Dorothea Ernst

Nachhaltigkeit
effektiv gestalten

Wie Sie Ihre Organisation
zukunftsfähig machen

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© 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2021 erschienenen Buchtitel »Nachhaltigkeit effektiv gestalten« von Dorothea Ernst © 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http//dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-076-6

ISBN epub: 978-3-96740-126-4

Lektorat: Susanne von Ahn, Hasloh

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Coverabbildung: LovArt / shutterstock

Autorinnenfoto: Silvia Schulze

Satz und Layout: Lohse Design, Heppenheim | www.lohse-design.de

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Inhalt

Einleitung

Aufbau des Buches

1 Die Lage der Welt

1.1 Was bedeutet Nachhaltigkeit in diesem Buch?

1.2 Die Welt in einer Grafik

1.3 Ursachen für die mangelhafte Nachhaltigkeit

1.4 Vision 2050 – eine neue Wirtschaftsagenda

1.5 Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen

1.6 Corona – Katalysator für die Transformation?

2 Wie Phönix aus der Asche

2.1 Systemtransformation: Was ist das eigentlich?

2.2 Backcasting von einer Vision

2.3 Zeit hat unterschiedliche Dimensionen

2.4 Die Rolle von Bildern und Sprache in der und für die Transformation

2.5 Die Rolle der Wirtschaft für die Nachhaltigkeit, dargestellt in Bildern

2.6 Nachhaltigkeit im Unternehmen

3 Sei selbst die Veränderung, die du dir für die Welt wünschst

3.1 Führen auf dem Zwillingsweg

3.2 Haltung prägt Verhalten

3.3 Purpose: Sinnvoller Unternehmenszweck

3.4 Relevante Führungsphilosophien

4 Tue Gutes und rede darüber

4.1 Das eigene Narrativ entwickeln

4.2 Nachhaltigkeitsberichterstattung

4.3 Nachhaltigkeit im Marktkontakt

5 Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

5.1 Organisationskultur

5.2 Erfolgsmetrik

5.3 Bestimmung des Status quo

5.4 Nachhaltigkeit im operativen Tagesgeschäft

5.5 Alle Mitarbeiter mitnehmen

6 Back to the roots

6.1 Innovation für nachhaltige Entwicklung

6.2 Innovationsziel Nachhaltigkeit

6.3 Die Notwendigkeit von Kontextbezug

6.4 Neue Methoden

6.5 Horizonterweiterung und Perspektivwechsel

7 Wir sitzen alle in einem Boot

7.1 Ko-Kreation

7.2 Initiativen gegen den Klimawandel

7.3 Transformation zur Kreislaufwirtschaft

7.4 Systemische Wertschöpfung

7.5 Zusammenspiel von Mensch und Technik

8 Es gibt immer eine Alternative

8.1 Gleichgewichtsökonomie

8.2 Kreislaufwirtschaft

8.3 Gemeinwohlökonomie

8.4 Donut-Ökonomie

8.5 Kapitalismus neu gedacht

8.6 Andere Modelle

Schlusswort

Dank und Widmung

Die Autorin

Abkürzungsverzeichnis

Weiterführende Literatur

Quellenverzeichnis

Einleitung

Als ich an jenem empfindlich kalten Wintermorgen wie gewohnt am Parkplatz des Fabrikgeländes ankam, war das Haupttor von einer Reihe brennender Ölfässer versperrt. Daneben standen bibbernd Fabrikarbeiterinnen von „der anderen Seite der Straße“: der Glasfabrik. Sie gehörten zu einem anderen Geschäftsbereich des Philips-Konzerns als ich selbst. Die Mehrheitsanteile des Fernsehergeschäfts waren vor einiger Zeit an den asiatischen Konkurrenten LG verkauft worden. Ich ging zu den Blockierern und fragte, was sie hier täten. „Wir kämpfen um unsere Zukunft und Gerechtigkeit“, antworteten sie und bekräftigten, dass sie die am Abend zuvor errichtete Blockade bis auf Weiteres aufrechterhalten würden. Sie kämpften um ihre Arbeitsplätze, denn ihr Werk sollte geschlossen werden. Und das, obwohl es profitabel arbeitete. Obwohl die Kolleginnen, um das Werk zu retten, auf ihr Weihnachtsgeld und Gehaltserhöhungen verzichtet hatten. Nun ging es ums Ganze, ums Überleben. Viele der Streikenden hatten Familien. Sie konnten und wollten nicht mal eben so umziehen. Alternative Arbeit war schwer zu finden, denn überall im Land gab es Entlassungswellen für Produktionspersonal.

