Das Geheimnis von Barton Hall

Eine Schauernovelle aus dem Jake Sloburn Universum

L.C. Frey

~ Für Krissy, der Welt schönste, klügste und aufmerksamste Freundin ~


Und diesmal auch für Dieter Annecke, der die Idee anregte, eine Kurzgeschichte zu einem Gemälde von Alan M. Clark zu schreiben.

Sie sehen ja, was daraus geworden ist.

Sorry, Dieter!

Teil I

Aus den Polizeiakten

Zum Fall der außergewöhnlichen Vorkommnisse auf Barton Hall

Port, New Hampshire, den vierzehnten Mai 1883


An den United States Marshal,

Mr. Joab N. Patterson


Verehrter Herr,

sicher ist Ihnen der seltsame Fall des Mr. Robert Barton noch gegenwärtig, welcher nebst seiner Ehefrau Rosabelle (geb. Abernathy) vor nicht allzu langer Zeit unter so tragischen wie mysteriösen Umständen den Tod fand.

Ich würde Sie mit dieser Sache nicht erneut behelligen, wenn nicht im benachbarten Staate Maine unlängst der Leichnam eines gewissen Jonathan S. Morley aufgefunden worden wäre, in Verbindung mit ähnlich finsteren Vorkommnissen wie im Falle Barton hier in Port. Die Sache des unglückseligen Morley erregte in der Presse einiges an Aufsehen und so kam die Kunde schließlich auch unserem hiesigen Stationsvorsteher, einem gewissen Langton, zu Ohren. Jener Langton, im Übrigen ein Mensch von erstaunlicher Einfalt, hat sich unlängst, nachdem die Ermittlungen bereits abgeschlossen waren, eines bestimmten Briefes entsonnen, welcher ihm der unglückselige Mr. Barton vor seinem Tode übergeben hatte.

Ich selbst bin davon überzeugt, dass Robert Barton, Sohn des ehrwürdigen und vor ein paar Jahren ebenfalls verstorbenen Sir John Barton, an einer seltenen Irrung des Geistes litt, seit er aus dem fernen Afrika zurückgekehrt war. Er soll sich dort mit gewissen geheimen Mythen und Ritualen der Buschmänner eingehend beschäftigt haben, und ich bin überzeugt, dass es diese Hirngespinste waren, welche ihn schließlich dazu brachten, sein eigenes Leben und das seiner jungen Ehefrau auf solch tragische Weise zu beenden. Wie Ihnen sicherlich noch gegenwärtig ist, fanden Bedienstete die beiden Körper jeweils in einem seltsamen Gefäß aus Glas in einem Zimmer im Erdgeschoss von Barton Hall vor, nachdem das Ehepaar von einer vorgeblichen einmonatigen Reise nach Europa nicht zurückgekehrt war. Jene länglichen Glastuben waren es letztendlich auch, welche die unglaublichsten Spekulationen um die Todesursache des jungen Paares befeuerten.

Jener Brief nun, der dem Stationsvorsteher vom jungen Barton übergeben wurde, war an Mr. Andrew Abernathy adressiert, den Vater von Bartons Ehefrau. Abernathy kam jedoch kurz nach dem Tod seiner Tochter und seines Schwiegersohns selbst ums Leben; während einer Seereise nach Europa fiel er unter nicht weiter bekannten Umständen von Bord und ertrank. Daher gelangte der Brief zurück an Mr. Langton, unseren Stationsvorsteher, welcher ihn vergaß, bis die erschütternden Meldungen von jenem Morley und die in der Presse abgebildeten Zeichnungen des Glastubus ihn wieder an das Schreiben erinnerten, das er mir daraufhin pflichtschuldigst übergab. Jener Tubus nämlich, in dem Mr. Morley im über hundert Meilen entfernten Maine den Tod fand, glich denen, die man in Barton Hall gefunden hatte, wie ein Ei dem anderen!

Allein, mir entspringen aus Bartons Brief und den beigefügten Aufzeichnungen keine neuen Ansichten zu der Sache, so oft ich mich auch daran versuche. Vielmehr sehe ich mich in der Annahme bestärkt, dass Barton bereits seit Längerem nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen sein muss, als er und seine Frau dieses abscheuliche Ende fanden. Ebenso muss es wohl jenem Morley ergangen sein. Vielleicht hat er von Bartons Schicksal in irgendeiner Zeitung gelesen und sich die Sache zum Vorbild für die eigene Entleibung genommen. Möglich wäre es, bei dem ganzen Rummel, den die Presse anlässlich des Falls veranstaltet hat.

Ich lege Ihnen also jenen Brief samt Aufzeichnungen des jungen Barton in der Hoffnung bei, dass ein verständigerer Mann, wie Sie es mit Sicherheit sind, sich darauf einen gescheiten Reim zu machen vermag. Aus meiner Sicht ist und bleibt der Fall ein einziges Rätsel.


