Mimenmord
Ein Mannheim-Krimi
Titelfoto: ANNA
Lektorat: Lisette Buchholz
Satz & Gestaltung: Verena Kessel
ISBN Taschenbuch |
978-3-86476-039-6 |
ISBN E-Book EPUB |
978-3-86476-618-3 |
ISBN E-Book PDF |
978-3-86476-619-0 |
Verlag Waldkirch KG |
© Verlag Waldkirch Mannheim, 2013
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags.
Ein Mannheim-Krimi
Gewidmet den Toten des Naziterrors in Mannheim
und den Toten des Jahres 2013
Vorwort des Autors
Prolog: Brandzeit
Klinikum
Freischütz
Wälsungentod
Essstörung
Der Zorn der Enkel
Dies Irae
Ein kalter, kalter März
Gemini
Das Schweigen der Steine
In der Nacht: Schwarz
Das Phantom des Theaters
In geheimen Tiefen
Im Schacht
Phantom-Schmerzen
Durch die Nacht – ans Licht
Reichsbürger
Des Ungeists Advokat
Unter vier Augen
Spiegel-Fechter
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland
Der Autor
der facebook killer
Leseprobe
Als ich vor anderthalb Jahren den „Facebook-Killer“ schrieb, dachte ich, aller Anfang sei schwer. Heute weiß ich: Einen zweiten Krimi zu schreiben ist noch schwerer. „Mimenmord“ hat einige Metamorphosen durchgemacht, bis das Manuskript da war, wo es am Ende landete, und dabei allen Beteiligten allerlei Überraschungen beschert. Nicht alle waren angenehm.
Wie immer, wenn man sich mit historischen Fakten befasst und sie mit Phantasie anreichert, habe ich mich auf einen schmalen Grat begeben. Sie, verehrte Leser, werden auf den folgenden Seiten dreierlei Sorten von Charakteren begegnen.
Die einen sind historische Persönlichkeiten, deren Position im Dritten Reich feststeht – wenn man über Hans Filbinger oder den Mannheimer Oberbürgermeister Carl Renninger spricht, weiß man, worum es geht. Sie agieren hier im Mimenmord unter ihrem Klarnamen, genau wie umgekehrt einige Helden der Region, etwa mein persönlicher Küchengott Gregor Ruppenthal, die keinen Grund haben, ihren Namen zu verstecken. Andere Personen von damals wie von heute habe ich teils vorsichtshalber, teils aber auch, um den geneigten Leser zum Rätselraten einzuladen, zur Kenntlichkeit verfremdet – mögen die historisch Interessierten und die Mannheimkenner hier auf Spurensuche gehen. Die dritte Kategorie sind die Personen, die ich frei erfunden habe.
Auch wenn es schade ist: Leo Lessing gibt es nicht.
Ach ja – die kriminell agierenden Personen und Vorgänge dieses Romans sind natürlich frei erfunden. Sollte jemand meinen, sich wiederzuerkennen: tant pis.
Nachdem dies also klargestellt ist, scheint es mir mehr als angebracht, einigen Leuten zu danken, die Leo Lessing und mich auf diesem Weg begleitet haben und in rauer See das Schiff auf Kurs halten halfen:
Julia Becker war mir wie immer erste und beste Testleserin und hatte einige Stolpersteine für den armen Leo Lessing parat, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Liebe geht raus!
Meine Verlegerin Barbara Waldkirch hat immer an dieses Buch geglaubt und Leo Lessing vom ersten Augenblick an gemocht.
Silja Wielsch und Sebastian Schneider haben mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden, wenn es um Medizinisches ging.
Igor Holland-Moritz hat mich an seinem Wissen übers Theater teilhaben lassen und mir wichtiges Feedback gegeben. Lutz Wengler und sein Team haben mir Einblicke hinter die Kulissen des Nationaltheaters ermöglicht.