In den nächsten Tagen erfuhr ich, warum dieser „David gegen Goliath“-Streik eine Chance hatte. Er traf den Konzern an einer empfindlichen Stelle. Philips produzierte in Aachen auch Xenon-Light, eine in den 1990er-Jahren entwickelte Lichtquelle für Frontscheinwerfer. Ein für Philips sehr wichtiger Kunde war Toyota in Japan. Dort war das reibungslose Funktionieren der „Just in time“-Logistik absolute Voraussetzung für die Geschäftsbeziehung. Schon nach einer unpünktlichen Lieferung drohte ein Lieferantenwechsel. Die Streikenden wussten das. Um jeden Lkw, der das Fabrikgelände mit verkaufsfähigen Waren verließ, wurde in zähen Verhandlungen gerungen. Ebenso um jeden, der Rohstoffe anlieferte. Schlussendlich konnte die Schließung der Glasfabrik nicht verhindert werden. Der Sozialplan für die ausscheidenden Kollegen wurde jedoch deutlich verbessert.

Diese Situation habe ich genau so Ende 2005 erlebt. Langsam, aber sicher wurde überall deutlich, dass weltweit mehr produziert wurde, als absetzbar war. Produktionskapazität musste reduziert werden, um Kostenstrukturen unter Kontrolle zu halten. Strategische Entscheidungen darüber, welche Standorte geschlossen wurden, welche überleben durften, wurden fernab und ohne Kenntnis der betroffenen Menschen in Konferenzräumen getroffen – unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dies war und ist eine der Schattenseiten der Globalisierung und des derzeitigen wirtschaftlichen Systems.

Für meinen Berufsweg markierte dieser Streik einen Wendepunkt. Ich hatte im Jahr 2002 ein Visionsprojekt geleitet. Philips Licht, der älteste Teil des Unternehmens, suchte nach einer guten Zukunftsperspektive. In der Folge arbeitete ich einige Jahre daran, neue Lichtlösungen zu entwickeln, mit denen man Räume situationsgerecht beleuchten konnte – so wie im Theater oder Film Beleuchtung genutzt wird, um bestimmte Stimmungen zu erzeugen. Die Aufgabe begeisterte mich sehr, denn ich liebe Kunst und Ästhetik. Schnell realisierte ich, dass wir mit dieser Arbeit neue Wünsche erzeugten, um sie dann gewinnbringend zu bedienen.

Meine beiden Töchter besuchten zu diesem Zeitpunkt die Mittel- bzw. Oberstufe des Gymnasiums. Immer wieder kamen auch Gespräche über mögliche Berufe auf. Die Öltonnen-Blockade machte mir voll und ganz bewusst, wie fragil das durch die Globalisierung entstandene und auf Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaftsgeflecht ist. Wie alles mit allem zusammenhängt – für die meisten von uns unsichtbar. Manager an einem Konferenztisch in Korea hatten die Macht, das Leben von Hunderten von Menschen auf den Kopf zu stellen. Streikende vor den Werkstoren in Aachen hatten die Macht, die Autoproduktion von Toyota in Japan zu stoppen. Innovation war darauf gerichtet, unbewusste Wünsche von Menschen zu erfüllen, die schon lange ihre Grundbedürfnisse befriedigen konnten, während gleichzeitig andere um ihre Existenzgrundlage rangen. Und das alles direkt vor meinen Augen.

Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen: Welche Welt wollte ich mit meiner Arbeit mitgestalten? Welche Welt wollte ich für meine Kinder? Ästhetik oder Gerechtigkeit? Innovation gerichtet auf die Erzeugung von Wünschen oder die Befriedigung von Bedürfnissen? Profitmaximierung oder Nachhaltigkeit?

Mir war schnell klar: Es musste einen Weg geben, den scheinbaren Widerspruch zwischen Nachhaltigkeit und Profitorientierung aufzulösen und nachhaltig agierende Unternehmen zu gestalten. Diesen Weg wollte ich finden.

