Titel
Impressum
Fantasie
Was für ein Tag!
Andra, Andra … bist du noch da?
Der Brief …
Seite eins …
Vor Einbruch der Dämmerung
„Hey, Mädchen!“
Mir stockte der Atem
Kanbi lernte schnell
Es war kein Tunnel
Meine Geschichte beginnt hier
Die kommenden Tage
Wie beim ersten Mal
Abschied
DANKSAGUNG
ÜBER DIE AUTORIN
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Dorothe Reichling
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JUGEND-ROMAN
DeBehr
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Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
Über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
©2017 Dorothe Reichling, Autorin
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage: 2017
ISBN: 9783957534101
Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by irmaiirma
Ein
Kinderbuch
schafft Raum
für Fantasie
und Träume
Was für ein Tag! Die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, und schon stand mein vierzehnter Geburtstag vor der Tür. Die Sonne lachte frech vom Himmel, als wollte auch sie mir sagen: „Alles Gute, Andra. Mach dir einen schönen Tag.“ Noch ahnte ich nicht, wie aufregend dieser Tag werden sollte …
Noch einmal kurz strecken und dann war ich auch schon aus dem Bett gesprungen. Auf dem Weg ins Bad stolperte ich über meine Schulbücher, die unter einem Berg von Wäsche hervorlugten. Weg mit euch. Die nächsten Wochen werdet ihr nicht gebraucht.
Schnell hob ich das gesamte Bündel auf und stopfte es in meinen Schrank. Die Tür war kaum zu schließen und so fiel die Hälfte wieder zurück auf den Boden. Später war auch noch Zeit, dachte ich mir! Jetzt war erst einmal Stylen angesagt. Schließlich musste ich auf meiner eigenen Geburtstagsparty heute Nachmittag alle anderen in den Schatten stellen.
Besonders Aden sollte Stielaugen bekommen. Ach, Aden …
Aden gehört zu unserer Clique, genauso wie auch Fritz, Bruno, Susa und Tonja und … Habe ich jemanden vergessen? Egal. Auf jeden Fall sind wir alle Schulkameraden und verbringen seit der ersten Klasse überwiegend unsere Freizeit miteinander. Die Sommerferien waren für uns immer etwas Besonderes, und so heckten wir bereits unzählige Abenteuer aus. Schließlich wollten wir nach den Ferien was zu erzählen haben.
Wir leben alle in Pichelsdorf, einem kleinen Ort nahe bei Berlin. Südlich des Pichelsees, gleich in der Heerstraße, wohne ich mit meinem älteren Bruder Tristan. Hier ist es einfach wunderschön. Die Havel teilt hier einen kleinen Landvorsprung in zwei Hälften. Da wäre einmal der Pichelsee und die andere Halbinsel heißt Pichelswerda. Viel Grün, viel Wasser, einfach herrlich. Gleich am Südende, nahe dem Ortsteil Wilhelmstadt, haben Kalle und Irma ihr Zuhause. Sie gehören nicht wirklich zu uns. Aber …
Wir gehen nun mal alle in dieselbe Schule. Unsere Wohnorte trennen sich durch die Halbinsel. Dankbar für die natürliche Grenze, schaffen wir es immer, den beiden, so gut es geht, aus dem Weg zu gehen. Obwohl es sehr schade ist, denn die Halbinsel birgt einen sehr schönen Schlosspark, der lange Zeit unser Treffpunkt war. Kalle und Irma haben uns unser Revier nach und nach streitig gemacht. Jetzt bleibt jeder auf seiner Inselseite. Jedenfalls meistens … Kalle und Irma versuchen aber immer wieder, uns in die Quere zu kommen.
Was werde ich heute bloß anziehen? Eine Hose, vielleicht einen Rock, oder doch lieber ein Kleid? Wie immer stand ich ratlos vor meinen Schrank. Aden sollte sich heute endlich in mich verlieben. Oder wenigstens bemerken, dass ich existiere und ein richtiger Knaller bin. Das sagt zumindest Tristan. Tristan sagt auch, dass meine Augen so blau wären wie der See, und meine blonden Locken, die mir meistens wild ins Gesicht flattern, seien einfach großartig und würden mein Gesicht mit der kleinen Stupsnase und den leichten Sommersprossen nur unterstreichen. Konnte Aden so was nicht auch zu mir sagen, seufzte ich. Aber Adens einzige und große Liebe ist und bleibt wohl die Musik! Keine Musik aus den Charts oder den Top Ten. Aden liebt klassische Musik.