Vivian Kanner hat mir eine Frage zur jüdischen Kultur beantwortet, obschon wir einander persönlich gar nicht kennen (das holen wir nach, Vivian!).
Lisette Buchholz hat dem Manuskript den letzten Schliff gegeben und lieh einem meiner Charaktere ihren Nachnamen.
Und nun: Vorhang auf für den Mimenmord.
Oliver Hoffmann, 1. 7. 2013
Opéra Garnier
Paris
13. 3. 1941
Helllichte Flammen durchlohten das neobarocke, üppige Prachtgebäude am rechten Ufer der Seine. Lichte Brunst umgab Wotan mit wildem Flackern. Er wies mit seinem Speer in Richtung der Felskante, und die Flammen wichen zurück in den Hintergrund, wo sie nun einen Bergsaum umloderten.
„Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“, donnerte die Baritonstimme des Allvaters gebieterisch. Er streckte den Speer wie zum Bann aus, dann blickte er schmerzlich auf die ermattet niedergesunkene Brünnhilde, wandte sich langsam zum Gehen und sah dann noch ein letztes Mal zurück, ehe er durch das Feuer verschwand.
Der prachtvolle, mit Goldborten und Pompons bemalte tiefrote Samtvorhang fiel.
Donnernder, stehender Applaus durchbrandete das ganz in Gold und Rot gehaltene Auditorium. Die 1.900 Sitze des hufeisenförmigen, im italienischen Stil gehaltenen Zuschauerraums mit der prachtvoll ausgemalten Decke und den gewaltigen Kristalllüstern war bis auf den letzten Platz besetzt. Damen in eleganter Abendgarderobe und Herren, manche distinguiert-elegant, nicht wenige aber auch in hoch dekorierten Wehrmachts- und SS-Uniformen, gaben ihrer Begeisterung für die Walküre mit tosendem Beifall Ausdruck.
Nur langsam begann sich der Saal zu leeren.
„Schließlich habe ich schon kurz nach meinem Amtsantritt am 1. April 1933 sechshundert jüdischen Platzmietern ihre Abonnements kündigen lassen. Ich konnte das Geschrei vom braunen Zwang in der Kultur und das Klagen über unsere Säuberung der Spielpläne einfach nicht mehr hören“, setzte der Mann mit der hohen Stirn und der runden Brille seine Tischrede selbstgefällig fort.
Aus Anlass des Gastspieles des Mannheimer Nationaltheaters in Paris im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht fand im Anschluss an die soeben zu Ende gegangene zweite und letzte Walküren-Aufführung im Pariser Künstlerheim Kraft durch Freude ein Kameradschaftsabend statt. Am Kopf der Tafel saßen unter einem überlebensgroßen Porträt Adolf Hitlers, das den Führer im Profil und in Uniform zeigte, Generalmusikdirektor Karl Elmendorff im Frack mit Fliege, die Sieglinde-Darstellerin Grete Scheibenhofer und der Mannheimer Oberbürgermeister Carl Renninger. Den Ehrenplatz in der Mitte hatte Nationaltheater-Intendant Friedrich Brandenburg inne, etwas bescheidener im dunklen Anzug mit Binder. Er hatte sich gerade zu seiner Ansprache an die kunstbeflissene Gesellschaft erhoben; seine Tischdame Irene Ziegler, die die Fricka gesungen hatte, himmelte ihn von links unverhohlen an.
„Das Dritte Reich braucht diese undeutschen Umtriebe nicht, es ist die größte Kulturnation Europas, auch ohne dass diese Untermenschen in unseren Theaterbetrieben ein- und ausgehen. Mein besonderer Dank gilt dabei der Mannheimer NS-Kulturgemeinde, namentlich Ihnen, mein guter Hirte“, ließ der Intendant sich vernehmen.