Mit diesem Buch lade ich Sie ein, sich auch auf diese lohnende Reise zu begeben.

Aufbau des Buches

Dieses Buch trägt viele unterschiedliche Entwicklungen und Facetten der Veränderungen zusammen, die derzeit unter dem Stichwort Nachhaltigkeit stattfinden. Es erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für mich sind es Puzzleteilchen, Werkzeuge und neue Sprache. Ich habe sie in verschiedenen Disziplinen wie Physik, Biologie, Ökonomie, Sozialwissenschaften und bei Gesellschaftsgruppen wie Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, politischen und zwischenstaatlichen Gremien gefunden. Die große Aufgabe der nächsten Jahre besteht darin, all diese Puzzleteilchen zu einem für alle Akteure stimmigen neuen Welt-Bild zusammenzusetzen. Dieses NEULAND gilt es dann gemeinsam mit neuen und vorhandenen Werkzeugen zu gestalten und mit bekannten und neuen Worten zu kommunizieren. Ich habe dieses Buch geschrieben, um Ihr Vertrauen zu stärken, dass die Transformation hin zu nachhaltigem Wirtschaften gelingen kann. Denn: Vieles, was wir brauchen, ist bereits vorhanden.

In den acht Kapiteln werden allerlei für Sie vermutlich verblüffende Ideen, Erkenntnisse und Erfahrungen – die Puzzleteilchen – dargestellt. Zudem werden in Entwicklung befindliche und bereits in der Praxis erprobte Methoden und Metriken – die Werkzeuge – vorgestellt. Es wird auf Pioniere verwiesen, die diese mitentwickelt oder bereits angewendet haben. Zudem gibt es immer wieder Anregungen zur Vertiefung oder Reflexion über weitere Quellen.

Praxisbeispiele verdeutlichen, was bereits heute gestaltet wird. Wichtige Begriffe werden definiert. Jedes Kapitel beginnt mit einem Ausblick, der beschreibt, was Sie dort erwartet, und endet mit Essenzen.

Zu Ihrer Orientierung werden folgende Kodierungen genutzt:

Für wen ist das Buch gemacht?

Das vorliegende Buch ist für alle geschrieben, die sich entschieden haben oder entscheiden wollen, aktiv an der Systemtransformation zu nachhaltigem Wirtschaften mitzugestalten, egal ob in Unternehmen und anderen Institutionen, Städten und Kommunen oder im privaten Umfeld.

Jede und jeder, seien Sie nun Geschäftsführer, Managerin, Mitarbeiter, Leiterin einer Behörde, Kulturschaffende, Wissensvermittler, Beraterin oder Privatperson, ist eingeladen. Beschäftigen Sie sich mit den Fragen:

Wie gestalten wir auf einem Planeten mit beschränkten Ressourcen gutes Leben für alle?

Was macht denn gutes Leben eigentlich aus?

Finden Sie Ihre persönlichen Antworten und handeln Sie entsprechend.

Ich freue mich, wenn die hier vorgestellten Inhalte Sie aufrütteln und inspirieren, sich auf den Weg zu machen, mitzugestalten. Es gibt so viel zu tun, dass jede und jeder gebraucht wird. Das Buch macht hoffentlich Mut. Wir Menschen sind von Natur aus sehr kreativ und willensstark. Lenken wir unseren Willen und unsere Kreativität in Richtung einer guten Zukunft für alle!

1

Die Lage der Welt

In diesem Kapitel erfahren Sie Folgendes:

was Nachhaltigkeit im Rahmen dieses Buchs bedeutet,

wie der World Wildlife Fund (WWF) anhand einer übersichtlichen Grafik die fehlende Nachhaltigkeit der Vor-Corona-Wirtschaftslogik aufzeigt,

welche Vision 29 multinationale Konzerne bereits vor mehr als zehn Jahren für das Jahr 2050 formuliert haben,

was mit der UN-Agenda 2030 erreicht werden soll,

welche Rolle Corona für die Transformation zu nachhaltigem Wirtschaften spielen könnte.

