, in dem es leckeres, frisch gezapftes Bier gab. Wenn er die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte er das herbe Bier noch immer schmecken, doch dieser Augenblick verflog viel zu schnell wieder. Hier musste er immer, jede Sekunde einen klaren Kopf bewahren. Sie befanden sich 15 000 Fuß über dem Meeresspiegel, in den Bergen des Hindukusch, in dieser Steinwüste, die gleichzeitig zu Afghanistan und Pakistan gehörte – in den Augen der Einheimischen war das Gebiet Niemandsland.
Driscoll wusste, dass die auf den Karten verzeichneten Linien besonders in indischen Gebieten wie diesem nicht mit dem Grenzverlauf übereinstimmten. Hin und wieder kontrollierte er seine GPS-Geräte, um seine genaue Position festzustellen, doch im Grunde waren bei dieser Mission weder Breiten- noch Längengrade von Bedeutung. Wichtig war nur das Ziel, das sie anpeilten, unabhängig von den Koordinaten, anhand deren es auf der Landkarte verzeichnet war.
Die einheimische Bevölkerung verstand nicht viel von Landesgrenzen und schenkte ihnen allenfalls minimale Beachtung. Für die Einheimischen war nur von Bedeutung, welchem Volksstamm sie angehörten, in welche Familie sie geboren waren und welcher Spielart des muslimischen Glaubens sie anhingen. Hier hatten Erinnerungen hundert Jahre lang Bestand, Geschichten mehr als das – und die alten gehegten Feindseligkeiten noch viel länger. Die Einheimischen prahlten immer noch stolz damit, dass ihre Vorfahren Alexander den Großen aus ihrem Land vertrieben hatten, und manch einer konnte noch jederzeit die Namen aller Krieger auflisten, welche die bis dahin unbesiegbaren makedonischen Lanzenmänner das Fürchten gelehrt hatten. Am liebsten sprachen sie jedoch von den Russen und darüber, wie viele sie getötet hatten. Die meisten hatten sie aus dem Hinterhalt erschossen, andere Auge in Auge erstochen. Wenn sie sich diese Geschichten, diese beharrlich von Vätern an Söhne überlieferten Legenden grinsend erzählten, lachten sie aus vollem Halse. Driscoll war sich jedoch sicher, dass die russischen Soldaten, die Afghanistan überlebt hatten, über ihre Erfahrungen nicht lachen konnten. Nein, die Leute hier waren ganz und gar nicht nett, das war ihm klar. Sie waren erschreckend brutal. Wetter, Krieg und Hunger hatten sie abgehärtet, und sie versuchten einfach nur in einem Land zu überleben, das alles daranzusetzen schien, möglichst viele seiner Einwohner umzubringen. Driscoll wusste, er sollte für diese Menschen Mitleid empfinden. Gott hatte ihnen einfach übel mitgespielt, und daran trugen sie wahrscheinlich keine Schuld, aber Driscoll eben auch nicht, und außerdem ging ihn das alles nichts an. Sie waren schlicht Feinde seines Landes, dessen Machthaber ihm und seinen Männern den Marschbefehl gegeben hatten, und jetzt waren sie da. Das war alles und der einzige Grund, warum er in diesen gottverdammten Bergen herumkroch.
Ein weiterer Grund war dieser Bergrücken. Seit sie aus dieser Deltaversion des Boeing CH-47 Chinook gesprungen waren – übrigens der einzige zur Verfügung stehende Hubschrauber, der in dieser Höhe eingesetzt werden konnte –, waren sie bereits fünfzehn Kilometer über spitze Felsen und Geröll hinaufgestürmt.
Da … der Kamm. Noch fünfzig Meter.