Musik von Schumann, Mozart, Bach, Händel und wie sie alle heißen. Hektisch versuchte ich, das hellblaue Top aus dem Berg Wäsche zu ziehen. Geschafft!
Aber Aden hat auch andere Qualitäten. Da wären zum einen seine rabenschwarzen Haare. Er trägt sie lang, meist zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz. Ich stehe normalerweise nicht darauf, wenn ein Junge mehr Haare hatte als ich, aber Aden ist eben anders als andere Jungs. Und erst seine Augen, ich bekomme jedes Mal weiche Knie, wenn er mich so anschaut, als wüsste er ganz genau, dass mein Herz immer einen Sprung macht, wenn ich nur in seiner Nähe bin. Leider bin ich aber nur ein Mitglied der Clique und Tristans kleinere Schwester …
Dann haben wir da noch Fritz, unser Mathegenie. Er ist seit Anfang an dabei. Ich kenne ihn nicht ohne seinen Taschenrechner. Ganz gleich, wo wir auch hingehen, ohne dieses Ding habe ich Fritz noch nie angetroffen. Er drückt alles in mathematischen Formeln aus. Beispiele dafür gibt es Tausende. Wie zum Beispiel die Sache mit Aden und mir. Seiner Meinung nach ergibt sich für uns die Formel von Minus und Minus, irgendwann mal ein Plus.
Es ist seit Langem ein offenes Geheimnis, dass ich Aden mag. Aber wir sprechen in der Clique nicht darüber. Da haben wir einen Ehrenkodex. Keine Lästereien untereinander und keine Heimlichkeiten.
Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, als ich Fritz zufällig traf. Aber es ist schon eine ganze Weile her, auf dem Weg zur Schule muss es wohl gewesen sein. Wir unterhielten uns über dies und das, und sein Blick war wie immer nur auf seinen Rechner gerichtet. Vielleicht gerade deshalb, weil er mir nicht direkt in die Augen sah, fiel es mir so leicht, mit ihm über Aden zu sprechen. Fritz war verschwiegen, was ich von Mädels nicht gerade behaupten konnte. Besonders Tonja war eine richtige Tratschtante.
Normalerweise finde ich es unhöflich, sich nicht von Angesicht zu Angesicht zu unterhalten. Aber Fritz konnte man nicht böse sein, denn er hat ein Herz aus Gold. Noch nie hatte er jemals über jemanden schlecht gesprochen. Er ist nicht nachtragend und seine Laune ist ein Dauerzustand von purer Lebensfreude.
„Wie geht es Aden?“, fragte er plötzlich. Wir waren bereits ein gutes Stück gegangen, als mich seine Frage so unvorbereitet traf. Er sah mich sogar für einen kurzen Augenblick von der Seite sehr verschmitzt an.
„Wie soll es ihm schon gehen“, versuchte ich, so belanglos wie nur irgend möglich seine Frage zu beantworten. Komisch, dachte ich mir, warum fragte er ausgerechnet mich nach Aden.
