Lama Marut

be
Nobody

Warum wir uns nicht
anstrengen müssen,
jemand Besonderes
zu sein

Aus dem amerikanischen Englisch von
Theo Kierdorf und Hildegard Höhr

Sobald wir jemand sein wollen,
sind wir nicht mehr frei.
JIDDU KRISHNAMURTI

Dieses Buch ist Cindy Lee gewidmet, einer wahren Gefährtin, Partnerin, Muse und der besten Freundin, die man sich wünschen kann.

INHALT

Vorwort: Don’t give me that Old-Time Religion!

Einleitung: Leben im iZeitalter

Teil I:

Das verzweifelte Bemühen, jemand zu sein

1.  Wir verleihen unser Gesicht einer Pappfigur

2.  What goes up must come down: »Runter kommen sie alle!«

Teil II:

Wie aus einem Niemand ein besserer Jemand wird

3.  Sich an Strohhalme klammern und Schatten nachjagen

4.  Niemand macht einen besseren Jemand möglich

Teil III:

Das »Jemand-Sein« verlieren

5.  Für andere niemand sein

6.  Ein Leben im Flow

Teil IV:

Jeder ist ein Nobody

7.  Ein Leben als Normalo

Danksagung

Anhang: In die eigene wahre Natur fallen

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

VORWORT:
DON’T GIVE ME THAT OLD-TIME RELIGION

Traditionen sind gemeinschaftliche Anstrengungen,
die verhindern sollen,
dass etwas Unerwartetes geschieht
.
BARBARA TOBER

Ein Gospelsong, den ich als Kind in der Kirche gelernt habe, gibt uns den Rat, uns nicht auf neumodischen Kram einzulassen, wenn es um unsere Spiritualität geht. Statt uns in einer der vielen Fallen der modernen Welt zu verfangen, täten wir besser daran, es bei der »guten alten Religion« zu belassen; die sei gut genug.

Give me that old-time religion

Give me that old-time religion

Give me that old-time religion

It’s good enough for me

Na ja, sie war für mich nicht gut genug, als ich noch ein Jugendlicher war, und sie ist es auch jetzt nicht. Eine Religion, die für unsere heutigen Lebensumstände nicht relevant ist, ist grundsätzlich irrelevant, oder was meinen Sie?

Meine Spiritualität war vielfältigen Einflüssen ausgesetzt, und ich nehme an, dass das bei vielen von uns genauso war. Ich bin als Christ aufgewachsen (mein Vater und Großvater waren ordinierte Baptistenpriester), wurde getauft und viele Jahre in dieser Tradition unterwiesen und habe ein Theologiestudium absolviert. Ich habe bis heute eine tiefe und dauerhafte Verbindung zum christlichen Glauben.

Außerdem war ich mehr als dreißig Jahre lang vergleichender Religionswissenschaftler mit Schwerpunkt Hinduismus und habe zu Forschungszwecken viele Male Indien besucht. Während des längsten meiner Aufenthalte dort hatte ich eine tiefe Verbindung zu einem gelehrten und frommen Hindulehrer, der mir nicht nur half, mein Sanskrit zu verbessern, sondern mir auch beibrachte, nach spirituellen Prinzipien zu leben. Dieser Lehrer hat meine Religiosität entscheidend verstärkt. Sehr inspiriert hat mich auch meine Kenntnis der klassischen Hindu-Literatur, die ich seit dreißig Jahren im akademischen und spirituellen Kontext unterrichte. Leser dieses Buches werden bald merken, dass ich die Weisheit, die ich in Hindu-Schriften wie den Upanischaden, dem Yoga-Sutra, dem Vijnana Bhairava Tantra und der Bhagavad Gita gefunden habe, in mein allgemeines Verständnis eines spirituellen Lebens integriert habe. Seit dem Jahre 1998 widmete ich mich intensiv dem Studium und der Praxis des Tibetischen Buddhismus, wurde schließlich buddhistischer Mönch und fing dann an, die Philosophie und Praxis dieser Tradition zu lehren. Zur buddhistischen Tradition habe ich mich mein ganzes Leben lang hingezogen gefühlt; ihr Eintreten für ein von Mitgefühl und Achtsamkeit geprägtes Leben und ihre bewusstseinserweiternden Lehren über die wahre Natur der Wirklichkeit interessieren mich schon lange. Als ich mich intensiver mit diesen Lehren beschäftigte, stellte ich zu meiner Freude fest, dass man in buddhistischen Schriften immer wieder die Aufforderung zum selbstständigen Denken findet – dass Schüler nichts glauben sollen, was sie nicht selbst geprüft haben, und dass sie intellektuell und spirituell gegenüber allem, was nützlich und förderlich ist, wo auch immer sie es vorfinden, offen bleiben sollen. Man könnte sagen, dass es ein buddhistisches Dogma ist, nicht zu sehr an einem bestimmten Dogma zu haften. Wenn ich richtig verstanden habe, was es bedeutet, Buddhist zu sein, dann bin ich stolz, mich einen Buddhisten zu nennen.