Driscoll verlangsamte das Tempo. Er führte den Spähtrupp als Stabsunteroffizier (Senior NCO) an, während seine für solche Einsätze ausgebildeten Männer sich auf etwa hundert Meter hinter ihm verteilten. Alarmbereit ließen sie die Blicke nach rechts und links, nach oben und unten schweifen und hielten ihre M4-Sturmgewehre kampfbereit im Anschlag. Sie rechneten damit, dass auf dem Kamm Wachposten stationiert waren. Die Einheimischen hatten zwar keine militärische Ausbildung, aber sie waren keineswegs dumm. Darum führten die Ranger diese Operation in der Nacht durch – 01:44 zeigte seine Digitaluhr. Die dicken, hoch stehenden Wolken sorgten dafür, dass weder Mond noch Sterne sie beleuchten konnten. Ideales Wetter zum Jagen, dachte er.
Sein Augenmerk war mehr nach unten als nach oben gerichtet, denn er wollte jedes Geräusch vermeiden, das er mit den Füßen verursachen könnte. Ein einziger losgetretener Stein, der den Hang runterrollte, konnte sie alle verraten. Und das durfte nicht passieren. Damit wären die drei Tage und die fünfzehn Kilometer, die sie ihrem Ziel so nahe gebracht hatten, umsonst gewesen.
Noch zwanzig Meter zum Kamm. Sechzig Fuß.
Mit den Augen suchte er die Kammlinie nach einer Bewegung ab. Nichts. Noch ein paar Schritte, Augen nach links und rechts, seinen schallgedämpften Karabiner fest an die Brust gedrückt und im Anschlag, den Finger leicht auf dem Abzugsbügel ruhend, damit er sofort schussbereit war.
Außenstehenden wäre nur schwer zu erklären, wie schwierig und ermüdend dies alles war und wie viel Kraft es kostete – sehr viel mehr als ein normaler fünfzehn Kilometer langer Marsch durch Wälder. Und das alles in dem Bewusstsein, jederzeit auf jemanden stoßen zu können, der seinen Finger auf dem Abzug einer auf Dauerfeuer stehenden AK 47 Kalaschnikow hatte, um dir den Arsch zu vierteilen. Seine Männer würden sich um so jemanden kümmern, aber Driscoll wusste, dass ihm das auch nicht mehr helfen würde. Er tröstete sich damit, dass er das in solch einem Fall auch nicht mehr mitkriegen würde. Er hatte genug Feinde getötet, um zu wissen, wie das ging: Man machte gerade noch einen Schritt mit lauernden Augen und Ohren … und dann nichts mehr. Tot.
Driscoll wusste, welche Regeln hier draußen in den Badlands mitten in der Nacht herrschten: Langsam ist schnell. Langsame Bewegungen und vorsichtige Schritte. Das hatte ihn in all diesen Jahren am Leben erhalten.
Erst vor sechs Monaten hatte er bei der Endausscheidung der besten Spezialeinsatzteams als Dritter abgeschnitten. Eigentlich waren Driscoll und Captain Wilson als Team 21 eingeteilt worden. Aber dann war Wilson mit einem gebrochenen Bein angepisst worden. Er war eigentlich ein ziemlich guter Ranger, dachte Driscoll, aber ein gebrochenes Schienbein war nun mal ein gebrochenes Schienbein. Wenn ein Knochen brach, konnte man nicht viel tun. Ein gezerrter Muskel tat auch verdammt weh, aber der heilte schnell wieder. Ein gebrochener Knochen musste geschient werden und heilen, und das bedeutete, im Army-Krankenhaus mehrere Wochen auf dem Rücken zu liegen, bevor die Ärzte einem erlaubten, das Bein wieder zu belasten. Und dann musste man erst wieder gehen und später rennen lernen. Das konnte einem ganz schön auf die Eier gehen … In seiner Laufbahn hatte er bisher Glück gehabt. Ein verrenktes Fußgelenk, ein gebrochener kleiner Finger und ein Bluterguss der Hüfte hatten ihn nie länger als eine Woche außer Gefecht gesetzt. Kein Kratzer von einer Kugel oder einem Granatsplitter. Der Ranger-Gott hatte es gut mit ihm gemeint. Das stand fest.
