Ruth Grützbauch ist Astronomin und betreibt ein mobiles Planetarium, das in ein Lastenrad passt. In ihrem Buch erzählt sie die Geschichte des Kosmos erstmals als eine der Galaxien. Sie nimmt uns mit auf einen Roadtrip ans Ende des Universums. Dabei lernen wir, welcher Galaxientyp wir sind, was passiert, wenn Galaxien Tango tanzen, wo wir in der Atacamawüste ein Quantum Trost finden und wie wir dem Monster im Zentrum der Milchstraße Paroli bieten. Nebenbei erhalten wir zudem Antworten auf die ganz großen Fragen: Warum gibt es Etwas und nicht Nichts? Und wie wird das alles eines Tages enden? Sind Sie bereit für ein unvergessliches Abenteuer? Schnallen Sie sich an!
Ruth Grützbauch ist Astronomin und hat zu Zwerggalaxien promoviert. Bis Sommer 2017 war sie als Wissenschaftsvermittlerin im Jodrell Bank Discovery Centre tätig, einem der größten Radioteleskope der Welt nahe Manchester. Seitdem ist sie mit ihrem Pop-up-Planetarium, das in ein Lastenrad passt, v. a. in Österreich unterwegs, um den Menschen die unendlichen Weiten des Weltraums näherzubringen. Seit Anfang 2020 gestaltet sie zusammen mit Florian Freistetter den Podcast »Das Universum«, der zu den erfolgreichsten deutschen Wissenschaftspodcasts gehört.
Ruth Grützbauch
Per Lastenrad durch die Galaxis
Es nieselt, of course. Das Jodrell Bank Discovery Centre südlich von Manchester, UK, ist heute, wie so oft, in eine schwere, graue, nasskalte Wolke eingehüllt. Das beinahe 90 Meter hohe Radioteleskop, das direkt neben mir auf der Wiese steht, wird zur Hälfte von den Wolken verschluckt – nur die vier an den Eiffelturm erinnernden Füße der gigantischen, 1500 Tonnen schweren Stahlkonstruktion auf ihren riesigen, schon leicht angerosteten Eisenbahnrädern, verraten, dass es überhaupt da ist.
Ich bin auf dem Weg ins Nachbargebäude, wo unser aufblasbares Planetarium darauf wartet, von mir in Betrieb genommen zu werden. Es ist 10 vor 10, der erste Reisebus hat gerade eingeparkt und einige Weltraumenthusiasten stürmen schon lautstark über den Parkplatz in Richtung Hauptgebäude. In 15 Minuten sind sie bei mir. Ich lege einen Zahn zu und nehme die Abkürzung über die Wiese, die – oh shit! – wieder mal knöcheltief unter Wasser steht. Kann es sein, dass es in Manchester wirklich noch nasser ist als im verregneten Leeds? Mit eingeweichten Zehen komme ich im Event Space an, wo das Planetarium friedlich eingerollt wie ein schlafendes Tier am Boden liegt. Ich werfe den Ventilator und den Projektor an, und in 10 Minuten ist der Weltraumsimulator aufgepumpt – eine dunkelblaue Halbkugel mit sechs Metern Durchmesser und fast vier Metern Höhe, in deren Innerem in die völlige Dunkelheit hinein eine realistische Simulation des Weltraums rundherum an die Kuppel projiziert wird, natürlich basierend auf echten Beobachtungsdaten und Modellrechnungen des Universums – wir sind ja ein Science Centre.
Ich schiebe mich durch die wobbelige Tür des Planetariums nach draußen (think »Luftburg« …), gerade als die ersten Kinder um die Ecke kommen und durch die Glastür die riesige blaue Bubble hinter mir erblicken. Ich kann ihr Gejapse zwar noch nicht hören, aber sehe ihre aufgerissenen Münder und Augen, ihr Gehüpfe und die strenge Geste der Pädagogin gleich hinter ihnen. Ich hole einmal tief Luft ‑ performance mode on – und öffne die Tür.