1.1 Was bedeutet Nachhaltigkeit
in diesem Buch?

Der Begriff Nachhaltigkeit wurde 1713 von Hans Carl von Carlowitz geprägt. Er begründete damit in einer Zeit der Energiekrise durch „Holznot“ die Forstwirtschaft. Sowohl der Bergbau des Erzgebirges als auch der mit der wachsenden Bevölkerung verbundene Städtebau verbrauchten viel Holz. In den Wäldern wurde auf kurzfristigen Gewinn ausgelegter Raubbau betrieben. Daher forderte von Carlowitz, nachhaltig, das heißt respektvoll und „pfleglich“, mit der Natur und ihren Rohstoffen umzugehen.

Zweieinhalb Jahrhunderte später warnte der Club of Rome im Jahr 1972 in seiner Studie „Grenzen des Wachstums“:Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“

Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit bescherte den Ländern des Westens Aufschwung und Wohlstand. Die Entwicklungsländer konnten jedoch mit dem Fortschritt der Demokratien mit Marktwirtschaften nicht mithalten. Es entstand das, was wir heute Nord-Süd-Gefälle nennen. Dieses war und ist mit hohem Konflikt- und Kriegspotenzial verbunden. Daher wurden Mitte der 1980er-Jahre die Vereinten Nationen (UN) aktiv. Die ehemalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland leitete ab 1983 einen Sachverständigenrat, der Perspektiven für eine langfristig angelegte umwelt- und sozialverträgliche globale Entwicklung der Menschheit erarbeiten sollte. Die Ergebnisse dieser Kommission wurden 1987 im Brundtland-Report unter dem Titel „Our Common Future“ – Unsere Gemeinsame Zukunft – veröffentlicht. Dort wurde der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ in seiner heutigen Bedeutung geprägt.

Definitionen1

„Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ (Fokus: Generationengerechtigkeit)

„Im Wesentlichen ist nachhaltige Entwicklung ein Wandlungsprozess, in dem die Nutzung von Ressourcen, das Ziel von Investitionen, die Richtung technologischer Entwicklung und institutioneller Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potenzial vergrößern, menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.“ (Fokus: ganzheitliche Verhaltensänderung)

1.2 Die Welt in einer Grafik

Im Jahr 2006 hat der World Wildlife Fund (WWF) erstmalig in seinem „Living Planet Report“ eine Grafik veröffentlicht, mit deren Hilfe die fehlende Nachhaltigkeit der Vor-Corona-Fortschrittslogik mit einem Bild erklärbar wird. Sie wird regelmäßig aktualisiert und hat sich in den letzten Jahren qualitativ kaum verändert.

Abbildung 1.1: Nachhaltigkeitsdefizite der letzten Jahrzehnte

In der Grafik gibt es zwei Achsen. Auf der horizontalen Achse ist der Index der menschlichen Entwicklung aufgetragen; auf der vertikalen der ökologische Fußabdruck. Nachhaltigkeit ist erreicht, wenn alle Menschen ein gutes Leben führen können, ohne die ökologischen Ressourcen zu zerstören. In der Grafik ist dies das graue Feld rechts unten.

Alle Länder sind durch jeweils einen Punkt gekennzeichnet. Die Größe der Punkte korrespondiert mit der Bevölkerungszahl. Länder mit mehr als einer Milliarde Einwohnern werden durch Kreise dargestellt. Der Kreis links stellt Indien dar, der rechte China. Nur einige wenige mittelamerikanische Länder kommen demnach nachhaltigem Leben nahe. Kuba war 2006 das einzige Land im Zielfeld. Mittlerweile – nach den Lockerungen des Embargos 2014 – hat auch der mittelamerikanische Inselstaat den Bereich der Nachhaltigkeit verlassen.

Definitionen

Der „Index für menschliche Entwicklung“ (engl. Human Development Index – HDI) ist ein von den UN genutztes Maß für die nachhaltige Entwicklung einer Nation. Er berücksichtigt neben dem Bruttosozialprodukt pro Kopf auch die mittlere Lebenserwartung als Gesundheitsmaß sowie das Ausbildungsniveau der Bürger. Der HDI wird auf die Zahl 1 normiert. Alle Menschen der Welt sollten die Möglichkeit haben, ein hohes Entwicklungsniveau zu erreichen, das heißt bei einem HDI von 0,8 oder mehr zu leben.