Noch fünf Schritte …
Okay, geschafft … Der Wachposten stand genau da, wo er ihn erwartet hatte. Fünfundzwanzig Meter rechts von ihm. Es war naheliegend, dort einen Wachposten zu stationieren, aber dieser machte einen hundsmiserablen Job. Er saß gelangweilt herum und schaute halb eingeschlafen zurück. Wahrscheinlich zählte er die Minuten bis zu seiner Ablösung. Langeweile konnte einen umbringen, und diesem Typen sollte genau das in weniger als einer Minute passieren, auch wenn er es nicht mehr merken würde. Es sei denn, ich schieße daneben, dachte Driscoll, wohl wissend, dass er das nicht tun würde.
Er drehte sich ein letztes Mal um und suchte die Gegend durch sein PVS-17-Nachtsichtgerät ab. Keiner in der Nähe. Okay. Er ließ sich nieder, hob den Karabiner an seine rechte Schulter und zielte mit angehaltenem Atem auf das rechte Ohr des Wachpostens …
Rechts führte ein schmaler Pfad hinunter, und von dort hörte er plötzlich, wie Leder über einen Felsen schrappte.
Driscoll erstarrte.
Schnell checkte er in Gedanken, wo der Rest seines Teams war. War jemand da drüben? Nein. Sie waren alle hinter und rechts von ihm verteilt. Übertrieben langsam drehte er den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Durch seine Brille sah er nichts. Er senkte seinen Karabiner und hielt ihn diagonal über die Brust. Dann sah er nach links. Drei Meter entfernt kauerte Collins hinter einem Felsen. Driscoll gab ihm Zeichen: Geräusch von links, nimm zwei Männer mit. Collins nickte und zog sich im Krebsgang zurück. Driscoll tat dasselbe und legte sich zwischen zwei Büschen flach auf den Boden.
Von dem Pfad her ertönte jetzt ein anderes Geräusch: Flüssigkeit spritzte gegen einen Stein. Driscoll musste lächeln. Die Notdurft verlangte ihr Recht. Das Geräusch von Wasserlassen wurde schwächer und verstummte dann ganz. Schritte bewegten sich den Pfad herunter. Sieben Meter entfernt, schätzte Driscoll, hinter der Kurve.
Kurz darauf erschien eine Gestalt auf dem Weg. Sie bewegte sich langsam, fast träge. Durch seine Nachtsichtbrille konnte Driscoll sehen, dass sie eine AK 47 Kalaschnikow über der Schulter hängen hatte, deren Lauf nach unten gerichtet war. Der Wachmann kam immer näher. Driscoll rührte sich nicht. Fünf Meter … dann drei.
Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten und glitt hinter den Wachmann, über dessen Schulter erst eine Hand erschien und dann die Klinge eines Messers aufblitzte. Collins drehte den Mann nach rechts auf den Boden, wo ihre Schatten miteinander verschmolzen. Es dauerte einige Sekunden, bis Collins sich erhob, vom Weg abduckte und den Mann aus dem Blickfeld zog.
Ausschalten eines Wachpostens wie aus dem Lehrbuch, dachte Driscoll. Anders als in Filmen kam das Messer im wirklichen Leben eher selten zum Einsatz. Dennoch hatte Collins diese Kunst nicht verlernt.
Wenige Augenblicke später tauchte Collins wieder neben Driscoll auf. Dessen Aufmerksamkeit galt jetzt dem Wachposten oben auf dem Kamm. Der war noch da, hatte sich nicht bewegt. Driscoll brachte sein M4 wieder in Anschlag, zielte auf den Nacken des Mannes und legte seinen Finger an den Abzug.