Die Frage, was oder wer ich bin, wenn es um die Religion geht, lässt sich also nicht ohne Weiteres beantworten – es ist nicht einmal mir, oder besser gesagt, ganz besonders mir nicht klar. Bin ich Christ, Hindu oder Buddhist? Ist es wichtig oder gar notwendig, sich für eine dieser Möglichkeiten zu entscheiden? Wie könnte ich die vielen Jahre, in denen ich diese drei wichtigsten Einflüsse auf meine Spiritualität erlebt habe, auslöschen?

Viele Leser, die zu diesem Buch greifen, sind wahrscheinlich in religiöser Hinsicht mindestens genauso kompliziert wie ich. Viele Menschen sind heutzutage religiöse Hybride, die Elemente verschiedener religiöser und philosophischer Traditionen in sich vereinen – spirituelle Promenadenmischungen, wenn Sie so wollen. Selbst diejenigen von uns, die sich der einen oder anderen Weltreligion stark verbunden fühlen, unterliegen in einem Maße den Einflüssen anderer Lehren, wie es in der Geschichte der Welt noch nie der Fall war.

In früheren Zeiten lebten die meisten Menschen in geschlossenen Gesellschaften und waren sich des Spektrums religiöser und kultureller Alternativen gar nicht bewusst. Heute ist unsere Welt viel größer und vielfältiger als jemals vorher. In unserem globalisierten Zeitalter ist dank des Internets unmittelbare Kommunikation mit der ganzen Welt jederzeit möglich, und obwohl wir alle in Nationalstaaten leben, sind diese immer stärker multikulturell geprägt und religiös immer heterogener. Die Strukturen, die einmal dafür gesorgt haben, dass wir in unserer kulturellen Prägung separat blieben, öffnen sich heute in alle Richtungen.

Wir wissen viel mehr über unsere Mitmenschen als jemals vorher, und wir alle sind auf allen Ebenen wechselseitiger Beeinflussung und der Überlagerung verschiedenster Einflüsse ausgesetzt. Diese allgemeine Tendenz zur Vermischung hat auch starke Auswirkungen auf die Spiritualität, was dazu führt, dass kaum jemand Zeit auf das ohnehin zum Scheitern verurteilte Bemühen vergeudet, in der »guten alten Religion« zu verharren.

Wenn man heutzutage eine religiöse Identität (oder keine) für sich reklamiert, so ist das eine von verschiedenen Möglichkeiten, die einem offen stehen, jedoch keine unveränderliche Eigenschaft, die man von Geburt an und bis zum Lebensende hat. Wir mögen mit dieser oder jener religiösen Überzeugung (oder auch ohne jede) aufgewachsen sein, aber wir haben heute mehr Wahlmöglichkeiten hinsichtlich unserer persönlichen Überzeugungen, unserer Identität und unserer Spiritualität als jemals vorher.