Der „ökologische Fußabdruck“ ist ein Maß für den Ressourcenverbrauch. Entworfen wurde es 1994 von dem Schweizer Stadtentwickler Mathis Wackernagel und dem kanadischen Ökologen William Rees. Er ermöglicht eine Buchhaltung für ökologische Ressourcen, vergleichbar mit der Finanzbuchhaltung in der Wirtschaft. Der ökologische Fußabdruck misst den Verbrauch natürlicher Ressourcen in Global-Hektar (gha) pro Person und Jahr. Berücksichtigt werden u. a. Energie, Nahrung, Kleidung, Entsorgung von Abfällen, das Binden von Kohlendioxid. Er erfasst auch, wie viel Natur = ökologisches Kapital in einem Land pro Kopf (noch) zur Erzeugung des zum Leben Notwendigen zur Verfügung steht.

Anregung

Bestimmen Sie Ihren persönlichen Ressourcenverbrauch mithilfe des Fußabdruck-Kalkulators von Mathis Wackernagels Organisation Global Footprint Network:

https://www.footprintcalculator.org

In der Vor-Corona-Zeit boten die Industrienationen (Europa, Nordamerika, Australien sowie einige asiatische Länder) ihren Bürgern ein Leben auf einem hohen HDI, jedoch auf Kosten eines zu hohen Ressourcenverbrauchs. Die sogenannten Entwicklungsländer in Afrika und Asien wirtschaften zwar innerhalb der planetaren Grenzen, bieten ihren Bürgern jedoch keine guten Lebensbedingungen. Dies bedeutet, dass alle Länder andere Gestaltungsaufgaben haben, wenn sie sich nachhaltig entwickeln wollen. Nachhaltige Entwicklung ist stark kontextabhängig: Sie muss das politische, klimatische, soziale Umfeld berücksichtigen.

Anregung

Auf der Website von The Natural Step Deutschland finden Sie eine Animation der Entwicklung von 1990 bis 2012: https://www.thenaturalstep.de/de/situation/human-development-index/

1.3 Ursachen für die mangelhafte Nachhaltigkeit

In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit viele Menschen, Forschungsgruppen und andere Gruppierungen mit der Ursachenforschung hinsichtlich fehlender Nachhaltigkeit beschäftigt. Alles ist mit allem verbunden. Daher sind hier systemisches Denken und die Fähigkeit, mit Komplexität umzugehen, essenziell. Viel Detailwissen ist in schwer zugänglichen akademischen Studien verborgen. Es wird hoffentlich in den kommenden Jahren von Praktikern weiter zugänglich gemacht.

Der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, arbeitende deutsche Ökonom Otto Scharmer hat in den letzten Jahren gemeinsam mit vielen Kolleginnen einen Weg gefunden, die Komplexität der Situation sichtbar und in überschaubarer Zeit begreifbar zu machen. Diesen Ansatz nutze ich im Folgenden. Ausgehend von der in der Sozialpsychologie verbreiteten Vorstellung des blinden Flecks differenziert er vier Ebenen zur Beschreibung des heutigen (Wirtschafts-)Systems: Symptome, Strukturen, mentale Modelle, individuelle und kollektive Intentionen. Dabei nutzt er ein Eisbergmodell, um zu erläutern, in welcher Beziehung diese vier Ebenen zueinander stehen.

Abbildung 1.2: Eisbergmodell für Systemverständnis

Symptome

Symptome sind die sichtbaren Phänomene. Sie repräsentieren den Teil des Eisbergs, der oberhalb des Wasserspiegels erkennbar ist. Scharmer unterscheidet drei verschiedene Typen von Symptomen, die zu drei Formen von Entfremdung führen.

Die ökologische Entfremdung zeigt sich in der zunehmend fehlenden oder gestörten Verbundenheit mit der Natur. Sie äußert sich in unterschiedlichsten Formen: im Großen zum Beispiel im Klimawandel, in der Verschmutzung der Wälder und Meere, in der Zerstörung von Ökosystemen und im Artensterben. Im Kleinen äußert sie sich beispielsweise darin, dass wir nicht mehr wissen, welcher Vogel in unserem Garten zwitschert, lästige Insekten gedankenlos töten, selten mit nackten Füßen auf einer Wiese oder gar purem Mutterboden laufen.