Guter Hirte …
Der Angesprochene, Wilhelm Ernst Hirte, derzeit Dramaturg am Mannheimer Nationaltheater, war ein schwäbischer Bauernsohn und Corpsstudent, der immerhin 1937 die Zeichen der Zeit erkannt hatte und in die NSDAP eingetreten war – ein klassisches Produkt des NS-Führerstaates. In wenigen Tagen würde er seinen vierzigsten Geburtstag feiern. Nun nickte er geschmeichelt, als der Intendant seinen Namen erwähnte.
„Danke … danke sehr, Herr Intendant“, sagte er, doch Friedrich Brandenburg hatte noch mehr zu sagen.
„Kein Grund zur Bescheidenheit, Hirte, Leute wie Sie sind wichtige Aktivposten der nationalsozialistischen Theaterpolitik, wie die Reichstheaterkammer sie vorgibt und wie auch ich sie vertrete.“
Hirte strahlte. Sein Blick wanderte hinüber zu seinem Freund und Förderer, dem millionenschweren, aus Schlesien stammenden Industriellen Reinhard Dreiling, der in Mannheim unter anderem eine Miederwaren- und eine Schuhfabrik betrieb. Beide waren Früchte der Arisierung, der Zwangsenteignung jüdischer Gewerbetreibender, die vor einigen Jahren so manchen quasi über Nacht zum reichen Mann gemacht hatte. Doch Dreiling, der wie der Intendant eine runde Brille nach der Mode der Zeit trug, im Gegensatz zu dem hageren Künstlermenschen Brandenburg aber eher klein und gedrungen war, ja, wie Hirte in seinen spöttischen Momenten dachte, manchmal nahezu etwas Krötenhaftes an sich hatte, würdigte den so über die Maßen gepriesenen Dramaturgen keines Blickes. An seiner Zigarre saugend lauschte er nur halbherzig der weitschweifigen, von deutschem Boden und Blut in der Kunst im Allgemeinen und beim hochverehrten Richard Wagner im Besonderen nur so strotzenden Rede des Intendanten. Tatsächlich war er in eine angeregte, aber aus Gründen der Rücksichtnahme auf Brandenburg allenfalls halblaut geführte Unterhaltung mit dem Dritten in ihrem Bunde verstrickt, Dr. Hartmann von Geßler, Vizepräsident des Amtsgerichtes Mannheim, ein kleiner, hagerer Monokelträger mit Spitzbart und vollkommen kahlem Schädel. Eine Weile hing Hirtes Blick bewundernd an den beiden überaus einflussreichen Männern, die zweifellos zu dem zählten, was man die Spitzen der Gesellschaft der Quadratestadt nennen konnte. Schließlich bemerkte von Geßler seinen Blick, wandte sich Hirte zu und zwinkerte.
„Aktivposten der nationalsozialistischen Theaterpolitik, so, so“, spöttelte er gutmütig. „Na, dann werden Sie’s ja wohl eines Tages noch weit bringen, Hirte. Wer weiß – vielleicht werden Sie ja selbst eines Tages Intendant in irgendeinem Schauspielhaus, was?“
Beide Herren auf der anderen Tischseite lachten. Dann lauschten sie alle drei großmütig den Schlussbemerkungen des Intendanten, die sich anhörten, als seien sie wortwörtlich aus einem Rundschreiben des Reichspropagandaministeriums übernommen.
Station 17-3 des Universitätsklinikums
Theodor-Kutzer-Ufer 1-3
Mannheim
Sonntag, 4. 12. 2011 – zweiter Advent
Kurz nach 22 Uhr
Der Greis starrte an die Zimmerdecke seines Einzelzimmers: weiße, mit dem Grauschleier der Jahre überzogene Platten aus einem Kunststoff, dessen Namen er nicht zu sagen wusste. Pockennarbig waren sie und gerillt, als nage unmerklich der Zahn der Zeit an ihnen, doch stets nur des Nachts, wenn er schlief. Seine Hände ruhten auf der fadenscheinigen Klinikbettdecke, sie waren vom gleichen Weiß. Nur waren die Venen seiner Hände nicht schmutziggrau, sondern dunkelviolett.