Erstaunliche 44 Prozent aller Amerikaner fühlen sich heute einer anderen religiösen Lehre verbunden als derjenigen, in die sie hineingeboren sind.1 Ganz gleich, mit welcher Religion sich unsere Eltern identifiziert haben mögen, wir selbst sehen heute kein Problem darin, von einer Lehre zu einer anderen zu wechseln. Und abgesehen von uns spirituellen Hybriden lehnt eine ständig wachsende Zahl von Menschen jede religiöse Überzeugung welcher Art auch immer ab. Diese grundsätzliche Verweigerung einer spirituellen Identifikation nimmt heute stark zu. Einer neueren Untersuchung gemäß sind organisierte Religionen generell stark in ihrem Bestand gefährdet – wahrscheinlich sogar eine vom Aussterben bedrohte Spezies in nicht weniger als neun Ländern mit besonders hohem Entwicklungsstand: Australien, Österreich, Kanada, Tschechien, Finnland, Irland, den Niederlanden, Neuseeland und der Schweiz.2 Eine andere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass sich zwei Drittel der Bewohner Großbritanniens nicht mehr als religiös ansehen.3

Sogar in den Vereinigten Staaten, in denen die Abwendung von den organisierten Religionen statistisch wesentlich geringer ausfällt als im größten Teil Europas und in anderen Teilen der industrialisierten Welt, geben heute 33 Millionen Bürger an, sich zu keiner offiziellen Religion zu bekennen. Nach einer kürzlich durchgeführten Studie des Pew Forum on Religion and Public Life sind die »keins davon« (also Befragte, die auf die Frage nach ihrer religiösen Zugehörigkeit »keine der oben genannten« angekreuzt haben) die am schnellsten wachsende Gruppe in den USA – sie hat allein in den letzten fünf Jahren einen Zuwachs von 25 Prozent erlebt. Die Zahl ihrer Anhänger ist unter jüngeren Menschen am größten. Einer Umfrage zufolge werden 30 Prozent der zwischen 1981 und 1989 Geborenen den »keins davon« zugerechnet, und in der Gruppe der zwischen 1990 und 1994 Geborenen haben 34 Prozent keine Anbindung an eine religiöse Gruppe.4

Nun bedeutet der Mangel an einer religiösen Bindung nicht unbedingt, dass die Betreffenden grundsätzlich kein Interesse an spirituellen Aspekten des Lebens haben. 86 Prozent der »keins davon« in den Vereinigten Staaten erklären, dass sie an Gott glauben, und 37 Prozent von ihnen bezeichnen sich als »spirituell«, aber nicht als »religiös«, wobei jeder Fünfte sagt, er bete jeden Tag.5 In Kanada bezeichnen sich einer Forum-Research-Umfrage zufolge zwei Drittel der Bevölkerung als »spirituell«, und nur die Hälfte nennt sich »religiös«, aber ein Viertel derjenigen, die angeben, »keiner Religion« anzugehören, erklären trotzdem, sie glaubten an Gott.6

Nun gibt es neben denjenigen, die sich zu einer bestimmten Religion bekennen, den von mehreren spirituellen Traditionen Beeinflussten und den »Nones«, die keine religiöse Identifikation entwickeln wollen, aber trotzdem eine spirituelle Ader haben, noch eine weitere Kategorie, nämlich die der Menschen, die versuchen, in der heutigen stark veränderten Welt ein gutes Leben zu führen. Wir könnten sie die »Undos«* nennen.