Soziale Entfremdung drückt sich in fehlender oder gestörter Verbundenheit mit den Mitmenschen aus. Sie ist mittlerweile erschreckend stark in unserer Gesetzgebung und Gehaltsstruktur manifestiert. Ist es nicht seltsam, dass die sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen Altenpflegerinnen, Krankenschwestern, Kindergärtner für ihre dem unmittelbaren Wohl der Menschen dienende Arbeit so schlecht entlohnt werden? Ist es nicht besorgniserregend, mit welcher Selbstverständlichkeit wir im globalen Norden, den Industriestaaten, immer noch unseren ressourcenintensiven Lebensstandard verteidigen? Und das, obwohl wir wissen, welche Probleme dies für die Menschen in den Entwicklungsländern sowie für unsere Kinder, Enkel und Urenkelinnen verursacht. Ist es nicht merkwürdig, wie sehr wir uns an die stetig weiter klaffende Schere zwischen Arm und Reich gewöhnt haben, ohne Gegenmaßnahmen zu entwickeln?

Mit spiritueller Entfremdung ist die fehlende oder gestörte Verbundenheit mit einer „Lebensquelle“ oder einem „Lebenssinn“ gemeint – wie auch immer dies individuell definiert wird. Viele Menschen sehnen sich nach einem sinnerfüllten Leben, in dem sie nicht mehr nur funktionieren und äußeren Anforderungen genügen müssen. Wie aber entwickeln wir Menschen gesunden Eigen-Sinn? Wie können wir Einsamkeit, Stress- oder Burn-out-Syndromen entgegenwirken? Die stetig steigende Zahl von Selbstmorden unter Jugendlichen ist ein Symptom dieser Entfremdung. Ebenso die große Zahl der vereinsamenden Trauernden und Alten. Großbritannien hat bereits im Jahr 2018 auf diese Entwicklung mit der Berufung einer Ministerin für Einsamkeit reagiert.2

(Gesellschaftliche) Strukturen

Gesellschaftliche Strukturen entstehen durch das Zusammenleben, das politische Gestalten und das gemeinsame Wirtschaften von Menschen in einer Region, einem Land, einem Kontinent und auch global. Eine Sozialoder Gesellschaftsstruktur ist die Gesamtheit der dauerhaften Norm- und Wertegefüge, Rechtsgrundlagen, ökonomischen Strukturen und kulturellen Handlungsmuster von Gruppen, Institutionen und Organisationen. Sie kennzeichnet die Integration einer Gesellschaft und gewährleistet ihre Kontinuität.

Strukturen befinden sich im Eisbergmodell auf der Ebene, die unmittelbar unter der Wasseroberfläche liegt. Sie ist nicht direkt sichtbar, mit wissenschaftlichen Methoden jedoch gut zugänglich.

Sieben Gesellschaftsstrukturen und ihre Fehlentwicklungen werden im Folgenden differenziert.

1. Da ist zunächst unser Umgang mit der Natur. Sehr selbstverständlich nutzen wir natürliche Ressourcen als Rohstoffe für unsere wirtschaftlichen Prozesse. Dies geschah lange mit geringem Verständnis für die natürlichen Gleichgewichte und oft ohne Berücksichtigung möglicher Folgen. Bereits im Jahr 1972 haben Wissenschaftler des Club of Rome in ihrer Studie „Grenzen des Wachstums“ darauf hingewiesen, dass steigender Verbrauch natürlicher Ressourcen in Kombination mit massivem Bevölkerungswachstum zu einer ökologischen Krise führen wird. Sie zeigt sich heutzutage nachdrücklich in der Tatsache, dass wir im Jahr 2019 global das Äquivalent von 1,75 Erden an natürlich nachwachsenden Ressourcen verbraucht haben, obwohl wir wissen, dass wir auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen leben. 2020 ging der Ressourcenverbrauch coronabedingt auf das Äquivalent von 1,6 Planeten zurück. Er stieg 2021 wieder auf das Niveau von 2019 an.