30 Augenpaare schauen mich erwartungsvoll an.
»Hello Everybody and welcome to Jodrell Bank Discovery Centre!« – »Warst du schon mal im Weltraum?« – »Nein, leider, sie lassen mich nicht! Nah, just kidding.« Wir sprechen kurz über Jodrell Bank, das 60 Jahre alte Teleskop (»older than Grandma!«) und den Unterschied zwischen Astronautinnen und Astronomen und was uns in der kommenden Dreiviertelstunde im Planetarium erwartet. Im Gänsemarsch verschwindet die Gruppe im Sternenzelt und ich schlüpfe schnell hinterher, bevor zu viel Luft entweicht. Der Übergang wirkt – sogar für mich, nach gefühlt hunderten Shows. Das Eintauchen ins Planetarium verursacht noch immer ein leicht kribbeliges Gefühl. Das komplett abgedunkelte Kuppelzelt schafft einen separaten Raum, der die Außenwelt so effektiv abschottet, dass man sie vergisst – obwohl uns ja nur ein dünnes Stück Stoff von ihr trennt. Wir schauen uns die Sternbilder an, fliegen zu den Planeten des Sonnensystems und durch die Milchstraße, und wenn wir Zeit haben, zoomen wir auch noch zur Andromedagalaxie, unserer Nachbargalaxie, und gleichzeitig das am weitesten entfernte Ding, das man ohne Teleskop am Himmel sehen kann. Das Licht ihrer fast 1 Billion Sterne war etwa zweieinhalb Millionen Jahre unterwegs zu uns, mit 300 000 Kilometern pro Sekunde durch den leeren Weltraum, nur um dann auf unsere Augen (bzw. Teleskope) zu fallen. Wir sehen diese Galaxie, wie sie zu einem Zeitpunkt ausgesehen hat, als es auf der Erde noch nicht einmal Menschen gab. Es ist ein dankbarer Job, die jungen Besucher:innen sind immer begeistert und wollen einfach alles wissen. Ihr Enthusiasmus färbt auf mich ab und entschädigt für das frühe Aufstehen und die fehlenden langen Nächte in Teleskop-Kontrollräumen auf einsamen Berggipfeln. Ja, die Entscheidung, aus der Forschung auszusteigen, war freiwillig, und ich bereue sie nicht, aber ab und zu vermisse ich mein altes Leben schon ein bisschen.
Die Kinder sind also leichte Beute. Aber was ist mit den Erwachsenen? Ich liege oft, nachdem die letzte Schulgruppe draußen ist, noch kurz unter dem Sternenhimmel und sauge die Weite und Stille in mich auf, bevor auch ich in die »echte Welt« zurückkehren muss. Das Planetarium gilt ja oft als nicht ernsthaft und wissenschaftlich genug für Erwachsene. Für mich ist das mobile Planetarium jedoch eine der beeindruckendsten Erfahrungen, die ich im Zusammenhang mit der Astronomie gemacht habe, abgesehen vielleicht vom echten Sternenhimmel in der chilenischen Wüste oder dem Sonnenaufgang nach einer Beobachtungsnacht auf dem Mauna Kea hoch über dem pazifischen Wolkenmeer. Vielleicht ist es das Unerwartete, das Improvisierte, die Möglichkeit (beinahe) überall in einer Viertelstunde den Weltraum aufbauen zu können, was mich daran so fasziniert.
Als mich Freunde aus Leeds in Jodrell Bank besuchen kommen (die mich übrigens vor dem schlechten Wetter in Manchester gewarnt haben, nur ich ungläubige Kontinentaleuropäerin dachte, schlimmer kann es ja nicht werden), kommt mir spontan die Idee: Ich zeige ihnen das Planetarium. Mal schauen, was sie von unserem Kinderspielzeug halten.
Wir machen zuerst eine Runde um das Lovell Telescope, das einst größte voll bewegliche Teleskop der Welt und mit seiner 76 Meter großen, strahlend weiß gestrichenen Teleskop-Schüssel ein echt beeindruckendes Gerät, und dann schmuggele ich sie ins Planetarium. Das ist hier normalerweise nur ein Programmpunkt für Schulklassen, und nicht für Besucher:innen des Discovery Centres zugänglich (Julia, my dear boss, wenn du das liest, I apologise!). Wir schlüpfen ins Zelt hinein, legen uns hin und ich zeige ihnen ein paar der Highlights. Nach 10 Minuten fange ich an, mir Sorgen zu machen: keine Fragen, kein Kommentar, alle sind sie mucksmäuschenstill. Ich sehe mich um und frage in die Runde hinein: »Are you bored?« Das löst sofort ihre Passivität und plötzlich sprudelt es aus ihnen heraus: »Ich hatte ja keine Ahnung, ich wusste das alles nicht!« »Ist das alles echt?« »Stell dir vor, so ein Planetarium gäbe es auf einem kleinen Musikfestival, oder auf einer Weihnachtsfeier!« »Auf Hochzeiten!« »Im Shoppingcenter!« »Einfach so auf dem Marktplatz am Samstagnachmittag!« »Das musst du unter die Leute bringen!« Ich bin erleichtert.