Fünf Wochen lag er nun schon hier. Palliativstation. Vollstationäre Behandlung wegen einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung. Das Team, das ihm umgab, umfasste Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger, zwei Seelsorger, eine Psychologin, eine Sozialarbeiterin und eine Physiotherapeutin. Darüber hinaus gab es allerlei ehrenamtliche Helfer sowie eine Musik- und eine Maltherapeutin. All diese Menschen, sie kamen und gingen. Der Greis hatte es längst aufgegeben, sich ihre Namen zu merken, denn für ihn waren sie austauschbar – bis auf die Psychologin, die Honigblonde, die ehrenamtlich hier Dienst tat. Das Sterben sei Teil des Lebens, hatte sie gesagt, als wäre das ein Trost. Doch das hatte er längst gewusst, und es half ihm nicht weiter, kein bisschen. Dennoch, sie hatte sich bemüht, hatte seine Hand gehalten, wie es sonst nur die Mädchen taten, mit dem Daumen seinen Handrücken gestreichelt, beinahe zögerlich, und gute Worte für ihn gehabt. Das hatte ihm wohlgetan. Ihren Namen hatte er sich gemerkt.
Sicher, sie versuchten nach Kräften hier, all das zu lindern, was ihn belastete. Gegen die Schmerzen bekam er Morphium. Es kam aus dem Gerät neben seinem Bett, und er wusste, er war schon lange nicht mehr ohne dieses süße Gift. Wie lange, das wusste er nicht, doch seit das stete Tropfen seine Nächte und Tage begleitete, war er in diesem Dämmerzustand, der ihm manchmal angenehm, zu Zeiten regelrecht segensreich, in den meisten der langen Stunden aber vor allem ängstigend und unwirklich war.
Immer häufiger wünschte er sich, er habe die Kraft, die matte, geäderte Hand zu heben und die Dosis zu erhöhen. Zur tödlichen Dosis. Sich fortschlafen, sich wegstehlen aus diesem Leben, diesem Elend, diesem Drecksdämmer. Doch nein. Er war noch nicht am Ende. Er durfte nicht gehen. Noch war es nicht vollbracht.
Essen konnte er schon lange nicht mehr aus eigener Kraft. Er wurde künstlich ernährt, hatten die Mädchen ihm gesagt, und vage war er sich bewusst, dass unter seiner Bettdecke etwas war, das nicht zu seinem Körper gehörte. Abgemagert war er, fast zu einem Skelett, ein Knochenmann. Siebenundvierzig Kilo bei knapp einem Meter achtzig Größe, er, der doch immer ein so stattlicher Mann gewesen war … nun sah er fast so aus wie seine Mutter, seine geliebte Mutter, auf den Bildern, den grauenerregenden, mit der Zeit vergilbten, mit den teilnahmslos starrenden, halbtoten Gefangenen und den Lagerzäunen …
Der Greis träumte von Gas und von Leichenbergen, und mit der Zuverlässigkeit, die am Ende nur das Grauen zu entwickeln vermag, kamen die Ängste.
Die Ängste waren das Schlimmste. Wie wollten sie das in den Griff bekommen, diese Halbgötter in Weiß? Überhaupt, was wussten sie von den Ängsten des alten Mannes auf Zimmer Zwei, von den Nachtschrecken, die über ihn kamen, wann immer er träumte, die wie ein Albdruck auf seiner Brust hockten und ihm die Luft raubten, von der Atemnot und dem eisigen Schweiß?
Die Chemotherapie hatte nicht angeschlagen. Die Strahlen, denen man ihn ausgesetzt hatte, ebenso wenig, und für eine Operation war er zu schwach, sein geschundener Leib zu hinfällig.
