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Buch

Mit Europa war einst die große Hoffnung auf einen Kontinent des Friedens und Wohlstands verbunden. Nach vielen Krisen scheint es heute damit vorbei zu sein. Viele Europäer sehen in der EU nur noch ein bürokratisches Monster. Doch es gibt überhaupt keinen Grund, sich enttäuscht oder zornig abzuwenden. Es gilt, das unerhörte Experiment der europäischen Einigung schwungvoll fortzusetzen. Dabei geht es um den Beweis, dass geteilte Souveränität die Staaten und Völker nicht schwächt, sondern stärkt, dass Vielfalt nicht spaltet, sondern zusammenführt. Thomas Schmid plädiert für ein Europa, das Experimente und unterschiedliche Geschwindigkeiten zulässt, das liberaler wird und dem Einbruch globaler Konflikte nicht mit Festungsdenken begegnet. Die europäische Einigung wird den Nationalstaat überwinden, ohne die Bürger heimatlos zu machen. Die hoffnungsvolle Botschaft des Autors lautet: Europa bleibt sich treu, indem es sich neu erfindet – kühn und pragmatisch zugleich.

Autor

Thomas Schmid, Jahrgang 1945, engagierte sich in der Studentenbewegung, leitete die Zeitschrift »Autonomie« und arbeitete als Lektor im Verlag Klaus Wagenbach. Er war in leitenden Positionen bei »Wochenpost« und »FAZ« tätig, zuletzt als Chefredakteur und Herausgeber der »Welt«-Gruppe. Schmid lebt als Publizist in Berlin und betreibt den Blog www.schmid-blog.de. Er veröffentlichte u. a.: »Staatsbegräbnis. Von ziviler Gesellschaft« und (mit Daniel Cohn-Bendit) »Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie«.

Thomas Schmid

Europa ist tot,
es lebe Europa!

Eine Weltmacht muss sich neu erfinden

C. Bertelsmann

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2. Auflage

© 2016 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20083-1
V003

www.cbertelsmann.de

Für Edith

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel
Europas Problemgebirge. Und die Kraft der Krise

Vorwärts immer, Stillstand nimmer?

Den großen Kladderadatsch wird es nicht geben

Der Euro: Not kennt kein Gebot

Mit Putin kam die Geopolitik zurück

Noch Fremde im neuen Club: Mittel- und Osteuropa

Die Massenflucht: Zerlegt der Kontinent sich selbst?

Drei unkluge Reaktionen auf die Krise

Ein Phönix aus der Asche: Die Römischen Verträge

Im Würgeeisen der immer engeren Union

Was daraus folgt

2. Kapitel
Glanz und Elend der Einigung: Ein Zwischenspiel

COREPERELEREGFL: Die unnötige babylonische Sprachverwirrung

Brüssel I: Die schlanke und polyglotte Bürokratie

Brüssel II: Hort der Arroganz

Eigentümlich schwach: Das Europäische Parlament

Nur die Besten sind gut genug

Was daraus folgt

3. Kapitel
Kein Land ist eine Insel. Werden sich die Briten wirklich vom Kontinent abwenden?

Mind the gap

Reif für die Insel?

Ein verpasstes Rendezvous

Nebel im Ärmelkanal – Kontinent isoliert

Auenland oder: Nostalgie, Zorn und soziales Elend

Was daraus folgt

Wie Wildgänse fliegen

4. Kapitel
Merkur und Mars: Mehr Außenpolitik!

Ein Konflikt ist ein Konflikt – und bleibt ein Konflikt

Zu viel Innenarchitektur, zu wenig Außenpolitik

Polnische Kapriolen

Europas Weltvergessenheit

Mare nostrum

Die Union für das Mittelmeer: Mehr als nichts, aber zu wenig

Was daraus folgt

5. Kapitel
Gewollt oder nicht: Der Kontinent wird ein anderer werden

Auf dem Rücksitz der europäischen Kutsche

Exkurs: Die Flüchtlinge verändern Europa

Syrien liegt nicht hinter den sieben Bergen

Gehört Istanbul zu uns?

Big is beautiful? Nicht in Europa

Unterschiedliche Geschwindigkeiten wagen

Intermarium

Was daraus folgt

6. Kapitel
Der Euro: Eine Fehlkonstruktion ohne Exit

In Unfrieden vereint

Gibt es ein Lateinisches Reich?

Norden und Süden: Zähe Mentalitäten

Die gemeinsame Währung kann nicht abgeschafft werden

Deutsch-französischer Motor: Stottert oder explodiert er?

Vielfalt statt Einfalt

Transferunion: Was denn sonst?

Was daraus folgt

7. Kapitel
Zuerst die Kultur?

Die »Méthode Monnet«

Eine Morgenröte der europäischen Literatur?

