Archiv der Jugendkulturen

Gilbert Furian / Nikolaus Becker

“AUCH IM OSTEN TRÄGT MAN WESTEN”

Punks in der DDR – und was aus ihnen geworden ist

Kaiser: Uns wird ja immer vorgeworfen: Punk, det is eben ‘ne Modesache, die man sich von drüben abgekiekt hat. Und ick find, det beste Argument dagegen is: drüben sind det allet no-future-Punks, keine Zukunft. Vielleicht hab’n se dazu Grund, wenn se keene Arbeit haben.

Lade: Is doch jut, no future, kommt doch jut.

Kaiser: Ick finde det nich.

Lade: Na doch, kommt drauf an, wie mans meint.

Kaiser: Nee, ick mein, bei uns, vielleicht für jeden, für jeden seine Entwicklung…

Micha: …schon too much future.

Kaiser: …ja, vielleicht zu viel Zukunft. Wenn man geboren wird, schon…

Micha: …hat man die Planstelle weg.

© 2012 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin

Herausgeber:

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

Umschlaggestaltung und Layout: Roland Koletzki

ISBN 978-3-943774-11-5 (Druckausgabe)

Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 80 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert neben mehreren Buchreihen eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Achiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.

Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

Gilbert Furian / Nikolaus Becker

“AUCH IM OSTEN TRÄGT MAN WESTEN”

Punks in der DDR –

und was aus ihnen geworden ist

Für Carmen

Auf mein Drängen versteckt sie das Original der Punk-Broschüre vor der Stasi. Weil sie mich nicht anzeigt, wird sie aus dem Schuldienst entfernt.

Gilbert Furian

Vorspruch

Ich lade dich ein, daß auf einmal

wir so vieler Dinge überdrüssig werden,

der schlechten Apéritifs

und der guten Erziehung.

Seien wir überdrüssig, nicht nach Frankreich zu gehen,

seien wir wenigstens überdrüssig

eines oder zweier Tage in der Woche,

die immerfort gleich heißen

wie die Gerichte auf dem Tisch,

und daß wir morgens aufstehen, wozu?

Und daß wir ruhmlos zu Bett gehn.

Ich will, daß, wenn er geboren wird, der Mensch

die nackten Blumen atmet,

die frische Erde, das reine Feuer,

nicht, was alle ausgeatmet haben.

Habt ihnen nicht alles vorgedacht,

laßt sie nicht dasselbe Buch lesen,

laßt sie das Frührot entdecken

und ihren Küssen Namen geben.

Ich will, daß du überdrüssig bist mit mir

all dessen, was da wohlbereitet ist.

All dessen, was uns altern läßt.

Dessen, was sie vorbereitet haben,

die anderen zu ermüden.

Pablo Neruda, aus: “Gewisser Überdruß” (1958)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Blick in eine fremde Welt

Einstieg in den Ausstieg oder

Was einen Sachbearbeiter für Inventuren und Versicherungen aus dem VEB Wärmeanlagenbau in die Punk-Szene treibt

Ersatzhandlung oder

Akten als Gedächtnisstütze I

Buchpläne oder

Akten als Gedächtnisstütze II

Kapitel II

Punks in der DDR…

Drei Interviews – Ostberlin, Sommer 1982

Lieber sterben als genormt sein

Gespräch mit Fatzo (18), N. (15) und Keule (19)

Notizen zu weiteren Punks aus Ostberlin (1982)

Das Gefühl von Selbstbestätigung

Bericht einer ehemaligen Punkerin (Jeanny, 16)

Kaum ist man geboren, schon hat man die Planstelle weg

Gespräch mit Lade (17), Kaiser (17) und Micha (17) von der Punk-Band planlos

Druck und Gegendruck – Punks beim Stasi-Verhör

Version A: David und Goliath (1985)

Druck und Gegendruck – Punks beim Stasi-Verhör

Version B: Blick zurück im Zorn (1985)

Kapitel III

Nachwehen für einen Fragesteller

Dokumentation der staatlichen Reaktionen (1985-1990)

Kapitel IV

Dr. Manfred Stock:

Jugendkultur, Politik und Wissenschaft in der DDR (1999)

Kapitel V

…und was aus ihnen geworden ist

Erfahrungen und Erinnerungen – 18 Jahre später

Gespräch mit Bernd Lade (35), Micha Kobs (36) und

Daniel Kaiser (34), ehemals Mitglieder der Punk-Band planlos

Collage zur Geschichte der Band planlos von Micha Kobs

Jeanne Grünstein (Jeanny), 33

Punk’s not dead?