Auf dem Heimweg zurück nach Manchester stehen wir wie üblich ca. eine halbe Stunde im Stau. Ich schaue aus dem Fenster und träume von meinem zukünftigen Planetariums-Business: »Das All kommt zu euch, der Weltraum besucht den öffentlichen Raum.« (»A Planetarium pops up in Public Space. Public Space Pop‑Up Planetarium«). Unsanft werde ich von einem ruckartigen Bremsmanöver im Stop-and‑go-Verkehr aus meiner Phantasie gerissen. Die roten Rücklichter der langen Autoschlange leuchten mir aufdringlich ins Gesicht. 25 Jahre sind seit der Unterzeichnung des Kyoto Protokolls vergangen, und wir bewegen uns immer noch in Metallkisten fort, angetrieben von einem eigentlich extrem wertvollen Material mit phantastisch hoher Energiedichte, dessen Verbrennung unsere Städte verdreckt und den ganzen Planeten aufheizt, und all das nur aus Bequemlichkeit. Es ist klar, dass wir den motorisierten Individualverkehr so schnell wie möglich hinter uns lassen müssen. Darum wollte ich auch bei meinem gerade Gestalt annehmenden, zukünftigen Projekt auf keinen Fall auf einen Verbrennungsmotor angewiesen sein. Nur, wie sollte ich ein Planetarium ohne Auto durch die Gegend karren? Als passionierte Stadtradlerin und Dank einer großen Schwester, die in Amsterdam lebt, war dann auch dafür ziemlich schnell eine Lösung gefunden: Für das Planetarium muss ein Lastenrad her. Ein Cosmobike, nicht nur als Alleinstellungsmerkmal für das zukünftige Business, sondern als dringend notwendiges Bekenntnis zur Nachhaltigkeit.
Jetzt brauchte ich nur noch ein Planetarium. Schnell war mir aber auch klar, dass ich nicht über das notwendige Kleingeld verfügte, um mir einen mobilen Planetariumsprojektor zu kaufen – die sind für mehrere zehntausend Euro im einschlägigen Handel zu erwerben. Und eine Förderung dafür zu beantragen – hmm … ich war mir nicht sicher. Ich glaube, ich wollte es einfach nicht von den Entscheidungen anderer Leute abhängig machen. Das war mein Projekt. Also, warum nicht einfach selber eines bauen? Und siehe da, eine schnelle Abfrage der allwissenden Müllhalde ergab: Das Internet ist nicht nur voll mit Katzenvideos, nein, es gibt dort auch detaillierte Anleitungen, wie man sich selbst ein Planetarium bauen kann. Mir gefiel auch sofort die Idee, dass man Dinge einfach selber machen kann. Die Anleitung für den Bau und auch die Software, die ich im Planetarium verwende, sind Open Source, also kostenlos und frei verfügbar und im Gedanken der Kollaboration geschrieben. Jede:r kann sie verwenden, verändern und weitergeben.
Zu der Zeit wurde mir auch immer klarer, dass ich doch nach Österreich zurückkommen wollte. Das Wetter, der Brexit, es war einfach an der Zeit. Und Anfang 2018 war es dann so weit, das Public Space Pop‑Up Planetarium wurde Realität. Seitdem haben mein Cosmobike und sein Sternenzelt schon über 15 000 Menschen in den Weltraum katapultiert.
Wissenschaft ist nicht fertig, solange die Ergebnisse nicht kommuniziert werden und so der Gesellschaft zugutekommen. Und damit meine ich nicht nur ganz konkret durch Anwendungen, sondern vor allem auch durch die Erweiterung unseres Wissens, das Wecken der Neugierde, das Teilen der Faszination und die Vermittlung der Schönheit, die dem Wissen innewohnt. Alle sollen wissen, was da draußen vor sich geht. Und wir sollten nicht darauf vertrauen, dass die Leute, die es interessiert, zu uns kommen. »We have to reach out.« Wir müssen hinausgehen und versuchen auch die, oder vielleicht sogar gerade die Leute zu erreichen, die nicht sowieso schon ein Interesse daran haben, mehr zu wissen. Es ist unsere Aufgabe als Wissenschaftler:innen, unser Privileg, das Universum erforschen zu können, mit allen zu teilen. Und es geht dabei nicht nur um das Mitteilen von Fakten. Es geht auch darum, die Interaktion zu suchen, das Subjektive in der objektiven Forschung hervorzuheben, denn Wissenschaft wird schließlich von Menschen und für Menschen gemacht.