Das Schweigen der Dichter

Vom langen Elend der Stadt L’Aquila

Wissen eint

Was daraus folgt

8. Kapitel
Staatlichkeit ohne Staat: Die Zukunft beginnt jetzt

Zwei vermeidbare Sackgassen

Warum mehr Nationalstaat keine Lösung ist

Die Vereinigten Staaten von Europa: Auch keine Perspektive

Ein guter Weg: Staatlichkeit ohne Staat

Liberaler, als man glaubt

Eine friedfertige Waffenschmiede

Ein langes Patiencespiel

Dank

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Europa kann und muss in ganz anderem Maße als bisher zu einer weltpolitischen Macht werden. Die Zeichen scheinen dafür nicht gut zu stehen. Denn die Europäische Union gibt derzeit kein gutes Bild ab, sie wirkt zerrissen und uneins. Doch dabei muss es nicht bleiben. Europa, das nie in sich abgeschlossen war, hat die Kraft, zur Gemeinsamkeit in Vielfalt zurückzufinden. Ein Blick in die Geschichte der europäischen Einigung zeigt das.

Sie versprachen sich Einigkeit und Gemeinsamkeit. Als die Regierungschefs Frankreichs, Italiens, der Beneluxstaaten und der Bundesrepublik Deutschland im März 1957 in der italienischen Hauptstadt die Römischen Verträge unterzeichneten, war das der Anfang einer bisher undenkbaren Entwicklung. Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) machten sich sechs europäische Staaten als Pioniergruppe auf einen gänzlich neuen Weg der Verständigung. Erst zwölf Jahre war es her, dass der Zweite Weltkriegs zu Ende gegangen war, der nicht nur diesem Kontinent so furchtbare Verwüstungen gebracht und viele Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Nun ging vom Kapitol in Rom eine große Hoffnung aus, die Europas Völker beflügelte. Man würde sich zusammentun, die Nationalstaaten würden allmählich verblassen.

Das ist lange her. Heute versteht sich die Europäische Union nicht mehr von selbst. Sie ist mehr Last und Problem als Attraktion und Lösung. Viele andere ängstigt die EU. Sie empfinden Zorn gegen sie und wollen zurück in den vollkommen souveränen Nationalstaat. Die europäische Einigung scheint zu fördern, was sie doch beenden wollte: den Nationalismus. Ist die Krise der EU aufzuhalten? Und von welchen Kräften könnte diese Gegenbewegung in Zukunft ausgehen?

In zwei europäischen Staaten – Ungarn und Polen – stellen aggressive EU-Skeptiker und -Gegner seit geraumer Zeit die Regierung. Denkbar ist, dass die Franzosen bald die Vorsitzende des rechtspopulistischen Front National, der den Ausstieg Frankreichs aus der EU will, zur Staatspräsidentin wählen. Und der wirtschaftlich zweitstärkste Mitgliedstaat der EU hat es im Juni 2016 nicht bei seiner Dauerkritik an der EU belassen, sondern höchst praktische Konsequenzen gezogen: Die Briten haben der Europäischen Union nach 43 Jahren Mitgliedschaft den Rücken gekehrt. Es ist durchaus denkbar, dass demnächst andere EU-Staaten diesem Exit-Beispiel folgen werden.

Zuletzt hat die EU in der Flüchtlingsfrage auf dramatische Weise ihre Unfähigkeit bewiesen, gemeinsam zu handeln. Zu viele Staaten igeln sich national ein, kehren gar zum alten Grenzregiment zurück, Zäune inbegriffen. Die vereinbarten Regeln, die das Rückgrat der Union sein müssten, gelten plötzlich nicht mehr. Erstmals ist das Ende des Prozesses der europäischen Einigung vorstellbar geworden.

Dieses Buch schließt sich einem solchen Pessimismus nicht an. Es geht von der Überzeugung aus, dass die Europäische Union wie aus früheren Krisen auch aus der gegenwärtigen gestärkt und erneuert hervorgehen kann. Ein großes europäisches Übel steht dem jedoch im Wege: das unerschütterliche »Weiter so« der fanatischen Berufseuropäer. Schon lange leidet die europäische Gemeinschaft unter einem Defekt. Nach der großen Katastrophe zweier Weltkriege und zweier Totalitarismen sollte in Europa eine politische Ordnung geschaffen werden, die den Rückfall des Kontinents in die Barbarei ein für alle Mal unmöglich macht. Deswegen wurde es zum ehernen Gesetz der Europapolitik, dass es immer nur vorangehen darf in Richtung der »immer engeren Union«. Auch diese Sturheit bewirkte, dass viele Bürger die EU als gefräßiges Ungeheuer wahrnehmen.