„Du magst ihn doch“, hakte er nach. Seine Frage klang mehr nach einer Feststellung. „Stimmt doch, oder?“
Ich spürte, wie mein Gesicht sich rot färbte und dass ein Leugnen jetzt keinen Sinn mehr machte. Ich mag alle aus unserer Clique, druckste ich weiter herum, in der Hoffnung, dass Fritz bald ein anderes Thema ansprechen würde. Wieder sah er mich an. Langsam wurde mir sein Verhalten unheimlich. Dann schwieg er eine ganze Weile, so, als ob er auf etwas wartete. „Ja“, antwortete ich zögernd, „ich mag Aden genauso wie euch alle … Wir sind ja eine tolle Clique.“
„Du musst nichts sagen, wenn du nicht magst, Andra. Alle wissen Bescheid, nur Aden scheint blind zu sein.“
Ja!, dachte ich mir, etwas angesäuert. Ich müsste schon ein Musikinstrument sein oder neuerdings meine Liebe zu Mozart entdecken. Dann hätte ich vielleicht eine kleine Chance bei ihm. Lassen wir das. Ich machte eine abwehrende Handbewegung. Fritz verstand, dass es mir unangenehm wurde, und wir gingen den Rest des Weges schweigsam …
Auch Bruno gehört zu unserer Clique und ist, genau wie Fritz, seit Anfang an dabei und sehr eng mit Aden befreundet. Sie treffen sich nach der Schule und außerhalb der gemeinsamen Treffen der Clique. Aden erwähnte mal, dass sie bereits beste Freunde im Kindergarten waren. Bruno steht total auf Physik und Chemie. Ich weiß nicht, woher die Jungs diesen Drang nach Wissen haben. Für Bruno ist Physik und Chemie einfach nur Magie. In der Schule drängen wir uns alle in sein Team, wenn es zum Beispiel um Projektarbeiten geht. Bruno ist einfach unschlagbar in diesen Dingen. Herr Münchmann, unser Physiklehrer, ist ganz angetan von Brunos Leidenschaft für dieses Fach. Er sagt immer, dass er auch so jung war wie er, als er sich damals dazu entschied, Lehrer für Physik und Chemie zu werden. Hobby und Leidenschaft im Beruf zu vereinen, ist nicht immer möglich. Er meint, Bruno wird es mal weit bringen. Vielleicht wird er ja mal berühmt und erhält sogar mal den Nobelpreis für irgendeine spektakuläre Erfindung. Bruno träumt diesen Traum tagtäglich, so wie Aden von seiner Musik und dem Traum, mal ein berühmter Komponist zu werden. Wie kann man nur mit vierzehn solche Hobbys haben. Ich verstand das nicht wirklich. Wollen Jungs nicht immer Feuerwehrmann oder Pilot werden?
Wir haben aber nicht nur Jungs in unserer Clique, nein! Auch Mädels, so wie Susa zum Beispiel. Susa ist Klassenbeste. Ich glaube, sie hasst die Ferien. Sie liebt es, in der Schule zu sitzen und sich ständig neuen Aufgaben zu stellen. Das Fach spielt dabei keine Rolle. Ihr Berufsziel ist natürlich, Lehrerin zu werden. Frau Beckmann, unsere Klassenlehrerin, ist ihr großes Vorbild. Eine Streberin in der Clique zu haben, bringt Vorteile. Hausaufgaben werden da schon mal vergessen und dann bei Susa abgeschrieben. Auch Prüfungen bereitet Susa für uns vor, wenn die Clique sich treffen muss und die Zeit fürs Lernen schon mal knapp wird. So wissen wir genau, was wir zu lernen haben. Ja, wir haben alle unsere Begabungen. Wie Tonja zum Beispiel. Sie kam erst letztes Jahr zu uns. Mit ihren Eltern kam sie aus Ungarn nach Deutschland. Ich half ihr, Anschluss zu finden, als sie in unsere Schule kam. Das war am einfachsten über eine Clique zu schaffen. Obwohl Tonja die Älteste von uns ist, ist sie auch die Erfahrenere unter uns. Mit vierzehn hat sie sogar schon mal einen Jungen geküsst. Auf dem Mund und einmal sogar …
Ihr versteht schon. Sie hat mir erzählt, worauf Jungs bei Mädchen so achten und mir Tipps gegeben, für meine alberne Schwärmerei für Aden, wie sie es nennt. Aber auf hilflos und dumm zu machen, lag mir nicht. Und Augen rollen, bis der Arzt kommt, kam für mich genauso wenig infrage. Aden sollte mich so mögen, wie ich bin, und das war, wie ich fand, gar nicht mal so schlecht. Tonja dagegen legt sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Sie schminkt sich und nimmt auch ein wenig zu viel Parfüm, meiner Meinung nach. Aber sie ist eine Freundin und gehört zur Clique, und ich nehme sie so, wie sie ist.
Um noch mal auf Susa zurückzukommen, sie ist einfach nur süß und niedlich. Sie ist das ganze Gegenteil von Tonja.
Aber dennoch hat Susa etwas ganz Besonderes an sich. Sie ist sehr schüchtern, trotz ihrer schulischen Leistungen. Das bringt so manches Problem mit sich, wenn wir in der Clique unterwegs sind. Dann heißt es immer. Passt doch auf, oder das ist viel zu gefährlich, oder …
Wenn das unsere Eltern wüssten, das gäbe wochenlangen Hausarrest oder Taschengeldentzug. Aber wie jeder von uns, hat auch Susa ihre Vorzüge. Ihre Art bewahrt uns wirklich vor so manch peinlicher Situation. Sie behält bei allem den Überblick und einen kühlen Kopf und bremst uns schon mal aus bei unseren Vorhaben.