Es klingt vielleicht kitschig, aber mir kommt es fast so vor, als hätte die Idee des Pop‑Up-Planetariums mich gefunden und nicht andersrum. Sie ist das Ergebnis vieler persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen in der Wissenschaft, dem Privileg, das Universum erforschen zu dürfen, und dem Bedürfnis, es zu teilen.
Ich würde mich freuen, wenn Ihr mich auf meinem Streifzug mit dem Lastenrad durch unsere Galaxis und darüber hinaus, durch das bewegte Leben der Galaxien und bis ans Ende des Universums begleiten würdet.
Wir liegen unter dem funkelnden Sternenhimmel. Tausende kleine Lichtpunkte, wie fein gestochene Löcher im samtig-schwarzen Firmament. Das nebelig-weiße Band der Milchstraße zieht sich einmal quer über den Himmel von Horizont zu Horizont. Ihr diffuses Leuchten ist zwar schwach, aber irgendwie schafft sie es trotzdem, uns ein Gefühl ihrer gigantischen Ausmaße zu vermitteln, federleicht und bombastisch zugleich, fast ein wenig überwältigend in ihrer Allgegenwärtigkeit. So sieht man den Sternenhimmel selten. Und doch ist es genau der Himmel, den wir draußen in der echten Welt auch sehen sollten, bei vollkommener Dunkelheit und ohne störende Wolken. Wir liegen im Planetarium und betrachten eine realistische Echtzeit-Simulation des Universums. Da, wo noch vor Kurzem der Turnsaal war, befindet sich nun der Weltraum, und zwar genau so, wie er von unserer Position auf der Erde aus tatsächlich aussieht – hier und jetzt. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre der künstliche Sternenhimmel echter als der echte. Ein Kind platzt heraus: »Woher wissen Sie, wie viele Sterne es gibt?« – »Sch! Das macht alles der Computer!«, zischt ein anderes.
Ja, wir wissen ziemlich genau, wie viele Sternlein stehen. Bei idealen Bedingungen sind es ca. 3000, die man gleichzeitig am Himmel sehen kann. Insgesamt, also in alle Richtungen um uns herum, sind es doppelt so viele – wir sehen ja zu jedem Zeitpunkt immer nur eine Hälfte des ganzen Himmels. Und das wissen wir nicht etwa deshalb, weil Gott der Herr sie gezählet hat, sondern weil Astronom:innen schon vor gut 2000 Jahren in der griechischen Antike und dann später, vor allem nach der Erfindung des Teleskops ab dem späten 17. Jahrhundert, den Himmel und die Position der Sterne genau vermessen und kartographiert haben. Diese insgesamt etwa 6000 Sterne sind jetzt aber nur die, die leicht als einzelne Sterne am Himmel zu erkennen sind. Das weiße, milchige Band unserer Galaxis, das besteht natürlich auch aus Sternen, nur sind diese Sterne schon so weit von uns entfernt, dass unsere Augen sie gar nicht mehr als einzelne Punkte auflösen können. Ihr Licht sehen wir gut, wir sehen nur nicht genau, woher es kommt. Und weil es so unglaublich viele dieser für unsere Augen unaufgelösten Sterne sind, kommt es zu dem milchigen Effekt.
Für jeden Menschen auf unserem Planeten gibt es in der Milchstraße ungefähr 40 Sterne. Das klingt jetzt nach gar nicht so viel, was zwei Dinge veranschaulicht: erstens, wie zahlreich die Erdbevölkerung mittlerweile geworden und zweitens, wie schlecht unser Gefühl für große Zahlen ist. 300 Milliarden Sterne ist eine unfassbar große Menge, vor allem, wenn man dabei berücksichtigt, dass ein Stern eine riesige Plasmakugel ist, in die durchschnittlich ungefähr eine Million Gesteinsplaneten wie unsere Erde hineinpassen würden. Manche Sterne haben auch ein paar hundert Mal den Durchmesser unseres durchschnittlichen Sterns, der Sonne, also das Volumen von einer Million Millionen Erden: den gleichen Durchmesser wie die Umlaufbahn des Jupiter. Was noch dazu kommt, ist, dass zwischen diesen einzelnen, unfassbar riesigen Plasmakugeln noch viel unfassbarere Weiten von praktisch leerem Raum liegen. Wäre die Sonne eine Orange und läge sie in der Wiener Innenstadt, dann befände sich der nächste Stern bei den großen Pyramiden von Gizeh, etwa 2500 km entfernt.