Hochachtungsvoll


Henry H. Jones

City Marshal von Port, N.H.

Robert Bartons Brief

Barton Hall, Port, New Hampshire, den dreiundzwanzigsten Dezember 1882


Geehrter Schwiegervater,

ich schreibe diese Zeilen als ein Geständnis, in der Hoffnung, dass Sie, lieber Abernathy, mir die Konsequenzen vergeben mögen, die aus meinem Handeln folgen werden. Seien Sie sich indes gewiss, alles geschieht einzig zum Wohle Ihrer Tochter, meiner geliebten Ehefrau Rosabelle. Ich tue es, um ihres Lebens und meiner Seele willen, die untrennbar eins sind.

Und doch gestehe ich, dass mich auch jetzt noch Zweifel plagen. Ist es richtig? Gibt es vielleicht eine andere Möglichkeit? Darüber zerbreche ich mir nun schon seit Wochen den Kopf. Allein, ich sehe keinen Ausweg, der mir noch bliebe, wenn ich die Geliebte wirklich retten will.

Der, welcher kühn voranschreiten will, muss frei von Furcht sein!

Sollten wir dennoch scheitern, trotz aller sorgfältiger Vorbereitung durch von Meyrincks planenden Geist, der dem meinen in so vielerlei Hinsicht überlegen ist, so bitte ich Sie, mir mein törichtes Unterfangen zu verzeihen, das ich aus reinster Liebe zu Ihrer Tochter tat. Von Meyrinck weiß nichts von diesem Briefe. Ich werde ihn beim Stationsvorsteher der Post hinterlegen, bis ich von meiner vorgeblichen Reise zurückgekehrt bin. Sollte dies nicht innerhalb eines Monats der Fall sein, so soll er den Brief an Sie versenden; ich hoffe jedoch inständig, dass Sie ihn niemals lesen werden. Sollten Sie ihn dennoch in Ihren Händen halten, so ist gewiss, dass unsere Mission gescheitert ist.

Sie jedoch, verehrter Schwiegervater, möchte ich bitten, den Brief mitsamt den Aufzeichnungen, die Sie beiliegend finden werden, nach der Lektüre unverzüglich zu verbrennen und keiner Menschenseele jemals anzuvertrauen, was Sie darinnen gefunden! Von Meyrinck habe ich das gleiche Versprechen abgerungen, die alten Manuskripte und Notizen meines Vaters betreffend. Denn sollte das, was wir so lange und sorgfältig geplant haben, scheitern, wird uns fraglos das grausige Schicksal meines armen Vaters ereilen und damit wäre der Beweis für die Unmöglichkeit unseres Vorhabens erbracht. In diesem Falle kann ich es unter keinen Umständen verantworten, dass andere ein ähnliches Schicksal ereilt – denn ich habe den Leichnam meines armen Vater gesehen, es ist erst wenige Tage her, und ich sah den Sand der Zeit, der aus seinem alten Leib hervorquoll und

Nein, ich muss meine Nerven beruhigen, mich sputen, denn schon in wenigen Stunden wird der Morgen grauen. Sie jedoch bitte ich, mir meinen hastigen Stil zu verzeihen, es bleibt nicht mehr viel Zeit, so wenig Zeit!

Mögen die seltsamen Götter, die mein Vater aus den Abgründen der Äonen hervorgezerrt hat, uns gnädig sein!

Teil II

Die Aufzeichnungen Robert Bartons

Das Erbe der Bartons

Wie Sie wissen, hat mich vor zwei Jahren ein schicksalshafter Brief erreicht, der mich erstmals aus den Armen meiner geliebten Rosabelle riss und mich zwang, Ihnen und Ihrer herzlichen Gastfreundschaft, die Sie mir so vorbehaltlos haben angedeihen lassen, den Rücken zu kehren. Diese Entscheidung fiel mir besonders schwer, da Rosabelle und ich uns einige Wochen zuvor mit Ihrer Zustimmung die Ehe versprochen hatten und ich es durch die Arbeit in Ihren Minen zu einem gewissen eigenen Vermögen gebracht hatte, weswegen unserer Hochzeit auch in dieser Hinsicht nichts mehr im Wege zu stehen schien.

Ich habe Ihnen gegenüber mit Sicherheit hin und wieder erwähnt, dass John Barton, mein Vater, hier in Amerika recht vermögend war. Im Lichte späterer Erkenntnisse denke ich jedoch, dass er viel mehr war als das. Tatsächlich verfügte er über beträchtliche Summen und ich glaube, dass er in den Jahren kurz vor seinem Tode, da er der Verwaltung seines immensen Vermögens im Geheimen nachging, auch einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Haushalt des gesamten Staates hatte.