Anfangs sind wir wütend, im Nachhinein aber immer dankbar, dass es Susa ist, die uns rechtzeitig davor bewahrt hat, eine Dummheit zu begehen. Wenn ich so zurückdenke, hätte so einiges schiefgehen können, ohne Susas beherztes Eingreifen. So wie letzten Sommer, als wir einen Armeisenhügel entdeckten. Die Jungs wollten ihn anzünden und dabei zuschauen, wie die Ameisen davonliefen. Wir Mädels wollten einfach nur weg. Auf Kriechzeug stehen wir einfach nicht. Kalle und seine Schwester Irma kreuzten unseren Weg an diesem Tag. Die beiden waren immer auf Ärger aus. Keiner wollte mit ihnen befreundet sein. Und wir erst recht nicht. Da wir aber alle auf die gleiche Schule gingen, war ein Zusammentreffen nicht zu vermeiden. Keiner legte sich fest, wer schlimmer von den beiden war. Kalle, den sie auch Kopfnuss nennen, weil jeder, den der sah und der ihm begegnete, wie er meinte, eine liebevolle Kopfnuss erhielt. Wir meiden die beiden so gut es eben geht. Sie sind fies und gemein. Irma ist da nicht viel besser. Sie hasst uns Mädchen. Eigentlich hasst sie alle Mädchen. Nun ja. Irma ist nicht gerade eine Schönheit so wie Tonja oder Susa mit ihrer eher sanfteren Art und ihren weichen Gesichtszügen. Selbst ich erscheine neben ihr als Schönheit, was nicht schwerfällt. Irma ist klein, dicklich und eher maskulin. Das bedeutet, dass sie eher wie ein Junge wirkt und auch ein wenig so ausschaut. Sie trägt nur Hosen und weite Hemden. Sehr unvorteilhaft, aber sie selbst sagt, sie macht sich nichts aus all dem Mädchenkram. Ein Cap verdeckt zusätzlich ihr verfilztes Haar, das ursprünglich wohl mal braun gewesen sein musste. Jetzt ist es eine Mischung aus Rot und Braun und selbst Schwarz entdeckte man an einigen Stellen. Wenn sie nicht so ein Biest wäre, könnte sie einem eigentlich schon fast leidtun. Aber so!
Kalle und Irma sahen, dass wir am Ameisenhügel standen. Kalle setzte an zur Begrüßung und wollte eine Reihum-Kopfnuss-Parade abhalten. Wir duckten uns mit dem Wissen, was uns erwartete, fast alle gleichzeitig so, dass sein Schlag ins Leere ging. Er murmelte irgendetwas vor sich hin, das keiner verstand, aber auch keinen interessierte. Irma dagegen ging sofort auf den Ameisenhügel zu. Sie sah den Hügel und in ihren Augen konnte man sehen, dass sie nichts Gutes im Sinn hatte.
„Lasst uns gehen“, sagte Fritz.
Wir folgten seiner Aufforderung, aber Kalle stellte sich uns in den Weg. „Wollt ihr nicht sehen, was meine kleine Schwester mit den Ameisen so vorhat.“
Noch vor wenigen Minuten waren selbst Bruno, Fritz und Aden bereit, den Ameisenhügel anzuzünden. Diese Idee erschien ihnen mit einem Mal absurd. Zumal jetzt Kalle und Irma den Hügel für sich beanspruchten. Susa, die sich sonst aus allem raushielt, machte plötzlich einen Schritt nach vorn. Sie stand direkt vor Kalle und wir alle glaubten, dass Susa sich jetzt nachträglich eine Kopfnuss einfangen würde.