Alle Sterne die wir als einzelne kleine helle Punkte am Himmel sehen, befinden sich also in unserer Milchstraße, und zwar genauer gesagt in unserer näheren galaktischen Umgebung. Der nächtliche Sternenhimmel ist unsere kosmische Nachbarschaft, unser Viertel, unser Grätzl, unser Kiez. Eine grob kugelförmige Gegend mit ein paar tausend Lichtjahren Durchmesser, eingebettet in eine gigantische galaktische Sternenscheibe, die etwa 150 000 Lichtjahre groß ist. Ein 6000‑Sternen-Dorf inmitten einer 300 Milliarden starken galaktischen Stern-Union. Nur dass wir – glücklicherweise! – nicht in der Mitte der Galaxis sitzen, sondern ziemlich am Rand eines äußeren Spiralarms, wo wir etwa 26 000 Lichtjahre vom Zentrum der Milchstraße entfernt recht unbehelligt unsere Kreise ziehen. Wir sind also am inneren Rand des mittleren Drittels unserer Galaxis angesiedelt. Da die Sternenscheibe der Milchstraße auch eine gewisse Dicke hat (ca. 3000 Lichtjahre), sehen wir unsere Nachbarsterne überall um uns herum, also auch nach oben und unten (relativ zur Scheibe). Je weiter wir hinausschauen, desto mehr Sterne sehen wir entlang der Ebene der Milchstraße, und diese mehr und mehr Sterne verschwimmen dann zu dem diffus leuchtenden Band, das wir am Himmel sehen. Wir sehen die Sternenscheibe der Milchstraße edge‑on, also von der Seite her.
Und wie tief sehen wir in diese Scheibe hinein? Sind es eigentlich 300 Milliarden Sterne, die uns am Nachthimmel entgegenstrahlen? Nein, leider können wir nicht bis zur gegenüberliegenden Seite der Milchstraße durch die Sternenscheibe hindurchschauen, denn der leere Raum zwischen den Sternen ist eben doch nicht ganz leer. Durchschnittlich befindet sich im interstellaren Raum, also zwischen den Sternen, weit außerhalb des Sonnensystems, in jedem Kubikzentimeter Weltraum etwa 1 Atom (hauptsächlich Wasserstoff). Doch es gibt da draußen noch jede Menge viel dichtere Molekülwolken aus Gas und Staub, die sich genau in der Ebene der Sternenscheibe befinden. Diese Wolken bestehen hauptsächlich aus Wasserstoff (wie alle großen Dinge im Weltraum) aber auch aus dem, was in der Astronomie Staub genannt wird: meist einfache Moleküle, wie etwa CO2, Graphit oder Silikate, aber auch komplexere Moleküle wie Fullerene (wie z. B. das fussballförmige Kohlenstoffmolekül C60) oder organische Verbindungen wie etwa einfache Aminosäuren. Häufige Bestandteile der interstellaren Wolken sind ebenso Kohlenwasserstoffe wie zum Beispiel Ethanol (landläufig: Alkohol) und Ester. Erst kürzlich wurde in einer Wolke ein Ester mit dem klingenden Namen Ethylformiat entdeckt – ein Molekül, das wir auf der Erde gut kennen und beim Backen als Bestandteil von Rum- oder Himbeer-Aroma verwenden. Gemeinsam mit dem reichlich vorkommenden Wassereis gibt es in diesen Staubwolken also alle Zutaten, um sich einen erfrischenden Raspberry-Daiquiri zu mixen – nur trinken könnte man den bei den durchschnittlichen minus 250 Grad Celsius nicht. Auch wäre man bei der typischen Dichte dieser Wolken von ein paar hundert bis vielleicht ein paar zehntausend Atomen pro cm3 einige Zeit damit beschäftigt, genug Moleküle für einen kleinen Cocktail zusammenzukratzen. Das Wort Dichte ist hier überhaupt fehl am Platz – die Dichte dieser Wolken sollte eher »Dünne« genannt werden. Ein Kubikzentimeter Luft enthält etwa 10 hoch 19 Moleküle, das ist eine 1 mit 19 Nullen. Sogar im Ultrahochvakuum im Inneren der Röhre des Teilchenbeschleunigers LHC schwirren noch ca. 1 Million ungewollte Teilchen pro cm3 herum, also weitaus mehr als in einer typischen interstellaren Wolke.