Auf der Suche nach Erfüllung

Gespräch mit René Kunkel (Fatzo), 36

Punk ist Kopfsache

Gespräch mit Mario Schulz (Colonel), 32

Thomas Bautzer (Almö), 35

Ich bin meines Glückes Schmied

Die Freiheit, das Saufen und der richtige Weg

Gespräch mit Mike Krone (Locke), 33

Nachlese – eine Generation später

Schönes Rumgeblödel und Haß auf den Staat

Gespräch mit Michael Boehlke (Pankow), 35, Marlies Schulz, 35 Jana Schloßer, 35 und André Schulz (Schulle), 36

Bilder und Scherben – Statement von N.B.

Unterwegs zur wahren Familie

Gespräch mit Karsten Pauer (39)

Nachbemerkung

Biografien – nach vorn offen

Danksagung

KAPITEL I

Einstieg in den Ausstieg

oder
Was einen Sachbearbeiter für Inventuren und Versicherungen aus dem VEB Wärmeanlagenbau Berlin in die Punk-Szene treibt

Skaby, 28. Dezember 1984

Lieber Herr Thate!1

Nun habe ich die ausreichende Lockerheit für eine Antwort auf Ihre Absage an meine Punk-Dokumentation. (…)

Ich will zunächst kurz schildern, wie ich überhaupt dazu gekommen bin, Punks zu befragen und die Ergebnisse aufzubewahren.

Ich wurde von Freunden angesprochen, ob ich interessiert sei an der Mitarbeit bei einem Projekt, das zum Ziel hat die Anfertigung einer Dokumentation über die sogenannte Szene in Ostberlin, das heißt über Lebenshaltungen und Lebensformen, die sich von den herrschenden bewußt abgrenzen, indem sie versuchen, Eigenes zu probieren und zu finden; Lebensmöglichkeiten jenseits der Muster, die von den Älteren überliefert und angeboten werden, aber auch im Gegensatz zu den vom Staat verordneten Schemata. Ich sollte, da ich Philosophie studiert habe, eigentlich eine Art Analyse oder theoretische Fundierung leisten.

Da meine damalige Freundin aber einen Sozialdiakon kannte, der sich um eine Gruppe von Punks kümmert, das heißt, ihnen Räumlichkeiten für ihre Interessen zur Verfügung stellt, mit ihnen redet und sie gegen staatliche Willkür zu unterstützen versucht, erbot ich mich, obzwar zuvor nie in Kontakt mit ihnen, diese Gruppierung zu untersuchen. Während ich dabei war, mich ihnen allmählich vertraut zu machen (das ist nicht einfach, da jeder, der so normal aussieht wie ich, einer vom Staatssicherheitsdienst sein könnte – das unnormale Innenleben fällt ja nicht gleich ins Auge), fiel das ganze Projekt ins Wasser, da die beiden Ko-Autoren kein Interesse oder keine Zeit oder beides nicht mehr hatten.

Mich aber hatte es gepackt, denn ich hatte sie mir gerade vertraut gemacht und festgestellt, daß sie in ihren Grundhaltungen, in Ängsten und Sehnsüchten mir sehr verwandt waren. Zudem waren mir ihre Überlegungen, ihre Ansprüche und auch ihre Verweigerung stets Grund, mich zu fragen, was denn aus meinen eigenen Sehnsüchten geworden ist, ob ich sie aufgegeben habe oder noch Widerstandskraft besitze nicht nur gegen die Anmaßung der Ämter (als Bild für Obrigkeit schlechthin), sondern auch gegen den Verfall der eigenen Erwartungen.

So habe ich dann nacheinander drei Gruppen befragt: eine “durchschnittliche”, eine “ehemalige” und eine “musikproduzierende”. Dabei trifft “befragt” eigentlich nicht ganz zu, denn, wie die Dialoge zeigen, waren meine Fragen oftmals Anlaß für die Punks, ihre durchaus unterschiedlichen Auffassungen gegeneinanderzusetzen.