2. Seit der Zeit des Wirtschaftswunders hat sich in der Welt zunehmend die Idee des Wirtschaftswachstums – gemessen in steigendem Bruttosozialprodukt – als Motor für gesellschaftliche Entwicklung durchgesetzt. Als Konsequenz daraus haben sich die westlichen Industrieländer zusehends zu Konsumgesellschaften entwickelt. Dabei wurde zwar in der Werbung gebetsmühlenartig kommuniziert, dass wir unsere Bedürfnisse durch den Kauf all der vielen zur Verfügung stehenden Produkte befriedigen können, dass ein Mehr an Besitz glücklich macht; wissenschaftliche Studien widerlegen dies jedoch seit Langem. Die Realität ist: Unser auf Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem braucht steigenden Konsum. Wie würden wir uns wohl organisieren, wenn wir unseren gesellschaftlichen Erfolg an Kriterien wie Glück, Zufriedenheit und Wohlbefinden bemessen würden? Alternative Wirtschaftsmodelle mit alternativen Zielen und Metriken werden im letzten Kapitel dieses Buches vorgestellt.

3. Als im Jahr 2008 die Bank Lehman Brothers bankrott ging, wurde der Begriff Casino-Kapitalismus geprägt. Er bezeichnet die strukturelle Entkopplung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft zugunsten von Spekulation und Wettgeschäften. Dies hat mit bedürfnisorientierter Wertschöpfung nichts mehr zu tun.

4. Eigentum ist laut Artikel 17 der Menschenrechte ein Grundrecht aller Menschen. Dort heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen, Eigentum innezuhaben. Niemand darf willkürlich des Eigentums beraubt werden.“ Wer aber legt eine gesunde Grenze zwischen Eigentum und Allgemeingut fest? Das heute gültige Eigentumsrecht präferiert an vielen Stellen das Eigentumsrecht juristischer Personen – zum Beispiel von Unternehmen – zulasten des Gemeinwohls und des besten gesellschaftlichen Nutzens. Wie lange ist dieser Zustand noch tragbar?

5. Die Entwicklung der Einkommensströme hat zu einer starken Trennung von „Besitzenden“ und „Nicht-Besitzenden“ geführt. Dies wird deutlich in der Tatsache, dass das eine Prozent der Superreichen dieser Welt etwa 50 Prozent aller Mittel besitzt. Andererseits haben die Armen weder genug, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, noch Zugang zu menschenwürdiger Arbeit, um den Lebensunterhalt zu verdienen, der ihre Grundbedürfnisse abdeckt. Dies ist eine beeindruckende Einkommensasymmetrie. Die Konsequenzen erleben wir u. a. in Form von Flüchtlingsströmen.

6. Seit Beginn der Industrialisierung hat sich insbesondere in den westlichen Industrieländern eine tiefe Technikgläubigkeit entwickelt. Der russische Ökonom Nikolai Kondratjew formulierte 1926 die Theorie der langen Wellen. Diese besagt, dass Basistechnologien wie Dampf und Eisen, Elektrizität, Petrochemie, Biotechnologie und heute Digitalisierung großen Fortschritt ermöglichen (s. auch Kapitel 2.1). Diese Form des Fortschritts geht jeweils mit tiefen strukturellen gesellschaftlichen Veränderungen einher. Veränderungen, bei denen es stets Gewinner und Verlierer gibt. Wir haben unseren Lebensstil und das massive globale Bevölkerungswachstum dieser Art Fortschritt zu verdanken. Dabei hat sich jedoch leider auch die Idee verbreitet, dass es für alles eine technologische Lösung gibt, dass Technologie an sich die Lösung ist. Stimmt das? Hat sich nicht mittlerweile die Technologieentwicklung an vielen Stellen von den gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen der Menschen entkoppelt? Produziert Technologie nicht sogar jede Menge Probleme, denen wir nicht gewachsen sind? Geht es nicht allzu oft – vielleicht unbewusst – um das Machen des Machbaren statt um die Gestaltung guten Lebens für alle?

7. Technologiefolgenabschätzung ist insbesondere in Deutschland seit der Anti-Atomenergie-Diskussion in den 1970er-Jahren ein wichtiges Thema. Mit ihm verbunden sind die Fragestellungen: Wer kann und sollte gesellschaftlich relevante Entscheidungen treffen? Wer kann und sollte wofür die Verantwortung übernehmen? Die Beantwortung solcher Fragen hat grundsätzlich mit Führung zu tun: mit der politischen Gestaltung von Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Aktivität, mit der Gestaltung der Unternehmensziele, Geschäftsmodelle und des Arbeitsalltags in Unternehmen, mit der Wahl der Schwerpunkte von Forschung und Entwicklung sowie der Priorisierung der Bildungsschwerpunkte und -methoden an Schulen, Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen. Die Jugendlichen der „Fridays for Future“-Bewegung konfrontierten die Führenden der Welt mit ihrer Handlungsunfähigkeit. Seit Februar 2020 erzwingt die Corona-Pandemie mutige Führung bei der Gestaltung von absolutem NEULAND. Welche Form der Führung ist geeignet, um die komplexen Herausforderungen der vollen, globalisierten Welt zu meistern?