Langsam, langsam … Druck an der Fingerkuppe steigern …
Plopp. Ein kaum zu hörendes Geräusch, jedenfalls nicht weiter als fünfzig Meter. Dennoch hatte die Kugel den Kopf des Ziels durchschlagen. Nach einem letzten Atemzug war der Mann auf dem Weg zu Allah oder zu welchem Gott auch immer. Ein etwas über zwanzigjähriges Wachsen, Essen, Lernen und wahrscheinlich auch Kämpfen hatte ohne Vorwarnung ein abruptes Ende genommen.
Die Zielperson brach zusammen und kippte seitwärts aus dem Blickfeld.
Pech für dich, Gomer, dachte Driscoll. Aber wir haben heute Nacht noch mehr vor.
»Wache ausgeschaltet«, sagte Driscoll ruhig in sein Funkgerät. »Der Kamm ist sauber. Kommt rauf. Macht keine Fehler.« Den Zusatz hätte er sich schenken können – jedenfalls bei diesen Männern.
Er schaute zurück und sah, dass sie sich jetzt etwas schneller bewegten – gespannt, aber kontrolliert und kampfbereit. Das konnte er an ihrer Haltung erkennen und daran, dass sie keine Bewegung zu viel machten. Das unterschied wahre Schützen von den Angebern und Draufgängern, die nur darauf warteten, ins Zivilleben zurückzukehren.
Ihr eigentliches Ziel war jetzt vermutlich weniger als hundert Meter entfernt, und sie hatten die letzten drei Monate hart trainiert, um diesen Bastard beim Kanthaken zu kriegen. Diese Kletterei war für keinen ein Vergnügen, außer vielleicht für die paar Verrückten, die unbedingt den Mount Everest oder den K2 besteigen wollen. Wie auch immer, zu diesem Job gehörte es dazu, und alle hatten sich damit abgefunden. Langsam bewegten sie sich hangaufwärts.
Die fünfzehn Männer bildeten drei Teams mit je fünf Rangern. Ein Team musste mit seinen schweren Waffen hierbleiben. Sie hatten zwei M249 SAW Maschinengewehre, um ihnen Deckung zu geben, aber sie hatten keine Ahnung, auf wie viele böse Jungs sie stoßen würden, und die SAWs konnten für Ausgleich sorgen. Satelliten konnten ein Terrain nur begrenzt auskundschaften, und sie mussten vor Ort mit Überraschungen rechnen. Seine Männer suchten mit den Augen die Felsen nach kleinsten Bewegungen ab – und wenn nur einer der bösen Jungs Müll rausbrachte. In diesem Gestrüpp konnten sie zu neunzig Prozent davon ausgehen, dass jeder, dem sie begegneten, ein Böser war. Das machte den Job irgendwie einfacher, dachte Driscoll.
Jetzt pirschte er sich noch langsamer vorwärts. Sein Blick wanderte von seinen Füßen, wo er keinen Stein und Zweig übersehen durfte, nach vorn und wieder zurück … Auch das war eine Art von Weisheit, dachte er, dass er die Erregung unterdrücken konnte, die ihn so kurz vor dem Ziel packen wollte. Sie hatte schon viele Rekruten das Leben gekostet, wenn sie glaubten, so kurz vor dem Ziel das Schlimmste überstanden zu haben. Genau dann schlug der gute alte Murphy zu, der das sprichwörtliche Murphys Law entdeckt hatte. Er tippte dir auf die Schulter und bescherte dir eine hässliche Überraschung. Ahnungen und Erwartungen waren die tödliche Seite derselben Medaille. Beide konnten im falschen Moment dein Ende bedeuten.
Aber nicht dieses Mal. Nicht wenn ich die verdammte Verantwortung habe. Und nicht mit einem Team, das so gut war wie seines.