Bei allen gleichermaßen aber zeigte sich, daß die Haltung vorherrscht: Punk zu bleiben, ist Ausdruck eines bestimmten Selbstverständnisses, das nicht Mode ist, auch nicht nur Trotz, sondern etwas Dauerhaftes, Tieferes, Wichtiges – eine Überzeugung. Sie erleben den Wert ihrer Persönlichkeit, wenn auch negativ, das heißt, in den mannigfachen Angriffen von außen, in den Diskriminierungen, in den Spötteleien, in der Gefahr verprügelt zu werden, die Insignien weggenommen zu bekommen. Punk ist die Form, in der sie sich selbst als etwas Einzigartiges erleben, als einen Fonds von Widerstand gegen die Außenwelt, die für sie nur Zwänge bereithält, Regeln, Normen, Gleichförmigkeiten, Leistungsanforderungen, aber keine Anerkennung als etwas Besonderes, Individuelles.

Punk ist die Form, in der sie Widerstand leisten weniger gegen die Außenwelt, obwohl das so erscheint, als vielmehr Widerstand gegen sich selbst, gegen das eigene Erlahmen, gegen die Neigung zur Anpassung, gegen das Normiertsein, gegen die Auflösung ihrer Persönlichkeit (die sie gerade im Begriff sind als etwas ungeheuer Wichtiges zu erleben) in alltäglichen Abläufen und staatlichen Ideologemen.

Was diese Punks unterscheidet von den “Ur-Punks”: sie sind nicht so aggressiv, was darin begründet liegen mag, daß sie nicht auf solch drastische Weise zukunftslos sind: sie haben immerhin auf jeden Fall die Möglichkeit, mit einer Arbeit Geld zu verdienen. Daß sie trotzdem Angst vor der Zukunft haben, mindestens aber von ihr nichts erwarten, zeigt, daß sie eigentlich mehr erwarten als nur eine Arbeit, die Geld bringt: sie wollen ernstgenommen werden, ihr Leben würdig verbringen; sie suchen eine Substanz, die ihnen Arbeit allein nicht bringen kann, sie tragen in sich (das alles freilich unartikuliert, unbewußt – und fragte man sie danach, sie würden es leugnen, denn es hätte für sie den Geruch des Sentimentalen, des Weichlichen) die ungeheure Hoffnung, den riesigen Anspruch auf Menschlichkeit.

Das als Erklärung für das Zustandekommen des “Pamphlets”, wie Sie es nennen.

Zeigen Sie die Sache ruhig weiter, ich glaube, es ist wichtig, daß sich Menschen Gedanken machen über das, was diese Jugendlichen bewegt, denn das sind keine Ausnahme-Überlegungen, hier wird nur ausnahmsweise offen und rücksichtslos und ohne Furcht geredet.

Einen wie immer herzlichen Gruß von Ihrem Schüler Gilbert.

Ersatzhandlung

oder
Akten als Gedächtnisstütze 1

“Meines Erachtens ist Radulovic’1 Aussage darüber, was wir vor Jahren einmal besprachen, doch sehr überzogen. Natürlich haben wir über diese Thematik gesprochen. Irgendwelche Festlegungen hat es jedoch niemals gegeben. Es ging also konkret nicht um die Erstellung einer Dokumentation und auch nicht darum, daß ihm die Aufgabe einer philosophischen Fundierung zufiel. Vielmehr war es so, daß sich diese Gesprächsrunde nach relativ kurzer Zeit auflöste, weil Mike Nicklas und ich durch das eigene Studium zu sehr angespannt waren, als daß wir Zeit gehabt hätten, uns weiter mit diesen Fragen zu befassen.

Hinzu kam, daß Radulovic relativ schnell Kontakt zu Punks hergestellt hatte und nun eigene Analysen anstellte. Möglicherweise verfolgte er das Ziel, das in irgendeiner Weise zu dokumentieren und anderen zugänglich zu machen. Da er im letzten Jahr von seiner Ehefrau geschieden wurde, ist es möglich, daß die Broschürenfertigung eine Art “Ersatz” oder Ablenkung von seinen Problemen war und dazu diente, mit der Langeweile fertig zu werden. Seine Inhaftierung, von der ich unlängst erfuhr, war für mich aufgrund der Kenntnis der Schrift keine Überraschung.”

Aus dem Protokoll des Ministeriums für Staatssicherheit, Hauptabteilung Untersuchung, über die Vernehmung des Zeugen Stephan Steinlein vom 17. Juni 1985

Buchpläne

oder
Akten als Gedächtnisstütze 2

“Etwa Anfang Juli 1982 lernte ich in der Theaterklause am Rosa-Luxemburg-Platz einen Mann kennen, der ein Buch über Randgruppen in der DDR schreiben wollte. Das Gemeinsame dieser Gruppen wäre, daß sie alle in irgendeiner Weise nicht mit den geltenden gesellschaftlichen Normen in der DDR übereinstimmen würden.