Undos sind Menschen, die sich von den Einschränkungen religiöser Gesetze befreien, ohne die Lehren und Methoden, die sie in diesen Traditionen entdeckt haben und die sie für nützlich halten, pauschal zu verwerfen. Ein Undo ist nicht genau das gleiche wie ein »keins davon«. Um sich von einer bestimmten religiösen Überzeugung befreien zu können, müssen Sie diese zunächst einmal besessen haben – Sie müssen in einer der spirituellen Traditionen der Welt unterrichtet worden sein. Ein Undo können Sie nur sein, wenn Sie zunächst ein Hindu (oder Buddhist, Christ, Jude, Muslim, Sikh oder was auch immer) waren. Doch nachdem ein Undo von dieser oder jener religiösen Tradition durchtränkt worden ist, beschließt er, den Mantel dieser religiösen Identifikation abzulegen, um sich fortan zu bemühen, ein guter Mensch zu sein, statt ein aufrechtes Mitglied (mit Ausweiskarte) einer bestimmten Religion.

Mitglied einer bestimmten Religion, spirituelle Promenadenmischung (Hybrid), »keins davon« oder Undo – immer mehr Menschen sind auf der Suche nach einer sinnvollen Existenz außerhalb der traditionellen religiösen Identitäten »der guten alten Religion«. Auf diese Entwicklungen eingehend, hat der Dalai Lama kürzlich (erstaunlicherweise auf Twitter!) erklärt, er neige immer stärker zu der Auffassung, dass es an der Zeit sei, eine Möglichkeit des Denkens über Spiritualität und Ethik zu finden, die von jeder Form von Religion unabhängig sei.7 In seinem Buch der Menschlichkeit: Eine neue Ethik für unsere Zeit beschreibt er ein Programm für ein gutes, ethisch einwandfreies Leben und vertritt die Auffassung, dass Religion allein nicht mehr ausreiche, um das, worum es heute gehe, zu schaffen.

Einer der Gründe hierfür ist, dass viele Menschen keiner bestimmten Religion mehr anhängen. Ein weiterer Grund liegt darin, dass die Menschen im Zeitalter der Globalisierung und in multikulturellen Gesellschaften immer stärker miteinander vernetzt sind und eine in einer bestimmten Religion verwurzelte Ethik nicht für alle eine Bedeutung hat, sondern nur einige von uns anspricht. … Was wir heute brauchen, ist eine ethische Grundlage, die sich nicht auf Glaubenssysteme bezieht und daher sowohl für religiöse als auch für nichtreligiöse Menschen annehmbar ist: eine säkulare Ethik.8

Ein ethisches Leben zu führen – ein von Uneigennützigkeit bestimmtes Leben, statt eines von ungezügeltem Egoismus bestimmten, ein durch Integration und Verbundenheit gekennzeichnetes Leben, statt eines Lebens, für das Entfremdung und kurzsichtiger Narzissmus kennzeichnend sind – ist nicht nur für Menschen wichtig, die einer bestimmten traditionellen Religion folgen. Dies ist für jeden Menschen der Schlüssel zu wahrem Glück und die Grundlage für die Schaffung einer besseren Welt. Denn »wenn es ›Ismen‹ gibt«, so sagte Lama Surya Das einmal zu mir, »dann gibt es auch Schismen«.

Doch leider führt die Identifikation mit einer formalisierten Religion oft dazu, dass Menschen sich berechtigt fühlen, ihr Bedürfnis, ein Jemand zu sein, im Interesse des unstillbaren Appetits ihres Ich nach Selbstbeweihräucherung zu erfüllen versuchen. Darüber gerät völlig in Vergessenheit, dass die Gründer der großen Religionen erst im Nachhinein deren Gründer geworden sind. Sie lehrten keine »Ismen«, sondern verkündeten ihr Verständnis des Lebens – dessen, was ist.

Und wenn wir über die großen spirituellen Vorbilder der Menschheitsgeschichte etwas wissen, dann dass sie demütig waren. Wenn Menschen wichtigtuerisch und arrogant auftreten, bewundern wir sie nicht oder machen sie gar zu Heiligen. Es gibt keinen »Heiligen Barry den Arroganten« und keine »Heilige Tricia die Aufgeblasene«. Unsere Vorbilder, ob aus der Vergangenheit oder Gegenwart, sind Menschen, die wahrhaft bereit waren oder sind, niemand zu sein – Diener, nicht Herren anderer zu sein.