Die vor ihm sich abzeichnende Kammlinie war keine sieben Meter weit entfernt. Driscoll beugte sich katzenhaft vor und achtete darauf, dass sein Kopf unterhalb dieser Linie blieb, damit er nicht für einen wachsamen Gomer zur Zielscheibe wurde. Über die letzten Meter robbte er flach am Boden, bis er sich vorbeugen und mit der linken Hand auf einem Felsen abstützen konnte. Er hob den Kopf.
Und da war sie … die Höhle.
Treibstoff niedrig«, tut-tut, »Treibstoff niedrig«, warnte die Computerstimme. »Weiß ich doch, weiß ich«, knurrte der Pilot.
Natürlich hatte er alle wichtigen Informationen auf dem CRT-Monitor seines Instrumentensystems. Schon vor einer Viertelstunde hatte die Hauptwarnlampe des Bordcomputers zu blinken begonnen. Vor zehn Minuten hatten sie die kanadische Küste überflogen und hatten nun eine Landschaft unter sich, die, bei Tageslicht betrachtet, mit grünen Feldern und verkrüppelten Bäumen bedeckt war. Falls er die Navigation nicht völlig vermasselt hatte, würden sie bald das erste Licht der Dämmerung sehen. Jedenfalls flogen sie jetzt mit »trockenen Füßen«, also über Land – was für eine Erleichterung!
Der Wind über dem Nordatlantik war stärker gewesen als erwartet. Um diese Zeit ging der größte Teil des Nachtflugverkehrs Richtung Osten, und die anderen Flugzeuge hatten sehr viel mehr Treibstoff in ihren Tanks als eine Dassault Falcon 9000. Jetzt hatten sie nur noch Treibstoff für zwanzig Minuten. Nur zehn Minuten mehr, als sie brauchten. Die angezeigte Fluggeschwindigkeit betrug knapp über 500 Knoten, die Flughöhe 25 000 Fuß, und sie waren im Sinkflug.
»Gander Control«, sagte er in das Funkmikrofon, »hier ist Hotel null-neun-sieben Mike Foxtrot, Landeanflug zum Auftanken, over.«
»Mike Foxtrot«, kam die Antwort, »hier ist Gander. Schwach windig. Piste zwo-neun für normalen Anflug.«
»Schwach windig?«, murmelte der Kopilot. »Verdammt.« Sie waren gerade durch einen mehr als hundert Knoten schnellen Wind geflogen, so heftig wie ein Jetstream, der sie drei Stunden lang durchgeschüttelt hatte, was zwar auf 41000 Fuß Höhe nicht mehr so schlimm, aber doch spürbar gewesen war. »Dieser Flug übers Wasser reicht mir für eine Weile.«
»Vor allem«, meinte der Pilot, »wenn der Wind so stark ist, dass die Abgase fast wieder als Treibstoff in die Motoren zurückgeblasen werden.«
»Ist alles klar mit dem Zoll?«
»Denke schon. Wir haben den CANPASS, und wir haben die Flugfreigabe für Moose Jaw. Machst du das Immigrationszeug?«
»Ja, okay.« Beide wussten natürlich, dass es keineswegs okay war, denn von Gander bis zu ihrem letzten Ziel würde ihr Flug ein wenig irregulär sein. Nun gut, dafür wurden sie schließlich bezahlt. Und der Euro-Dollar-Wechselkurs würde sich für sie ebenfalls günstig auswirken. Vor allem in kanadischen Dollars.
»Ich sehe die Lichter. Fünf Minuten bis zur Landung«, sagte der Kopilot.