Der vollständige Name des Mannes ist mir nicht bekannt. Er stellte sich nur mit Vornamen vor, der ziemlich lang und französisch war, mir aber nicht mehr in der Erinnerung ist.

Der Mann war etwa 25 Jahre alt, etwa 1,70 m groß, trug eine Igel-Frisur, machte insgesamt einen intellektuellen Eindruck und erzählte von sich, daß er mit dem Bauwesen zu tun hat und in allen Bezirken herumreisen muß, um auf den Baustellen zu prüfen, wo abhandengekommenes Material geblieben ist.

Ich hatte bereits vorher gehört, daß dieser Typ mit Leuten aus unserer Clique ein Tonbandinterview gemacht hat, in dem es um die Probleme der Punks in der DDR ging, also wie und warum man Punk wird, welche Probleme sich daraus auf der Arbeit und im täglichen Leben ergeben.

Das Buch wollte der Mann DDR-Verlagen anbieten. Sollte es dort nicht durchkommen, wollte der Mann versuchen, es der Kirche anzubieten, um es dort bei der Arbeit mit Jugendlichen zu nutzen. Für den Fall, daß sich überhaupt kein Verleger findet, wollte der Typ das Buch in geringer Auflage in einer privaten Druckerei herstellen lassen. Ohne konkret zu werden, erzählte der Mann, daß er entsprechende Leute kennen würde, die für ihn schon früher irgendwelche selbsthergestellte Kalender gedruckt hätten, die dann im privaten Kreis verteilt worden wären.

(…) Ansonsten habe ich den Mann nie wiedergesehen und kann auch keine weiteren Angaben zu dem Sachverhalt machen.”

Ministerium für Staatssicherheit der DDR

Aus dem Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Karsten
Pauer

Berlin, 19. November 1982

Tagsüber verdiente er sein Geld als Psychologe in einer Familienberatung, abends veranstaltete er Ausstellungen, Vernissagen mit Musik und einer eigenen Edition, z.B. Kunstpostkarten.

Das Ganze zwar illegal, aber nicht in einem ausgesuchten Zirkel, sondern öffentlich. Mit ihm beschäftigten sich 72 IM und 122 feste Mitarbeiter von MfS und Volkspolizei.

1 Günther Thate war von 1955 bis 1958 Klassenlehrer des Autors in der 7. Grundschule Görlitz.

1 Den aus seiner ersten Ehe stammenden Namen Radulovic hat der Autor 1987 bei der Heirat mit Katharina Furian abgelegt.

2 Brief an Jürgen Schweinebraden – Jürgen Schweinebraden führte von 1974 bis zu seiner Ausreise in die BRD 1980 in seiner Berliner Wohnung Dunckerstraße 17 die »EP- Galerie«, die wohl einzige Privatgalerie der DDR. ý

KAPITEL II

Punks in der DDR…

Drei Interviews (Ostberlin, Sommer 1982)

Notizen zu den Gesprächsteilnehmern

Fatzo

Fatzo, 18, gelernter Schlosser, bittet mich nach dem Gespräch zu sich nach Hause. Die Wohnung – mit legaler Zuweisung – ist “normal” eingerichtet. Das Bedürfnis nach Gemütlichkeit wird deutlich. Allerdings steckt auch die Angst vor der Drohung des ABV dahinter, eine Wohnung, die punkmäßig, also gar nicht eingerichtet sei, würde man ihm wegnehmen. Er erzählt von den Schwierigkeiten, die seine Freundin (kein Punk) zu Hause mit ihrer Mutter hat (46 Jahre alt, Partei1). Er äußert, auch unter Punks könne man sich nicht vorbehaltlos jedem anvertrauen. Es gelte zwar, daß nur Spießer hinterm Rücken reden, Punks täten dies aber auch. Auf Grund seiner Kompromißbereitschaft den “Schwachen” gegenüber hat er es nicht leicht bei den andern. Sie lächeln oder lachen, wenn er seine Sorgen offen äußert, wenn er sie um Rat fragt, was die Beziehung zu seinem Mädchen angeht. “So etwas machen Rocker, über andere lachen”, sagt er. Die Bezeichnung “Rocker” gilt als Beleidigung.