Es geht nicht darum, Buddhist zu sein, sondern zu lernen, ein Buddha zu sein. Und es geht nicht darum, sich als »Christ« zu fühlen, sondern ein Leben zu führen, wie es Christus entspräche. Es reicht nicht, sich einer Religion anzuschließen, um die eigene Identität zu stärken, sondern man muss auch tatsächlich ein gutes Leben führen, ein Leben, das der uneigennützigen Sorge um das Wohl anderer gewidmet ist.

»Ich bin weder Hindu noch Muslim«, erklärte der indische Mystiker Kabir im 15. Jahrhundert. »Ich bin dieser Körper, ein Spiel der fünf Elemente, ein Drama des Geistes, in Freud und Leid tanzend.«9 Ähnlich versicherte der Heilige Paulus den Galatern: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.«10 Es heißt, der Buddha habe »gar keine Religion gelehrt«.* Die Praxis jedes spirituellen Pfades – ganz gleich, ob er durch eine der üblichen Etikettierungen als solcher gekennzeichnet ist oder nicht –, sollte nicht zur Selbsterhöhung führen, sondern zur Selbstnegation und zur Zerstörung der Selbstgefälligkeit, wie es dem Niemand-Sein entspricht.

Wie bitte? Ich soll niemand sein? Ich habe mich doch mein ganzes Leben lang bemüht, nicht irgendein Nobody zu sein!

Bevor Sie dieses Buch von der nächsten Brücke ins Wasser werfen, sollten wir uns die Bedeutung einiger Begriffe noch einmal genauer anschauen. Erstens besteht ein Unterschied zwischen egoistischem »Jemand-Sein«, das sich für völlig wertlos – ein Nichts, eine absolute Null – hält, und Niemand-Sein. Letzteres hat nichts mit unserem Empfinden einer persönlichen, individuellen Identität zu tun, die verbessert werden kann und sollte – insbesondere wenn sie auf ihrer Wertlosigkeit beharrt. Jemand, der denkt, er sei ein Niemand, definiert sich im Zustand der Ichbefangenheit als solcher, wohingegen jemand, der ein Niemand geworden ist, ohne jede Ichbefangenheit Teil von etwas wesentlich Größerem ist.

»Niemand«, so wie wir den Begriff hier benutzen, bezieht sich auf unsere Wesensnatur, auf unser »wahres Selbst«, das immer präsent ist und keiner Verbesserung bedarf. Dies ist unsere erhabenste Quelle der Freude und Stärke, das ewige Reservoir des Friedens und der Zufriedenheit, das wir aufsuchen, um die nie endenden Forderungen und Klagen des unersättlichen Ich zum Schweigen zu bringen.

Die Loslösung von unserem ständigen Bemühen, wichtig und bedeutend zu sein, ist nicht leicht. Weil wir uns so lange mit dem Jemand-sein-Wollen abgemüht haben, haben wir hartnäckige Gewohnheiten entwickelt, und irgendein tief verwurzelter Teil von uns wird sich der erforderlichen »Ich-Ektomie« mit Sicherheit widersetzen. Doch wenn es uns gelingt, uns von einschränkenden Hemmungen und vom Streben unseres Ich nach Bestätigung und Selbstverherrlichung zu lösen, wird uns das sehr erleichtern. Dies wissen wir instinktiv, und wir sehnen uns nach einer solchen Entlastung. Unser tiefstes Bedürfnis ist, dass wir uns nicht mit etwas Kleinem und Bestimmtem identifizieren, sondern mit etwas Größerem, Universellem und Transzendentem.