»Roger. Landebahn in Sicht«, sagte der Pilot. »Landeklappen.«
»Landeklappen gehen auf zehn.« Der Kopilot drückte auf die Knöpfe an der Instrumententafel, und sie hörten das Surren der Elektromotoren, die die Landeklappen ausfuhren. »Soll ich die Passagiere aufwecken?«
»Nein«, entschied der Pilot. »Wozu?« Wenn er seinen Job ordentlich machte, würden sie nichts bemerken, bis die Maschine wieder beim Start beschleunigte. Er hatte sich seine Sporen verdient und hatte sich nach 20000 Flugstunden bei der Schweizer Fluggesellschaft Swiss pensionieren lassen. Dann hatte er eine eigene Dassault Falcon gekauft und flog nun Millionäre und Milliardäre durch ganz Europa und um den Globus. Die meisten Leute, die sich seine Dienste leisten konnten, flogen immer zu denselben Zielen – Monaco, Harbor Island auf den Bahamas, Saint-Tropez, Aspen. Dass seine derzeitigen Passagiere zu keinem dieser Orte flogen, war zwar ein wenig seltsam, aber wenn man ihn ordentlich bezahlte, waren ihm ihre Reiseziele egal.
Sie gingen weiter hinunter, kamen auf 10000 Fuß. Die Landebahnlichter waren klar zu sehen, eine gerade Gasse in der Dunkelheit. Hier war früher ein Geschwader F-84 Abfangjäger der United States Air Force stationiert gewesen.
Sie gingen auf 5000 Fuß und sanken noch weiter. »Landeklappen auf zwanzig.«
»Roger. Landeklappen auf zwanzig«, bestätigte der Kopilot.
»Fahrwerk«, befahl der Pilot, und der Kopilot betätigte den Schalter. Das Geräusch starker Luftströmungen drang in das Cockpit, als sich die Klappen der Fahrwerksschächte öffneten und die Streben herausfuhren. 300 Fuß.
»Ausgefahren und eingerastet«, meldete der Kopilot.
Der Pilot spannte kurz die Armmuskeln an, dann entspannte er sie wieder, steuerte die Maschine sanft, ganz sanft abwärts, suchte den richtigen Punkt für das Aufsetzen. Nur seine durchtrainierten Sinne nahmen es wahr, als die Falcon auf den Zehn-auf-zehn-Meter-Betonplatten aufsetzte, aus denen die Landebahn bestand. Er schaltete auf Gegenschub, und die Dassault wurde langsamer. Ein Leitfahrzeug mit blinkenden Lichtern wies ihn zu einer Stelle, an der bereits ein Tanklastwagen wartete.
Sie blieben insgesamt zwanzig Minuten lang auf dem Boden. Ein Zollbeamter befragte sie über Funk und konnte keine Abweichungen von ihren CANPASS-Daten feststellen. Währenddessen hängte draußen der Fahrer des Tanklastwagens die Zuleitung wieder vom Füllstutzen des Flugzeugs ab.
Okay, das haben wir hinter uns, dachte der Pilot. Auf zum zweiten Abschnitt unseres dreiteiligen Flugs.
Die Falcon rollte zum Nordende der Startbahn. Wie immer arbeiteten sie die Start-Checkliste ab und warteten auf die Startfreigabe. Eine gleichmäßige Beschleunigung, dann wurde das Fahrwerk wieder eingefahren, danach die Landeklappen, gefolgt vom Steigflug. Zehn Minuten später erreichten sie 37000 Fuß, die von der Flugleitstelle in Toronto vorgegebene Flughöhe.