„Wenn deine Schwester den Ameisenhügel zerstört“, rief Susa, und ihre Stimme war ungewöhnlich laut, „werden die Ameisen sich zu wehren wissen. Sie werden zu Hunderten oder sogar zu Tausenden an ihr hochkriechen. Sie werden ihren brennenden Urin abgeben und noch bevor Irma den Hügel vollständig zerstören kann, wird sich an ihrem ganzen Körper ein ekliger Ausschlag gebildet haben. Tagelang wird sie das aushalten müssen und du wirst sie als großer Bruder trösten müssen, sie einreiben müssen und eure Eltern werden dir die Schuld für alles geben.“ Susa war nicht zu bremsen. Wir trauten unseren Ohren nicht. War das wirklich Susa, die Kalle da so einheizte, dass selbst Irma plötzlich große Augen bekam und ihren Fuß ganz schnell in Sicherheit brachte.
„Hey, Blondy“, rief Irma aus sicherer Entfernung des Armeisenhügels zu Susa rüber. „Wie wäre es denn, wenn du den Hügel zerstören würdest, und ich dabei zusehe, wie die Ameisen dich anpinkeln. Deine Freunde können gerne zuschauen.“
Ein spöttisches Grinsen zog über Irmas Gesicht. Sie glaubte sich jetzt auf der sicheren Seite. Aber Susa zeigte keinerlei Regung. Wir anderen bildeten einen Kreis und die Jungs stellten sich in sicherer Position vor Susa. Aber Susa verblüffte uns erneut. Wir lernten Susa von einer ganz neuen Seite kennen. Eine Seite, die aus dem schüchternen Mädchen mit einem Male eine Heldin zum Vorschein brachte. Woher kam nur diese Wandlung?
Susa kramte in ihrer Tasche und zog eine kleine Flasche Parfüm heraus. Ach so, dachte ich bei mir. Susa wollte also wohlriechend zu Boden gehen.
„Hier, ich trage das immer bei mir, ‚My Girl‘, ein sehr lieblicher, aber nicht zu starker Duft. Sehr süß und so ganz und gar nichts für Ameisen. Sie mögen das nicht, wenn man ihnen mit Süßkram kommt und würden mich also mit aller Wahrscheinlichkeit in Ruhe lassen. Wie sieht’s bei dir aus? Irma!“ Susa versprühte demonstrativ eine große Dosis ihres Parfüms. „Magst du auch?“, fragte sie erneut. Susa streckte ihr das Fläschchen entgegen.
„Weiberkram“, brummte Irma. Sie packte ihren Bruder am Arm. Kleinlaut gab sie von sich: „Komm lass uns gehen. Die sind doch total bescheuert. Wir kommen ein anderes Mal wieder, wenn die Dumpfbacken nicht hier sind.“ Kalle zog folgsam fast hinterher trottelnd mit ihr ab.
Puh, das wäre geschafft. Ein Raunen ging durch die Menge.
„Susa, Susa was ist nur mit dir passiert?“ Es war, als sang ein Chor, diese Frage, die uns allen zugleich aus dem Munde kam. „So haben wir dich auch noch nie erlebt. Dein Parfüm scheint dir dein Gehirn vernebelt zu haben. Das hätte auch schiefgehen können.“ Gerade Tristan raunzte sie brummend von der Seite an.
„Lass mal gut sein“, mischte sich Bruno ein.
Susa steckte ihr Parfüm wieder zurück in ihre Tasche. Sie warf den Kopf zurück, sah zufrieden in die Runde und meinte nur: „Keiner wird den Ameisenhügel anrühren, sonst bekommt er es mit mir zu tun. Alle lachten, und wir waren nicht nur froh, dass Kalle und Irma verschwunden waren, nein, wir waren auch dankbar für diesen Denkanstoß, den uns Susa mit ihrer Aktion vor Augen führte, und wir somit unsere Meinungen über die Zerstörung des Ameisenhügels noch mal überdenken konnten. Mutwillige Zerstörung lag wirklich nicht in unsere Absicht. Und Susa hat uns das bewiesen, mit Mut und ein paar wenigen Tropfen „My Girl“.
Wir feierten mit Susa den Rest des Tages und selbst Tristan gratulierte ihr nachträglich in ehrlicher Anerkennung zu ihrer Heldentat. Susa war hin und weg. Ihr müsst nämlich wissen, Susa findet meinen Bruder total süß. Das ist genauso ein offenes Geheimnis, wie das mit Aden und mir. Alle wissen Bescheid, nur die Jungs schalten weiterhin auf stur. Na ja, schlecht sieht Tristan ja wirklich nicht aus, aber mit Aden kann es keiner aufnehmen. Und überhaupt, Tristan ist mein Bruder, anders konnte ich ihn nicht sehen.