Genau dort, in den dichteren Gebieten dieser Staubwolken (korrekterweise: Molekülwolken) entstehen übrigens die ganze Zeit neue Sterne – in der Milchstraße aktuell etwa ein Stern pro Jahr. Einige dieser Wolken kann man sogar am Nachthimmel sehen, mit freiem Auge zum Beispiel den Orionnebel und mithilfe eines kleinen Teleskops gleich daneben den Pferdekopfnebel, der tatsächlich aussieht, wie er heißt. Beide Nebel sind Teil einer riesigen Molekülwolke, die sich durch das ganze Sternbild des Orion zieht, hunderte von Lichtjahren groß und eines der aktivsten Sternentstehungsgebiete in unserem Teil der Milchstraße. Der Pferdekopfnebel veranschaulicht ziemlich gut das Problem, das wir mit diesen Staubwolken haben: Sie blockieren das Licht und uns somit die Sicht auf das, was dahinter liegt. Die Form des Pferdekopfes besteht aus einer dichten, kalten Staubwolke, deren Silhouette sich vor dem rötlichen Licht einer Wasserstoff-Gaswolke im Hintergrund abzeichnet. Die Hintergrundwolke leuchtet tatsächlich von selber – sie wird von nahen Sternen zum Leuchten angeregt. Das Licht der leuchtenden Gaswolke wird von der Staubwolke absorbiert. Genau das Gleiche passiert auch mit dem Licht der Sterne, das von der anderen Seite der Milchstraße zu uns kommt: Es wird von all dem dazwischenliegenden Staub in der Ebene der Sternenscheibe absorbiert. Der Staub konzentriert sich aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften viel stärker in der flachen Ebene der Milchstraße als die Sterne selbst. Darum wird das helle Band der Milchstraßensterne von einem dunklen Band des Milchstraßenstaubs durchzogen. Oberhalb und unterhalb des dunklen Bandes sieht man etwas mehr Sternenlicht – weil: weniger Staub. Besonders gut sichtbar ist der Staub in Richtung Zentrum der Milchstraße, dort, wo das milchige Band etwas dicker und heller wird, weil dort natürlich auch die Sternendichte höher ist.
Auf der Nordhalbkugel blicken wir ja leider weg vom galaktischen Zentrum und sehen darum das Zentrum der Milchstraße nur in den kurzen Sommernächten, und da auch nur knapp über dem Horizont. Auf der Südhalbkugel steht das Zentrum der Milchstraße in ihrer ganzen Pracht hoch am Himmel. In Australien kann man im Licht der Milchstraße angeblich Zeitung lesen. Die staubigen Dunkelwolken sind vor dem helleren Sternenhintergrund so markant, dass die Aborigines eine mythologische Gestalt in diesen Dunkelwolken sahen, den Emu in the Sky. Das klingt zwar romantisch, allerdings wäre ohne den interstellaren Staub-Emu der Nachthimmel dort und natürlich auch bei uns noch wesentlich heller und spektakulärer. So aber bleibt unseren Augen das galaktische Zentrum und weite Teile der Milchstraße verborgen.
Die Milchstraße ist also eine flache, runde, sich drehende Scheibe aus Sternen, Gas und Staub. Man kann sich die Struktur unserer Galaxie ein bisschen wie ein Wagenrad vorstellen, aber eines, das sich vielleicht gerade in seine Einzelteile zerlegt. Das ganze Gebilde dreht sich zwar gemeinsam, aber es rotiert nicht starr. Das heißt, die Sterne haben unterschiedliche Geschwindigkeiten, je nachdem, wie weit sie vom Zentrum der Galaxie entfernt sind. Vom Zentrum aus steigt die Geschwindigkeit der Sterne auf ihrer Bahn ums Zentrum rasch an, bis sie etwa dort, wo die Spiralarme ansetzen, ihre höchste Geschwindigkeit erreichen. Die Rotationsgeschwindigkeit wird noch weiter außen zwar wieder ein wenig langsamer, bleibt aber auf einem konstant hohen Niveau. Da der Weg, den die Sterne hier zurücklegen müssen, aber immer länger wird, brauchen sie auch immer länger für eine Umrundung des Milchstraßenzentrums und werden von den näher am Zentrum liegenden Sternen überholt. Könnten wir die Milchstraße im Zeitraffer von oben betrachten, sähe sie aus wie eine Kaffeetasse, in der umgerührt wird, nur ohne Löffel. Dessen Funktion übernimmt die Gravitation. Die gesamte Masse der Galaxie und die Art und Weise, wie diese Masse verteilt ist, bestimmt die Geschwindigkeit der Sterne auf ihrer Bahn um das Galaktische Zentrum.