Sie flogen mit Mach 0,81 nach Westen – ungefähr 520 Knoten oder 600 Meilen pro Stunde Fluggeschwindigkeit über Grund. Die Passagiere schliefen. Die Motoren schluckten gleichmäßig ihre 1900 Liter Treibstoff pro Stunde. Der Transponder meldete Geschwindigkeit und Flughöhe an die Radargeräte der Flugleitstelle, aber davon abgesehen gab es keinen Anlass für weiteren Funkkontakt. Bei schlechterem Wetter hätten sie vermutlich um eine andere – wahrscheinlich höhere – Flughöhe gebeten, damit der Flug ruhiger verlief, aber Gander Tower hatte recht behalten. Nachdem sie eine Kaltluftfront durchflogen hatten, die ihren Flug nach Neufundland gebremst hatte, hätte man den Eindruck gewinnen können, dass sich überhaupt nichts mehr bewegte, wäre nicht das gedämpfte Röhren der Düsentriebwerke hinten an der Maschine gewesen. Pilot und Kopilot redeten wenig. Sie hatten so viele gemeinsame Flugstunden hinter sich, dass sie sich alle Witze erzählt hatten, und auf einem derart ereignislosen Flug gab es ohnehin keinen Anlass für weitere Gespräche. Alles war genau durchgeplant, bis hin zum buchstäblichen letzten Komma. Beide überlegten, wie es wohl in Hawaii sein würde. Für jeden war eine Suite im Royal Hawaiian gebucht; sie konnten sich auf einen langen Schlaf freuen, um den unvermeidlichen Jetlag loszuwerden, der sich ganz bestimmt nach einem um zehn Stunden verlängerten Tag einstellen würde. Nun ja, gegen ein Nickerchen am sonnigen Strand hatten sie nichts einzuwenden, und die Wettervorhersage für Hawaii ließ so gleichmäßig perfektes Wetter erwarten, wie es dort die Regel war. Sie planten einen zweitägigen Aufenthalt, bevor sie wieder in Richtung Osten zu ihren heimatlichen Gefilden in der Nähe von Genf aufbrechen würden – ein Rückflug ohne Passagiere.
»Moose Jaw in vierzig Minuten«, meldete der Kopilot.
»Na, dann machen wir uns mal wieder an die Arbeit.«
Ihr Plan war einfach. Der Pilot schaltete das Hochfrequenz-Funkgerät ein – ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg – und rief Moose Jaw, kündigte den Flug und den Zeitpunkt des Landeanflugs sowie die geschätzte Landezeit an. Der Tower in Moose Jaw übernahm die Informationen von der zuständigen Bezirkskontrollstelle, dem Area Control Center in Toronto, und überprüfte die alphanumerischen Daten des Transponders auf den eigenen Monitoren.
Die Dassault verlor in einem vollkommen normalen Anflug an Höhe, wie auch das Kontrollzentrum in Toronto prompt bemerkte. Die Ortszeit war 03.04 – oder Zulu – 4.00, um es auch in der Greenwich Mean oder Universal Time auszudrücken, vier Stunden weiter östlich.
»Da ist sie«, verkündete der Kopilot. Die Landebahnlichter von Moose Jaw schimmerten aus der dunklen Landschaft herauf. »Höhe zwölftausend, sinkend, tausend pro Minute.«
»Transponder bereitmachen«, ordnete der Pilot an.
»Roger«, antwortete der Kopilot. Der Transponder war eine Spezialinstallation, die die Crew selbst vorgenommen hatte.
»Sechstausend Fuß. Landeklappen?«
»Lass sie«, befahl der Pilot.
»Roger. Landebahn in Sicht.« Der Himmel war klar, und die Landebahnlichter von Moose Jaw strahlten durch die wolkenlose Luft.
»Moose Jaw, hier ist Mike Foxtrot, over.«
»Mike Foxtrot, Moose Jaw, over.«
»Moose Jaw, unser Fahrgestell öffnet sich nicht. Bitte bereithalten. Over.« Diese Meldung ließ die Leute normalerweise munter werden.
»Roger. Melden Sie einen Notfall, over?«, erkundigte sich die Flugleitstelle sofort.
»Negativ, Moose Jaw. Wir überprüfen die Elektrik. Bitte bereithalten, over.«
»Roger, wir bleiben in Bereitschaft.« Nur ein Anflug von Besorgnis in der Stimme.