Später gestand uns Susa, dass sie absolut keine Ahnung hatte, was Ameisen betraf. Sie ist das Risiko einfach eingegangen, sagte sie, für Freunde wächst man manchmal sogar über sich selbst hinaus.
Es klopfte und die Türe ging auf, und meine Mum trat ein, noch bevor ich herein sagen konnte. Sie strahlte über das ganze Gesicht und kam mit weit geöffneten Armen auf mich zugestürmt. „Meine kleine und doch schon so große Andra“, sagte sie und drückte mich so fest an sich, dass ich kaum noch Luft bekam. „Alles, alles Liebe zu deinem Geburtstag. Auf dass sich alle deine Wünsche, ab jetzt oder in der Zukunft, erfüllen mögen.“
Ich liebe meine Mum, aber manchmal war sie echt schräg drauf. Meine Wünsche! Sie wusste, was ich mir wünschte. Ein Fahrrad! Ein rosarotes mit giftgrünen Sternen drauf und einen Korb, um Bob mitzunehmen. Bob war mein Rabe.
Irgendwann saß er an meinem Fenster. Heute Morgen war er allerdings noch nicht da. Mum mochte ihn nicht. Sie hatte immer Angst um uns. Tiere und besonders Vögel aller Art waren für sie die größte Übertragungsquelle von Bakterien und Krankheiten. Ich liebte Bob inzwischen, er war mein stiller Freund und stets treuer Begleiter. Das war nicht immer so. Am Anfang war er nur riesig und wirkte auch auf mich gefährlich. Mit seinem großen, kräftigen Schnabel, mit dem er so versessen damals an meine Fensterscheibe klopfte, bis ich schließlich nachgab und ihn hereinließ. Er flog quer durch mein Zimmer und setzte sich dann ans Kopfende meines Bettes. Es wurde sein fester Platz. Denn immer, wenn er kam, saß er da und starrte mich an. Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. Es gelang mir nicht. Ich glaubte, er würde mich jeden Moment angreifen, wenn ich auch nur einen Schritt auf ihn zumachte. Aber Bob saß nur da und starrte. Starrte mich an, dann eines Tages, ich saß im Bett und las, kam Bob. Das Fenster war offen, denn ich wusste oder hoffte es zumindest, dass er wieder kommen würde.
Bob war lange Zeit nur der Rabe, der sich verflogen hatte und einfach bei mir seine Zeit verbrachte. Seinen Namen gab ich ihm erst an dem Tag, an dem er das erste Mal nicht kam. Ich vermisste ihn. Wenn es nicht klopfte und piepste, war der Tag nicht perfekt. Ich lag in meinem Bett und wartete. Ich konnte mich nicht auf das Lesen konzentrieren. Wo war er nur? Würde er überhaupt jemals wieder kommen. Dann hörte ich mich selbst rufen. Bob, Bob …
„Wo bist du?“ Kaum dass ich das in meinen Gedanken laut ausgesprochen hatte, klopfte etwas an meinem Fenster.
Sofort sprang ich auf und schob behutsam die Gardinen zur Seite. Da hockte er und sah mich an, als ob er sich für sein Fernbleiben bei mir entschuldigen wollte. Schnell öffnete ich das Fenster und diesmal flog Bob direkt auf das Kopfende meines Bettes zu. Diesmal gab es keine Rundflüge quer durch mein Zimmer. Nein! Bob kannte sein Ziel. „Da bist du ja, Bob. Ich dachte, du hättest mich verlassen. Jetzt da du da bist, ist alles wieder in Ordnung.“
„Träumst du Andra? Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken?“
„Bob war noch nicht da!“
„Heute ist dein Geburtstag, was kümmert dich da dieser dumme Vogel“, sagte Mum und machte eine abwehrende Handbewegung. „Komm“, sagte sie, „lass dich lieber umarmen. Bald wirst du mir sagen, dass du dafür zu groß bist und nur noch dein Freund dich so küssen und herzen darf.“
Entweder war ich federleicht oder meine Mum besaß übernatürliche Kräfte. Meine Beine hoben sich vom Boden, und Mum wirbelte mich im Kreis herum. „Mum, es ist gut, lass mich runter, ich bin doch kein Baby mehr.“
„Ach lass mich doch.“ Sie schmollte, aber wirklich böse wurde sie selten. Sie war ein Wirbelwind. Paps sagte immer, sie sei das Feuer, das seine Glut nicht erlöschen lassen würde. Was immer das auch zu bedeuten hatte.