Anregung

Das englische Wort für Verantwortung ist responsibility. Schreibt man dies auseinander, wird es zu response-ability oder auch ability to respond – deutsch: Fähigkeit, Antwort zu geben. Auf welche Arten von Fragen können wir heute individuell Antworten geben? Welche Typen von Fragen sind für Einzelne nicht be- und damit auch nicht verantwortbar? Was bedeutet das für Führung?

Mentale Modelle

Die Ursache für die soeben benannten Fehlentwicklungen sind oft unsere, uns in der Regel unbewussten Glaubenssätze, Denkmodelle und Prägungen über das „Funktionieren der Welt“. Sie befinden sich im Eisbergmodell eine Ebene unter den Strukturen, sind also noch schlechter greifbar als diese.

Mentale Modelle und entsprechende Visualisierungen helfen uns Menschen, mit der Komplexität der Welt umzugehen, ähnlich wie Routinen bei der Gestaltung des Alltags, zum Beispiel regelmäßiges Zähneputzen, Corona-Hygieneregeln, nach rechts und links schauen beim Überqueren einer Straße. Mentale Modelle sind Teil der Kultur, uns meist unbewusst und daher schwer greifbar. Änderungsvorschläge werden hier als zutiefst verunsichernd erlebt und deshalb lange abgelehnt. Manchmal haben sie sich aber einfach überlebt und ein weiteres Festhalten an ihnen produziert Ergebnisse, die keiner will, ohne dass dafür echte „Schuldige“ benannt werden können. In einer solchen Situation befinden wir uns derzeit. Die Vor-Corona-Wirtschaftslogik beruhte auf mentalen Modellen, die zum Teil mehr als hundert Jahre alt sind. Im Folgenden werden sieben nicht mehr nützliche mentale Modelle beleuchtet, die mit den sieben oben benannten Gesellschaftsstrukturen und ihren Fehlentwicklungen korrespondieren.

1. Die westliche Welt ist vom christlichen Weltbild geprägt, in dem der Mensch als „Krone der Schöpfung“ angesehen wird. In der Schöpfungsgeschichte steht, dass der Mensch die Aufgabe habe, sich die „Erde untertan zu machen“. Dies wurde und wird oft als Aufforderung zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen missverstanden. In der Vergangenheit gingen Wirtschaftswissenschaftler zudem davon aus, dass natürliche Rohstoffe im Überfluss vorhanden seien und der Planet quasi „leer“ sei. Dies war angesichts der im Vergleich zu heute sehr geringen Weltbevölkerung legitim. Im Jahr 1804 erreichte die Menschheit die Größe von einer Milliarde, 1927 erreichten wir die zwei Milliarden. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch wächst die Spezies Mensch rasant schnell und seit 1987 kamen alle zwölf Jahre eine Milliarde Menschen hinzu. Das bedeutet, die Erde ist mittlerweile „voll“. Zudem hat sich sowohl in der Theologie als auch in der Biologie die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sinnvoll ist, uns Menschen als einen integralen Teil der Natur zu begreifen, wenn wir gutes Leben erhalten und gestalten wollen. Dieser tiefgreifende Perspektivwechsel wurde bereits Anfang der 1970er-Jahre von der Mikrobiologin Lynn Margulis und dem Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock in ihrer GAIA-Hypothese beschrieben.

2. Die Metrik „Bruttosozialprodukt“ wurde in den 1940er-Jahren von dem Ökonomen Simon Kuznets entwickelt, um abzuschätzen, ob die Wirtschaft der USA in der Lage wäre, am Zweiten Weltkrieg teilzunehmen. Sie wurde seither häufig als Wohlstandsindikator genutzt, man kann auch sagen missbraucht, obwohl Kuznets selbst immer wieder darauf hinwies, dass sein Indikator wissenschaftlich unsolide sei.

3. Das große Missverständnis der Finanzbranche ist die Idee der „Monetarisierbarkeit“