Der Alte war sicher, dass diese Ängste am Ende auch das Monster in seinen Körper beschworen hatten. Krebs. Ein unscheinbares Wort. Im Grunde nur Zellwucherungen, und doch fraßen sie ihn von innen heraus auf. Er stellte sie sich vor wie ein Ungeheuer aus einem Bild Pieter Brueghels des Jüngeren, des „Höllenbrueghels“, jenes flämischen Barockmalers, dessen Miniaturen er einst in einer Ausstellung in der Essener Villa Hügel mit angehaltenem Atem bewundert hatte.
Am Anfang hatte er mit seinem Krebs gesprochen, vor allem mit jenem Tumor, der in seiner Vorstellung zum zwiegeschlechtlichen VaterMutterGeschwür aller seinen Körper heimsuchenden Metastasen geworden war, dem, der in seinem Bauchraum saß, ganz nah an der Wirbelsäule und auf der Leber thronend, der ihm den Magen abdrückte und ihm ohne seinen Freund Morphium mit unsäglichen Schmerzen das Leben zur Hölle gemacht hätte. „Hör zu“, hatte er ihm gesagt, „wenn du mich umbringst, dann bringst du dich doch auch mit um. Das kannst du doch nicht wollen. Das ist doch unlogisch.“
Doch Tumore scherten sich nicht um Menschenlogik. Sie folgten ihrer eigenen oder vielleicht gar keiner. Seiner jedenfalls hatte gewuchert und sich vermehrt, hatte gestreut und war gewachsen, angeschwollen, aufgebläht, hatte ihm alles genommen.
Er blickte hinüber zur Wand gegenüber seinem Bett. Dort hing in schlichtem Rahmen ein handgemaltes Bild mit dem Motto der Station in geschwungener Kalligraphie:
„Es geht nicht darum,
dem Leben Tage zu geben,
sondern den Tagen Leben.“
Der Greis lachte bitter in sich hinein. Keiner konnte ihn hören, denn seit ein paar Tagen war er außerstande zu sprechen. Ihm, der es gewohnt gewesen war, die Räume ringsum mit Klang zu füllen, ihm waren die Worte geraubt. Grausame Ironie des Schicksals, ach, was dachte er – des Tumors.
Und so blieb ihm nur ein letzter Ausweg aus der Qual. Er hatte schon als Kind in der Schule begriffen, dass Noten nicht nur Zensuren waren, sondern in erster Linie Töne, Klänge, ein Notausgang aus der bedrückenden Wirklichkeit für den klugen Knaben.
So schloss er die Augen.
In seinem Kopf sang ein Bariton Gustav Mahler:
Kindertotenlieder.
Langsam steuerte der graue Mann seine in Bayern gebaute, dunkelgraue Nobelkarosse den Fahrweg entlang und lenkte ihn auf einen Parkplatz direkt gegenüber dem Gebäude des ausgedehnten Klinikgeländes am Neckar. Ein diskretes Schild am Kopf der Parklücke wies darauf hin, dass dieser Platz für Professor Böckel, einen der Oberärzte der III. Medizinischen Klinik, vorbehalten war, doch das stellte kein Problem dar. In der Villa des grauen Mannes, einem gastfreien Haus am Oberen Luisenpark, gingen die Honoratioren Mannheims sowie der angrenzenden Großstädte Heidelberg und Ludwigshafen ein und aus, und zu denen gehörten eben auch die maßgeblichen Mediziner der Universitätsmedizin Mannheim, kurz UMM, die die Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg und das am westlichen Neckarufer gelegene Universitätsklinikum Mannheim umfasste. So lief das in der Region: Man kannte sich, man ging gemeinsam ins Nationaltheater oder ins Konzert, man golfte zusammen, man tauschte Adressen und Gefälligkeiten aus. Da, wo sein Auto herkam, hätte man von Amigo-Gekungel gesprochen, aber in der Kurpfalz war es einfach das Savoir-vivre der gehobenen, alteingesessenen Gesellschaftsschicht. Der graue Mann genoss das sehr. Er bewegte sich in diesen Kreisen wie ein Fisch im Wasser.