Die Sonne bewegt sich auf ihrer Bahn mit etwa 220 Kilometern pro Sekunde. Das sind etwa 800 000 km/h. Für eine ganze Runde um die Galaxis brauchen wir etwa 240 Millionen Jahre, d. h. während drei Viertel der letzten Runde wurde unser Planet von Dinosauriern dominiert. Wir bewegen uns dabei auch nicht nur im Kreis, sondern auch leicht auf und ab. Die Sonne bewegt sich in regelmäßigen Abständen von etwa 30 bis 40 Millionen Jahren durch die Sternenscheibe nach oben und dann wieder nach unten, sie oszilliert, surft auf ihrer wellenförmigen Bahn auf und ab wie ein Pferdchen in einem galaktischen Karussell. Die Sterne in unserer Nachbarschaft haben ihre eigene Bahn und dementsprechend auch ihre eigenen, leicht unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Unser Sternendorf driftet im Laufe der Zeit langsam auseinander und wird von neuen, anderen Sternen besiedelt. Die Sonne hat sich in den 5 Milliarden Jahren ihres Lebens daher schon mit vielen verschiedenen Nachbarn auseinandersetzen müssen. Ihre Geschwister, also die Sterne, mit denen sie gemeinsam entstanden ist, sind schon lange in verschiedene Richtungen davongeflogen.
Woher wissen wir das alles? Das ist wahrscheinlich die häufigste Frage, die im Sternenzelt gestellt wird, und sicher eine der besten: Denn nicht nur die Fakten, sondern die Methoden dahinter sind das eigentlich Faszinierende. Fast alles, was wir vom Universum wissen, wissen wir ganz einfach, weil wir es sehen können. Das Licht, das in Sternen erzeugt wird, trägt die Information seines Ursprungs, also Position, Geschwindigkeit sowie Temperatur und Zusammensetzung des Sterns mit sich. Und noch viel mehr als das: Licht interagiert mit dem Material, das es auf seiner Reise durch den Raum durchquert. Auch diese Information über die Eigenschaften des interstellaren Materials steckt daher im Licht, das wir beobachten. Wir müssen es nur richtig detektieren und zerlegen, um an die Informationen ranzukommen.
Vieles im Universum sehen wir schon mit freiem Auge. Sogar das Licht der 2,5 Millionen Lichtjahre entfernten Sterne in der Andromedagalaxie ist ohne Hilfsmittel einfach so am Himmel zu beobachten (wenn man weiß, wo sie ist). So richtig schlau wird man aus dem Universum aber nur mithilfe von Teleskopen und entsprechenden Detektoren, Kameras, Photonenzählern, Spektrographen und so weiter. Was unser Wissen über die Milchstraße und ihre Sternbevölkerung betrifft, gibt es ein Teleskop, das durch die unglaubliche Menge an Informationen, die es gesammelt hat, heraussticht: das Gaia Weltraumteleskop. Bis Dezember 2020 hat Gaia unglaubliche 1,8 Milliarden Sterne 6‑dimensional vermessen, also ihre Position und Geschwindigkeit in jeweils 3 Raumrichtungen bestimmt. Aus diesen Daten lässt sich nicht nur die genaue räumliche Verteilung der Sterne, also die 3D-Gestalt der Milchstraße rekonstruieren, sondern teilweise auch ihre Entstehungsgeschichte entschlüsseln und in ihre Zukunft blicken. Wir können die Bahnen der Sterne über hunderttausende oder sogar Millionen Jahre zurückverfolgen und vorausberechnen. Das ist für ein Sternenleben nur eine kurze Zeitspanne, aber immerhin. Der endgültige, komplette Datensatz steht zwar noch aus und wird 2022 erwartet, aber aus den bisher verfügbaren Daten wissen wir mit Sicherheit, dass die Milchstraße nicht nur Spiralarme, sondern auch einen Balken hat. Ein Balken ist eine längliche, fast rechteckige Formation von Sternen, die das kugelförmige Zentrum einer Galaxie (den Bulge) mit ihrer flachen Scheibe verbindet. Die Spiralarme beginnen dann an den beiden Enden dieses kastenförmigen Balkens. Dieses Phänomen sehen wir zwar auch in vielen anderen Galaxien, aber dass die Milchstraße selbst einen Balken hat, war dann doch eine Überraschung. Genauso überraschend ist auch die neue, präzisere Abschätzung der Masse der Milchstraße, die durch Gaias genauere Entfernungs- und Geschwindigkeitsmessungen von Sternhaufen in den Randbereichen der Milchstraße möglich wurde: Die Galaxis ist vermutlich um 50 % schwerer, als wir bisher gedacht haben. Damit ist die Milchstraße nicht mehr Nummer 2 in unserer lokalen Galaxiengruppe, sondern ihrer nächsten großen Nachbargalaxie, der Andromedagalaxie, ebenbürtig.