Als ich endlich wieder Boden unter meinen Füssen spürte, folgte gleich der nächste Angriff. Diesmal gefolgt von meinem Bruder. Statt mich in die Luft zu heben, oder mir nur ganz normal die Hand zur Gratulation zu schütteln, hatte mein Bruder auch seine ganz besondere Art, mir seine Glückwünsche zu überbringen.
Tristan kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. „Na, Schwesterlein!“ Sein Grinsen war unnatürlich, wirkte gezwungen. Bestimmt steckte Mum hinter dieser Aktion. Sie legte so viel Wert auf gute Umgangsformen. Seine Stimme klang anders als sonst. „So langsam kommst du in die Jahre, Schwester“, sagte er.
Ja, rede du nur, dachte ich mir, während ich mit meinen Gedanken immer noch bei Bob war. Wo konnte er nur stecken …
„Ich danke dir Bruderherz. Zumindest weiß ich, dass deine Absicht gut gemeint war.“ Tristan war kein Freund von Feierlichkeiten. Er hasste diese Situationen, besonders, wenn Mum es nicht sein lassen konnte, ihm zu sagen, wie und was er zu sagen hatte. Dann kam er sich vor wie ein dressierter Affe im Zoo. Sonst war er immer sehr offen und locker. In unserer Clique hatte er sogar den Ruf eines Frauenschwarms, was ich als Schwester natürlich nicht verstehen konnte. Tristan war der Gründer unserer Clique und Vorbild bei den Jungs. Seit vielen Jahren waren wir ein eingeschworenes Team. Wann immer irgendetwas anstand, dann hatte Tristan das letzte Wort. Aber er achtete immer darauf, dass Entscheidungen in der Gruppe getroffen wurden. Tristan war fair und nutzte seine Position nie für sich aus. Einen besseren Anführer hätten wir uns nicht wünschen können.
„Ach, Schwester, du weißt doch, wie es gemeint ist. Mum sagt dies und ich mache das.“ Tristans Verlegenheit war sofort verflogen, und der alte Schelm kam zum Vorschein.
„Was hast du da?“, fragte ich. „Die ganze Zeit wedelst du mit diesem Päckchen herum. Ich hoffe sehr, es ist nichts Zerbrechliches darin.“
„Nein, keine Sorge! Oder?“ Nochmals schüttelte Tristan das Päckchen. „Hier, für dich, aber öffne es bitte erst später!“
„Warum nicht jetzt? Ich bin so neugierig“, sagte ich voller Ungeduld. „Du weißt genau, ich kann nicht warten.“
„Das Geschenk ist von mir und Susa.“ Ich spürte leichte Verlegenheit bei ihm aufsteigen, aber ging nicht näher darauf ein. „Wir müssen runter“, drängte er, „Mum wartet mit dem Frühstück, und Paps will um neun Uhr anrufen!“ Upps! Tristan presste seine Hand fest auf seinen Mund. „Scheibenkleister! Sag Mum nicht, dass ich es dir verraten habe. Es sollte eine Überraschung sein.“
„Eine Überraschung wäre, wenn Paps heute hier wäre“, zischte ich ihn an. Ich spürte Tränen in mir aufsteigen. Paps ist nun schon sechs Wochen weg.
„Sei nicht traurig Andra.“ Tristan nahm mich für einen Moment in den Arm, und gemeinsam gingen wir hinunter in die Küche.
„Halt, warte!“, schrie ich. Da war Bob! „Bob ist da!“
„Er kommt spät, aber er kommt“, lachte Tristan.
Ich eilte zurück ins Zimmer und öffnete das Fenster. Anders als sonst setzte sich Bob direkt auf meine Schulter.
„Hey Bob, gratulierst du mir auch zum Geburtstag, indem du mir deinen feuchten Schnabel ins Gesicht drückst.“ Natürlich konnte Bob nicht sprechen, aber er kippte seinen Kopf zur Seite, so, als ob er mir etwas sagen wollte. Dann erhob er sich erneut in die Lüfte und verschwand auf demselben Wege, den er gekommen war.
„Frühstück“, hallte mir die Stimme meiner Mum entgegen.