»Okay«, sagte der Pilot zu seinem Kopiloten, »auf tausend Fuß verschwinden wir aus ihrem Radar.« Das alles hatten sie natürlich gut geübt. »Höhe dreitausend und weiter sinkend.«
Der Pilot zog die Maschine leicht nach rechts. Damit zeigte sich auf dem Anflugradar in Moose Jaw eine Kursänderung, nichts Größeres, aber eben doch eine Veränderung. Bei weiterem Absinken der Flughöhe würde das vielleicht in den Radaraufzeichnungen interessant aussehen, falls sie jemand überprüfen sollte, was freilich zu bezweifeln war. Nur ein weiterer Punkt, verloren im Luftraum.
Zweitausend«, meldete der Kopilot. Auf der geringeren Flughöhe war die Luft ein wenig böiger, aber lange nicht so böig, wie es manchmal werden konnte. »Fünfzehnhundert. Sollten wir nicht die Sinkrate verringern?«
»In Ordnung.« Der Pilot schob das Steuerhorn ein wenig zurück und verringerte somit den Sinkwinkel, um auf 900 Fuß AGL, also Höhe über Grund, zu bleiben. Das war tief genug, um in den Bereich der Bodenechos von Moose Jaw zu gelangen. Obwohl die Dassault alles andere als unauffällig war, erkannten die meisten zivilen Luftkontrollradare vor allem die Transpondersignale, aber selten die vom Flugzeug reflektierten Radarsignale. In der kommerziellen Luftfahrt war ein Flugzeug auf dem Radarschirm nichts weiter als ein angenommenes Zeichen am Himmel.
»Mike Foxtrot, Moose Jaw, melden Sie Ihre Flughöhe, over.«
Das würden sie jetzt eine Weile so weitertreiben. Die Fluglotsen im Tower waren ungewöhnlich wachsam. Vielleicht sind wir zufällig mitten in eine ihrer Übungsstunden geflogen, dachte der Pilot. Schlecht, aber kein größeres Problem.
»Autopilot abgeschaltet. Handflug.«
»Pilot übernimmt«, antwortete der Kopilot.
»Okay, Schleife rechts. Transponder ausschalten«, ordnete der Pilot an.
Der Kopilot schaltete Transponder eins aus. »Abgeschaltet. Wir sind unsichtbar.« Jetzt wurde Moose Jaw erst richtig aufmerksam.
»Mike Foxtrot, Moose Jaw. Flughöhe melden, over«, befahl die Stimme, jetzt deutlich schärfer. Der Befehl wurde noch einmal wiederholt.
Die Falcon flog eine nördliche Schleife und ging dann auf Kurs zwo-zwo-fünf über. Die Landschaft war flach, und der Pilot überlegte kurz, ob er auf 500 Fuß hinuntergehen solle, entschied sich aber dagegen. Nicht nötig. Wie geplant war die Maschine soeben von den Radarschirmen von Moose Jaw verschwunden.
»Mike Foxtrot, Moose Jaw. Flughöhe melden, over!«
»Klingt ziemlich aufgeregt«, bemerkte der Kopilot.
»Kann ich gut verstehen.«
Der Transponder, den sie soeben ausgeschaltet hatten, stammte aus einem ganz anderen Flugzeug, das wahrscheinlich momentan in seinem Hangar in Söderhamn, Schweden, geparkt war. Dieser Flug kostete den Charterkunden 7000 Euro Zuschlag, aber die Flugcrew stammte aus der Schweiz und wusste, wie man Geld verdient, und schließlich flogen sie hier ja keine Drogen oder solches Zeug. Viel Geld oder nicht – diese Art von Ladung war es wirklich nicht wert.
Moose Jaw lag inzwischen vierzig Meilen hinter ihnen, und dem Doppler-Radar zufolge vergrößerte sich die Entfernung um sieben Meilen pro Minute. Der Pilot glich mit dem Steuerhorn den Seitenwind aus. Der Computer neben seinem rechten Knie würde die Abdrift berechnen, und der Computer kannte die Strecke genau, die sie fliegen wollten.
Oder jedenfalls einen Teil der Strecke.