Deshalb war es auch kein Problem, hier zu parken. Er kannte Professor Böckel und ein halbes Dutzend anderer Honoratioren des erlauchten Klinikums. Die Herren waren Duzfreunde. Niemand würde auch nur eine Augenbraue lupfen, wenn er seinen Wagen hier parkte – zumal er ihn nicht zu verlassen gedachte.
Der graue Mann stellte den Motor ab und warf seinem Beifahrer wortlos einen auffordernden Blick zu. Die beiden Passagiere des BMW waren eine Studie in Gegensätzen. Hier der Fahrer, ein eher kleiner, schlanker Mann mit vollem, silbergrauem Haar und bleigrauen Augen, jeder Zoll ein kultivierter Großstädter aus dem bürgerlich-akademischen Milieu. Randlose Brille, anthrazitfarbener Armani-Dreiteiler inklusive weißem Hemd und purpurner Krawatte, blankpolierte, schwarze Schuhe. Trotz der späten Stunde war er extrem glatt rasiert. An seinen manikürten Fingern steckte ein dezenter Siegelring. Sein Nebenmann erinnerte eher an einen Neandertaler. Er war etwa halb so alt wie der Fahrer, hatte einen rasierten Schädel mit vorspringender Stirn und wulstigen, schwarzen Augenbrauen. Der Neandertaler trug eine grüne Bomberjacke, Jeans und Doc Martens mit weißen Schnürsenkeln. Auf den Knöcheln seiner rechten Hand prangte als Tätowierung das Wort „Hass“. Das Doppel-S erinnerte verdächtig an verbotene Runen aus einer vergangenen braunen Zeit.
Er fing die stumme Aufforderung des grauen Mannes auf, öffnete die Beifahrertür und ging zwischen den nächtlichen Bäumen hindurch auf das Gebäude zu, dessen Rückfront an die Röntgenstraße grenzte. Niemand hielt ihn auf, als er es betrat.
Nach kurzem Suchen fand die Bomberjacke die Palliativstation und dort das Zimmer, an dessen Tür eine dunkelblaue Zwei prangte. Er fühlte sich seltsam verunsichert, wie er so durch diesen Flügel des Klinikums schritt und versuchte, seine schweren Springerstiefel auf dem Linoleum nicht allzu laut knallen zu lassen. Es war fast, als störe er die Ruhe der Toten … nicht einmal er konnte sich der friedlichen Grundstimmung entziehen, die diese Station durchdrang, aber so subtile Gefühle war er nicht gewohnt.
Nach kurzem Zögern öffnete er die Tür. Dahinter lag, wie ihm der graue Mann vorhergesagt hatte, ein aktuell nur mit einem Patienten belegtes Zweibettzimmer. Unter leisem Röcheln schlief der Alte in seinem Bett. Er rang wie jede Nacht mit den Geistern jener Vergangenheit, die der Bomberjackenmann sich in seiner Ignoranz wieder herbeisehnte, doch das konnte dieser nicht wissen.
„Ich habe keine besonderen Präferenzen, wie du es machst“, tönte die Stimme des grauen Mannes im Ohr des Bomberjackenneandertalers. „Wenn du es schaffst, stell einfach die Morphiumdosis an dem Gerät neben seinem Bett hoch, das ist am wenigsten nachvollziehbar und geht vielleicht sogar als medizinischer Kunstfehler durch – wenn es denn überhaupt jemand merkt. Ansonsten findest du sicher auch irgendwo im Zimmer ein Kissen, um den Alten zu ersticken. Oder dreh ihm einfach den dürren Hals um, wenn das mehr nach deinem Geschmack ist. Nur mach es rasch, und dann verschwinde wieder. Wichtig ist nur: Der Kerl muss weg.“
Ein Blick auf das Gerät mit den vielen Knöpfen und Anzeigen, das über einen Katheter mit dem schlafenden Greis verbunden war, zeigte ihm, dass eine Manipulation an dem Ding seine Möglichkeiten bei Weitem überstieg. Kurzerhand nahm er ein steril verpacktes Kissen, das zusammen mit einer ebenso verpackten weiteren Decke in einem Regal neben der Tür seines Einsatzes harrte, und trat ans Bett.