Und doch, ich gäbe alles, jeden einzelnen Cent des verfluchten Erbes meines Vaters hin – wenn mich doch bloß Periwinkles Brief nie erreicht hätte! Wenn ich doch Afrika und meine geliebte Blume nie verlassen hätte! Doch ach, es ist zu spät, viel zu spät für Reue.

Periwinkle war der Buchhalter meines Vaters gewesen und half mir später, die gewaltigen Gelder der Hinterlassenschaft zu verwalten (selbst ihn überraschte der tatsächliche Umfang des Vermächtnisses!). In seinem Brief blieb er äußerst vage, berichtete aber vom sich stetig verschlechternden Gesundheitszustand meines Vaters und deutete an, dass ihm möglicherweise nur noch wenige Tage blieben. Über die Ursachen oder Art der Krankheit schwieg er sich jedoch aus. Es schien beinahe, als befürchtete er, dass deren bloße Erwähnung mich von einem Besuche abhalten würde.

Glauben Sie mir, ich rang mehrere Tage mit einer Entscheidung, denn in Afrika und damit in Rosabelles Nähe zu sein, war mir wie das Paradies auf Erden. Mein Verlangen nach dem weitaus raueren Klima der Küste von Port und dort schließlich meinem Vater gegenüberzutreten, war dagegen mehr als gering. Dennoch empfand ich es als unangemessen, ja sogar unehrenhaft, meinem Vater die letzte Ehre zu verweigern, und erwarb schließlich ein Ticket für die Überfahrt in die Staaten. Zurück in das Land und zu jenem Menschen, von dem ich seit meiner Jugend fest geglaubt hatte, ihn nie wieder sehen zu müssen.

Mein Vater hatte mich verstoßen, das wissen Sie bereits – jedoch versäumte er es während der Tage meiner Wanderschaft und Abenteuer nie, mir finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Ich hatte ihn nie um das Geld gebeten, schrieb ihm kein einziges Mal – dennoch schien er stets zu wissen, wo ich mich gerade befand und wie er mich erreichen konnte. Heute glaube ich, einer seiner zahllosen Detektive folgte jedem meiner Schritte und berichtete ihm davon. Ja, ich bin sogar recht überzeugt davon. Und es waren diese Reisen und meine jugendliche Abenteuerlust, die mich letztlich zu Ihnen, in die Minen von Kimberley im Herzen Afrikas führten – und zu meiner geliebten Rosabelle.

Oh, es waren schmerzliche Worte, die wir zum Abschied wechselten, und wir gaben uns das Versprechen eines recht baldigen Wiedersehens. Wie Sie wissen, sollte es beinahe ein halbes Jahr dauern, bis ich Rosabelle tatsächlich wieder in die Arme schließen durfte, hier in Barton Hall, an dem kleinen Küstenstreifen, der dem wundervollen und ursprünglichen New Hampshire gegeben ist.

Und so kehrte ich nach über einem Jahrzehnt der Absenz zurück nach Barton Hall, dem Haus meiner Kindheit und frühen Jugend. Zurück in das Haus, das nie wieder zu betreten ich mir Tausende Male geschworen hatte. Und zurück zu meinem Vater, den ich hasste, als ich ging, und verachtete, als ich zurückkehrte. Heute glaube ich, dass dieser Hass und diese Verachtung zum Teil auf fehlendem Verständnis für die Gedankenwelt meines Vaters gefußt haben. Nur ausgemachte Narren würden sich der Illusion hingeben, die wir konventionelle Realität nennen, so sagte von Meyrinck einmal zu mir. Nun, heute bin ich kein solcher Narr mehr.

Und obwohl das ungnädige Schicksal mir nicht erlaubte, meinem Vater noch ein letztes Mal lebend zu begegnen, so vermachte er mir doch zwei Dinge durch seinen Tod. Eines davon ist das enorme Vermögen, das ich bereits erwähnte und das letztlich dabei geholfen hat, die Arbeit meines Vaters, seine Experimente und Forschungen, fortzusetzen. Das andere Vermächtnis ist zu einer starken Triebfeder meines Handelns geworden, zu einem Verlangen, so habe ich später herausgefunden, das tief in den Wurzeln meiner Ahnen, unser aller Ahnen begründet liegt. Mein Vater überreichte es mir durch Worte, die er in seinen letzten Minuten an andere richten musste.

Doch es war nicht nur das, was er sagte, sondern auch wie er es sagte, was mich noch immer bis in meine tiefsten Träume verfolgt. Es war etwas in dem angstvollen Blick seiner verlöschenden Augen, den mir Periwinkle später so eindringlich wie angewidert beschrieb – in dem Moment, als sie gänzlich brachen, hatten meines Vaters Augen etwas geschaut, wovor sie sich angstvoll weiteten und zurückzuweichen schienen. Dieses Etwas kann nur eines gewesen sein, wie ich heute weiß: die ewige Schwärze der Leere.

Das furchtbare Nichts, das nach dem Tode kommt.