Eine andere, eine bessere EU ist machbar. Sie muss nur ihre Ursünde tilgen: Sie muss sich von ihrem antiliberalen Erbe befreien. Die Europäische Union kann unterschiedliche Geschwindigkeiten zulassen. Sie ist keine aufgeblähte Kopie des Nationalstaats, sondern ein Gebilde neuer Art: mehr Bund oder Staatenbund als Staat im alten Sinne. Eine erneuerte Europäische Union könnte es den Völkern möglich machen, ohne Verlustgefühle vom unzeitgemäßen Phantom vollkommener nationaler Souveränität Abschied zu nehmen.

Das Buch lässt die gegenwärtige Krise der Europäischen Union und deren Vorgeschichte Revue passieren und weist auf vergessene Traditionsfäden der europäischen Einigung hin. Es macht Vorschläge, wie das Gefüge der EU so verändert werden kann, dass es fehlerfreundlicher wird. Es plädiert für die Möglichkeit unterschiedlicher Wege. Es zeichnet die Geschichte der Euro-Katastrophe nach, die hätte vermieden werden können, und vertritt die Ansicht, dass Austritte aus der Eurozone möglich sein sollten. Und es setzt sich dafür ein, dass sich die EU neue Schwerpunkte vornimmt, vor allem außenpolitische, und in der Flüchtlingsfrage zu neuer Gemeinsamkeit findet.

Auch der mit Aplomb beschlossene, aber sehr langsam in Gang gesetzte Auszug der Briten aus der Europäischen Union muss keineswegs die vielfach prognostizierte Katastrophe bedeuten. Denn erstens könnte Europa diesen Verlust, den der Austritt Großbritanniens zweifelsfrei bedeutet, endlich zum Anlass nehmen, Politik und Vorgehensweise der EU-Institutionen gründlich zu überdenken und ohne großes Vertragstamtam zu reformieren. Das Nein der Briten drückt ja eine Unzufriedenheit mit der EU aus, die allgemeineuropäische Dimensionen hat. Und zweitens besteht jetzt die Chance, das Vereinigte Königreich durch neue, flexible Formen der Kooperation weiter an die EU zu binden und damit der Tatsache gerecht zu werden, dass Großbritannien zwar eine Insel, aber immer schon ein höchst aktiver Teil Europas war.

»Le roi est mort, vive le roi«: Mit diesem Ausruf gab einst in Frankreich ein Herold den Tod des Königs bekannt, um im selben Moment den neuen König auszurufen. Die Parole, 1824 zum letzten Mal verwendet, war kein düsterer Trauerruf. Sie erzählt vielmehr eine Geschichte: die Geschichte einer Kontinuität. Der König stirbt, aber die Monarchie bleibt. »Europa ist tot, es lebe Europa!« Der Titel dieses Buches erzählt auch eine Geschichte. Die Geschichte vom Vermögen der europäischen Einigung, an Krisen nicht zugrunde zu gehen, sondern sie zu meistern.

Noch eine persönliche Bemerkung: Die europäische Einigung habe ich lange Zeit nur am Rande wahrgenommen. Es gab sie einfach, wie das Wetter. Das mag mit der verächtlichen Gleichgültigkeit gegenüber Institutionen zu tun haben, die mir, einem 68er, einst selbstverständlich war. Mein Interesse wuchs nur langsam, verzögert auch deswegen, weil mich die funktionärshafte Gschaftlhuberei der Durch-dick-und-dünn-Europäer abstieß und noch immer abstößt. Spätestens in dem Moment aber, als mit Putins Rückkehr zur Geopolitik erstmals im europäischen Raum wieder Grenzen bewusst verletzt wurden und Europa dann in der Flüchtlingsfrage so dramatisch versagte, wurde mir vollends klar, was wir an der EU als einer Gesprächs- und Verhandlungsunion haben. Genauer: haben könnten.

Europa muss eine politische Weltmacht werden – aber nicht im Sinne herkömmlicher Machtpolitik und auch nicht in moralisch-zivilgesellschaftlicher Überheblichkeit. Was sich schon andeutete, könnte unter Trumps Präsidentschaft Wirklichkeit werden: Die USA ziehen sich so radikal wie nie zuvor auf sich selbst zurück. Nun spätestens ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Europa gar keine andere Wahl mehr hat, als sich zu einen und selbstverantwortlich für seine Sicherheit zu sorgen. Europa allein zu Haus: Darin liegt auch eine Chance.

Dieses Buch versteht sich als Herausforderung an die Europäische Union, sich selbst offenen Geistes zu überdenken und liberal zu bekräftigen. Geduld und Leidenschaft sind gefragt. Let’s twist again.

Berlin und Schmölln, im Frühsommer 2016