Der graue Mann wartete entspannt in seinem Wagen. Nils würde ihn nicht enttäuschen, das wusste er genau. Schließlich hatte er den Jungen für diese Aufgabe ausgewählt, weil dieser die Menschheit klar in Verbündete und Feinde unterteilte, keine Skrupel hatte, mit allen gebotenen Mitteln gegen letztere vorzugehen – und dumm genug war, um im unwahrscheinlichen Fall einer Entdeckung ihrer Machenschaften einen prima Sündenbock als ideologisch verblendeter Einzeltäter abzugeben. Müßig blickte er durch die Windschutzscheibe in den parkartigen Bereich des Klinikgeländes, der vor ihm lag. Es war klirrend kalt, aber dennoch lag Schnee schwer in der Nachtluft. Der graue Mann atmete ein paarmal tief durch. Noch ein paar Minuten, und er hatte eine Sorge weniger.
Dann sah er etwas, das ihn erstarren ließ.
Als Nils Meyer, der Mann in der Bomberjacke, ans Bett trat, das Kissen hoch erhoben und bereit, es seinem Opfer aufs Gesicht zu drücken, öffnete der Greis jäh die Augen. In seinen Wachträumen hatte er Mahlers siebte Sinfonie dirigiert, den dritten Satz, „Schattenhaft“ betitel, wie einst, mit fliegenden Rockschößen, wehendem Haar und weit ausgreifenden Bewegungen, doch dann hatte etwas gestört … und nun sah er es: Der Todesengel war an sein Bett getreten.
Doch statt des Richtschwertes hatte er … ein Kissen in Händen. Welch würdelose Waffe für den letzten, alles entscheidenden Streich. Hätte er gekonnt, der Greis hätte heiser gekichert. Doch das Kichern hatte der Tumor ihm schon lange untersagt, und so blieb ihm nur, seinem Todesengel mit flehendem Blick „Tu’s doch, tu’s. Tu’s endlich“, zuzurufen. „Mach ein Ende.“
Meyers Handy meldete sich mit dem Walkürenritt, blechern und scheppernd. Die fanfarenartigen Stöße der digitalen Waldhörner zerschlugen förmlich die Pizzicati der Mahler’schen Streicher im Kopf des Alten.
„Ja?“, keuchte Meyer ins hastig ans Ohr gerissene Smartphone. Er wusste, der Anrufer musste der graue Mann sein. Kein anderer kannte diese brandneue Prepaid-Nummer.
„Du musst weg“, hörte er dessen wie immer vollkommen ruhige Stimme. „Ihr bekommt Besuch …“
Da hörte Meyer es auch schon: das Klacken der Absätze von Frauenschuhen auf dem Korridor der ansonsten geisterhaft stillen Station. Zu spät zum Weglaufen, zuckte es ihm durchs Hirn. Er dachte an eine Flucht aus dem Fenster, doch ein offenes Fenster hätte Verdacht erregt. Also trat er kurzerhand hinter den breiten Wandschirm, der als Sichtschutz zwischen dem vorderen Bereich des Zimmers, in dem der Alte lag, und dem rückwärtigen mit dem unbenutzten zweiten Bett stand. Mechanisch schalteten seine Finger das Smartphone stumm.
Die Schritte kamen näher. Sekunden später öffnete sich die Tür, und eine bildschöne junge Frau trat ein. Sie hatte geweint, viel und lange, man sah es überdeutlich.
Entschlossen trat sie ans Bett und umfasste die violett geäderte Hand des Greises.