Angesichts der Allgegenwart von Ausdrucksformen grassierender Geistlosigkeit, wie sie im sogenannten Social Networking und im »Reality-TV« ebenso zum Ausdruck kommen wie in der allgemeinen Tendenz zur Ich-Überhöhung, im Celebrity-Kult, im weit verbreiteten Streben nach sofortigem Ruhm sowie in der engstirnigen Arroganz des religiösen Fundamentalismus und Fanatismus, sind Fragen der Spiritualität und Identität noch nie so drängend gewesen wie heute – auch wenn man berücksichtigt, dass es das Streben nach Authentizität und wahrem Glück schon immer gab.

Wir alle können völlig unserer selbst sicher und wahrhaft glücklich sein oder neurotisch selbstbesessen und ständig unzufrieden. Wir alle haben das Potenzial, das Meer zu sein, statt nur eine Welle, der klare blaue Himmel und nicht nur eine vorüberziehende Wolke, die Stille und nicht nur ein bestimmter Name oder ein bestimmtes Etikett.

Bevor Sie also dieses Buch in die Tonne werfen – Das ist doch völliger Quatsch! Blödsinn! Ich bin jemand, und der Sinn des Lebens ist, mehr Jemand zu sein, nicht weniger! – sollten Sie dem »Jemand-Sein« ein wenig Ruhe gönnen und herauszufinden versuchen, ob an alldem nicht vielleicht doch etwas »dran« ist. Wenn wir unseren reflexhaften Widerstand einmal für eine Weile neutralisieren, erkennen wir bald, dass wir das Glück und die Zufriedenheit mit uns selbst, die wir alle anstreben, nicht finden werden, wenn wir ständig versuchen, unser unersättliches Ich weiter aufzublasen.

Es heißt doch immer: Nobody is perfect.

Warum also nicht niemand sein?

 

*   Die Art, wie ich den Begriff »Undo« [engl. to undo = etwas ungeschehen machen] verwende, ist von Swami Satchidananda inspiriert, der in seinem Buch Beyond Words schreibt: »Ich werde oft gefragt: ›Welcher Religion gehören Sie an? Sie sprechen über die Bibel, den Koran und die Torah. Sind Sie Hindu?‹ Ich antworte dann: ›Ich bin kein Katholik, kein Buddhist und kein Hindu, sondern ein Undo. Meine Religion ist der Undoismus. Wir haben schon genug Schaden angerichtet. Wir müssen aufhören, noch mehr davon zu produzieren, und versuchen, den schon entstandenen Schaden zu beheben.‹« (Yogaville, CA: Integral Yoga Publications, 1977, engl. S. 85; dt. Ausgabe: Jenseits aller Sprachen. Ost-West-Verlag, Illmensee 2006).

*   In Kapitel 13 des ältesten gedruckten Buches der Welt, des Diamantschneider-Sutras, stellt der Buddha einem seiner Schüler, Subhuti, folgende provokative Frage: »Was meinst du, Subhuti? Hat der Buddha irgendeine Religion gelehrt?« Wir mögen nun denken, der gute alte Subhuti hätte vermutet, dass dies eine Art Witz oder vielleicht auch eine Fangfrage war. (Was zum Teufel soll das? Warum fragst du mich so was? Was hast du denn sonst in all den Jahren hier in Nordindien getan, als uns eine Religion zu lehren? Du hast uns ja wohl nicht Ackerbau und Viehzucht oder das Jodeln beigebracht!) Stattdessen gibt Subhuti die richtige Antwort: »Nein, Herr. Der Buddha hat uns keine Religion gelehrt.« In der hier zitierten Passage des Originals lautet das Wort, das ich hier mit »Religion« wiedergegeben habe, »Dharma« – zugegebenermaßen keine exakte Übersetzung, aber wahrscheinlich eine, die dem Konzept »Religion« in Sanskrit-Texten am nächsten kommt. Eine sehr ähnliche Äußerung ist in Nagarjunas Root Verses on the Middle Way (»Verse aus der Mitte«) zu finden: »Friede ist die Befriedung aller Wahrnehmung und aller Vorstellung. Keine Religion (Dharma) wurde jemals vom Buddha gelehrt« (24–25).