Und auch die unsichtbaren Dinge im Universum können wir »sehen« – sofern es sich dabei um normale Materie handelt. Der ärgerliche Staub zum Beispiel, der Licht absorbiert und die Sterne dahinter unsichtbar macht, kann auch »sichtbar« gemacht werden. Das absorbierte Licht verschwindet nämlich nicht einfach, sondern wird entsprechend der Temperatur des Staubes als Wärmestrahlung wieder abgegeben. Alles, was eine Temperatur hat, gibt elektromagnetische Strahlung ab. Sichtbares Licht ist ja nur ein ganz kleiner Teil dieser elektromagnetischen Strahlung, und zwar der Bereich, in dem die Sonne ihrer Temperatur entsprechend am meisten Strahlung abgibt. Wenn man sich die Farben des Regenbogens übereinandergestapelt vorstellt, dann geht es über Violett und unter Rot in beide Richtungen weiter; heißere Dinge strahlen mehr im Ultravioletten und darüber hinaus im Röntgen- und Gammastrahlungsbereich, während kühlere Dinge, wie der interstellare Staub, im Infraroten sichtbar sind. Jeder Temperatur entspricht eine bestimmte Farbe: heiße Sterne strahlen eher bläulich, weniger heiße Sterne sind gelb und je weniger heiß sie sind, desto rötlicher leuchten sie. All die unterschiedlichen, unsichtbaren Farben können wir zwar nicht mit unseren angewachsenen Sensoren, dafür aber mit verschiedenen künstlichen Detektoren gut beobachten. Mit Infrarotteleskopen können wir die Eigenschaften des Staubes, aber auch die des Lichts, das die Staubwolken aufgewärmt hat, rekonstruieren und herausfinden, was sich dahinter verbirgt – wie zum Beispiel ein gigantisches Schwarzes Loch, wie es beim Zentrum der Milchstraße der Fall ist, und für dessen Nachweis im Herbst 2020 zwei Teams von Forscherinnen und Forschern den Physik-Nobelpreis erhalten haben.
Alles, was wir wissen, wissen wir mit einer gewissen Unsicherheit. Das ist keine Schwäche der Wissenschaft, sondern liegt in der Natur der Sache. Oft fragen mich Leute, Moment mal, sind es nun 200 oder 300 Milliarden Sterne? Ich habe kürzlich von den 100 Milliarden Sternen der Milchstraße gelesen. Und wer weiß, vielleicht sind es sogar 400 Milliarden. Die exakte Zahl bis auf den letzten Stern genau lässt sich nicht feststellen, nicht nur, weil es so viele und weil sie so weit weg sind. Die Frage selbst ist schon problematisch, und das Problem dabei ist: Wann ist jetzt? Das Licht der Sterne von der anderen Seite der Milchstraße braucht ja zigtausende von Jahren, bis es bei uns ist. Es werden zwar nur wenige, aber doch einige dieser Sterne in der Zwischenzeit explodiert sein (und nein, keiner der 6000 Sterne, die wir am Himmel sehen, ist schon explodiert, ganz einfach, weil Sterne so irrsinnig lange leben), und genauso sind sicher schon zigtausende neue Sterne in der Zwischenzeit dort entstanden. Eine Momentaufnahme der Galaxie »von oben« gibt es nicht, das Konzept der Gleichzeitigkeit ist eine Illusion. Die Anzahl der Sterne in der Milchstraße wird für uns immer nur eine Schätzung sein. Die Genauigkeit können – und werden – wir sicher noch verbessern, aber wir werden nie sagen können, dass es 314 159 265 358 Sterne sind. Und eigentlich ist das ja auch egal.