„Ich bin ja schon da, was gibt es denn, Mum?“ Meine Laune war mit Bobs Erscheinen gleich viel besser geworden.
„Heute an deinem Geburtstag natürlich dein Lieblingsfrühstück“, trällerte sie. „Pfannkuchen mit Sirup“. Meine Mum liebte Geburtstage. Eigentlich machte sie aus jedem Tag einen Feiertag. Für sie gab es nichts Schöneres als in der Küche zu stehen und zu mengen. Sie verwöhnte uns das ganze Jahr, aber an Tagen wie diesem war sie nicht zu halten.
„Du bist die beste Mum.“
„Danke!“ Ich gab ihr einen Kuss und ich sah ihrem Gesicht an, dass sie rundum mit sich und der Welt zufrieden war. Es duftete herrlich nach Zimt und Honig. Die Pfannkuchen goldgelb mit Puderzucker bestäubt. Der Sirup aus feinster Schokolade mit klein gehackten Nüssen und Mandeln schmolz auf den warmen Pfannkuchen und sog sich in sie hinein.
„Hier!“ Mum reichte mir den großen Topf mit Schmand und Sahne. Großzügig nahm ich mir eine Portion und ließ mir den Traum aller Pfannkuchen genüsslich im Mund zergehen, während Tristan mich ungläubig ansah. Das Leben kann verdammt gut sein, und ich schob mir ein weiteres Stück in den Mund. Für einen Moment waren meine Augen geschlossen, das intensivierte den Geschmack zusätzlich und so tauchte ich für einen Moment hinab in das Land der Pfannkuchen.
„Andra, Telefon! Es ist dein Vater. Beeile dich, du weißt, wie wenig Zeit Paps hat.“ Mums Stimme klang ungeduldig. Sie vermisste Paps entsetzlich. Aber sie ließ es sich in unserer Gegenwart nicht anmerken. Manchmal höre ich sie nachts in ihrem Zimmer ruhelos umherlaufen. Sie tut mir leid. Wenn ich nur daran denke, dass ich Aden wochenlang nicht sehen könnte. Es würde mich umbringen.
Ich nahm einen großen Schluck süßen Kakaos, den Mum zu den Pfannkuchen servierte, und schluckte und schluckte bis auch das letzte Stück in meinem Mund verschwunden war.
Ich flog fast zum Telefon. Obwohl ich bereits von Tristan wusste, dass Paps anrufen würde, wollte ich ihm nicht die Freude der Überraschung nehmen. Also tat ich, was große Töchter halt so machen. „Was für eine Überraschung, Paps“, rief ich in den Hörer. Als ich seine Stimme endlich zu hören bekam, waren meine Tränen kaum aufzuhalten. Mein Vater war auch mein bester Freund. Anders natürlich wie Aden, aber Paps war einfach klasse.
„Hallo, meine Kleine. Weinst du etwa?“
„Nein!“, stammelte ich. „Es ist nur die Freude über deinen Anruf.“ Seine Stimme klang vertraut, so nah, obwohl er Tausende von Kilometer weit entfernt war.
„Bin ja bald wieder bei euch, Kleines“, versuchte er mich aus der Ferne zu trösten.
„Andra! Ich kann dein Gesicht sehen“, sagte mein Vater, und tatsächlich zog ich in diesem Moment eine Grimasse. Das tat ich immer, wenn Paps mich Kleine nannte und er wusste, dass ich es nicht ausstehen konnte. „Ich weiß, du bist jetzt schon fast eine junge Dame, aber für mich bleibst du immer meine Kleine.“ Sofort erhellte sich mein Gesicht.
„Wo bist du, wann kommst du wieder, warum bist du nicht hier?“ Die letzte Frage hätte ich mir schenken können, und ich hoffte, dass Paps nicht so genau zugehört hatte. Es war nun mal Paps’ Job, das Leben der anderen zu erkunden.
„Halt, halt, meine Kleine, du überschlägst dich ja geradezu. Also! Ich bin, wie du weißt in Australien, wir haben hier ein Reservat entdeckt. Hier leben verschiedene Stämme der Aborigines. Sie stammen aus allen Himmelsrichtungen. Da gibt es die Jolngu aus dem Norden, die Wonghi aus den Westen, die Murri aus den Osten und die Koori aus dem Süden.“