„Gut, dass du wach bist, Opale. Ich muss dir etwas sagen.“ Sie betrachtete sein Gesicht … facies hippocratica. Tapfer unterdrückte sie die Tränen. Seltsam … ihr Großvater schien die Augen nicht auf sie fokussieren zu können.
Dass der Blick des Greises dem Wandschirm hinter ihr galt, dass auch er ihr dringend etwas sagen musste, verstand Charlotte Mendelssohn nicht. Sie erzählte ihm ihre Geschichte, eine schlimme, traurige Geschichte, die der Lauscher hinter der Trennwand schon kannte. Dazu zog sie sich einen Stuhl ans Bett.
Irgendwann schlief sie ein; ihr Kopf war neben dem des Alten auf die Matratze gesackt.
Nachdem er einige Minuten auf den sich regelmäßig hebenden und senkenden Rücken der Schlafenden gestarrt hatte, verließ Nils Meyer verwirrt das Zimmer. Diesen Fall hatten seine Instruktionen nicht abgedeckt. Das Display seines Smartphones zeigte vier entgangene Anrufe.
Das Starren des Greises verfolgte ihn, bis sich die Tür hinter ihm schloss.
Nationaltheater am Schillerplatz
Mannheim
5. 9. 1943
„Ja, lasst uns die Blicke erheben,
Und fest auf die Lenkung des Ewigen bau’n,
Fest der Milde des Vaters vertrau’n! Wer rein ist von Herz und
schuldlos im Leben,
Darf kindlich der Milde des Vaters vertrau’n!“
Der Opernchor des Nationaltheaters ließ es an Pathos nicht fehlen. Es war der Eröffnungsabend der Spielzeit 1943/44.
Schon früh hatte ein kluger Rezensent über den Freischütz von Carl Maria von Weber geschrieben, er sei eine echt deutsche Oper, ja, man könne in gewisser Hinsicht gar sagen, der schleswig-holsteinische Komponist und sein Librettist Kind hätten „sich selbst die erste in jeder Beziehung rein deutsche Nationaloper hingestellt. Die älteren Erscheinungen im Gebiete der deutschen Oper (natürlich ist hier nur von den bedeutenden die Rede) hatten fast alle irgendetwas Fremdartiges, Nichtdeutsches an sich, sei es in der Musik oder in den Büchern.“ Der letzte Akkord des Schlusschores dieses so deutschen und daher bei den Machthabern der Zeit so beliebten Werkes war noch nicht verklungen, als die erste Fliegerbombe das Dach des Theatergebäudes in B 3 durchschlug.
Während aus dem Zuschauerraum alles rannte, rettete und flüchtete, machten sich drei Herren der besseren Gesellschaft entschlossenen Schrittes auf den Weg in die Eingeweide des prachtvollen Gebäudes am Schillerplatz. Der, der voraneilte, war mittlerweile längst als Dramaturg aus der Quadratestadt in die Hauptstadt des NSDAP-Gaues Kurhessen, nach Kassel ans dortige Opernhaus am Friedrichsplatz, gewechselt. Doch selbstverständlich kannte er hier nach wie vor jede Treppe, jedes Türchen und jeden Gang wie seine Westentasche. Ihm auf den Fersen folgten ein kleiner, schlanker, schneidiger Herr bar jeden Haupthaars, aber mit sorgsam gestutztem Spitzbart und Monokel und ein ebenso wenig hochgewachsener Mann von gedrungener Gestalt, dessen watschelnder Gang etwas Froschartiges an sich hatte.
„Sie werden staunen, Hirte“, keuchte der Froschene kurzatmig, während der Angesprochene eine Petroleumlampe von einem staubigen Mauersims nahm und sie mit Hilfe eines Sturmfeuerzeugs, das er seiner Jacketttasche entnahm, entzündete. Danach schob er entschlossen einige Kisten beiseite. Der Monokelträger ging ihm zur Hand; dass er dabei seinen Frack staubig machte, schien ihm nichts zu bedeuten.