Im aufgezeichneten Gespräch sagt er, Punk zu bleiben, zeige Überzeugung. Bei letzterem Wort lacht er seltsam verkrampft. Offenbar ist es ihm unangenehm, diesen “positiven” und dazu offiziell häufig gebrauchten Begriff zu benutzen. Er distanziert sich davon, er relativiert sich, als er merkt, daß er in vorhandenen Mustern denkt.

15 Jahre alt, Mutter (33): Technologin im WBK, leiblicher Vater: Psychologe im Jugendwerkhof, zweiter Vater: Direktor des WBK.

Eine Woche nach Aufzeichnung des Gesprächs wird ihr von den Eltern (nachdem sie Schulverbot erhalten hat, das heißt, sie darf das Schulgelände bis zum Beginn des neuen Schuljahrs nicht mehr betreten) ein Ultimatum gestellt, das offenbar mit der Schule abgestimmt ist: entweder sie erscheint am ersten Schultag in “normalen” Klamotten, oder sie kommt ins Heim. Sie hält das nicht nur für eine erpresserische Drohung, sondern für Ernst (wegen Fälschung eines Krankenscheins wird ihr außerdem Urkundenfälschung vorgeworfen).

Ihre erste Reaktion: “Dann gehe ich eben ins Heim, und wenn ich mit 18 rauskomme, mache ich weiter.” Auf den Einwand, sie würde im Heim fertiggemacht, unterdrückt, ihrer Würde beraubt, in jemand verwandelt, den sie nicht mehr wiedererkennen wird, und auf den Vorschlag, doch einen Kompromiß einzugehen, sagt sie: “Wenn ich so in die Schule gehe, dann gebe ich zu viel von mir weg.”

Ich versuche ihr klarzumachen, daß sie denen drei Jahre ihres Lebens vor die Füße wirft, drei Jahre, in denen sie auf ihre Freunde verzichten muß, in denen sie zu keiner Stunde des Tages die Möglichkeit hat, ihr Selbstverständnis frei zu äußern, zu leben nach ihren Maßstäben (das könnte sie sonst wenigstens sobald die Schule vorbei ist und die Anforderungen der Eltern erfüllt sind).

Sie ist verzweifelt, weiß nicht, wie sie sich entscheiden wird. Auf meinen Rat sagt sie wenigstens verbal die gewünschte Verhaltensänderung zu. Daraufhin darf sie zelten fahren, muß allerdings von denen, die mitfahren, die Ausweise vorlegen, deren Daten die Eltern abschreiben, offenbar um bei der Polizei Erkundigungen einzuholen. Zuvor hatten sie geäußert: “Wir wollen deinetwegen nicht eines Tages vor Gericht stehen.”

Sie borgt sich bei andern Punks Geld. Es wird ihr – unterschiedlich gern – gegeben. Von einem, der gerade bei der Post entlassen wurde, weil er die Uniform nicht tragen wollte, erhält sie 20 Mark ohne Kommentar. Ein anderer, der 100 Mark geben soll, – er arbeitet und muß an diesem Abend wie schon oft zur Nachtschicht – zögert, weist darauf hin, wie lange er arbeiten muß, um dieses Geld zu verdienen. Gibt es dann nur unter der ausdrücklichen Forderung, er wolle es unbedingt zurückhaben, und zwar “nicht auf Raten und solche Mätzchen”.

Sie möchte Schneiderin lernen und vielleicht eines Tages selbständig arbeiten, möglicherweise eine Boutique eröffnen. Nach den Ferien geht sie erst (mit Kompromißfrisur und Kompromißkleidung) in die Schule. Ihr Freund – gerade aus Alt-Stralau1 entlassen – erzählt, sie habe immer wieder geäußert, sie wolle Schluß machen. Es bleibt unklar, ob sie das nur auf Schule oder Elternhaus bezieht, oder ob die (schon einmal geäußerten) Selbstmordgedanken wieder aufgenommen werden.

Gestern schließlich (16. September) berichtet Almö, sie sei in U-Haft. Niemand weiß, warum.

Keule

20 Jahre alt, gelernter Betriebsschlosser, arbeitet als Transportarbeiter, sehr verschlossen, nüchtern, wenig redefreudig.

Lieber sterben als genormt sein

Gespräch mit Fatzo, N. und Keule (Sommer 1982)

Stichwort: Gründe

Fatzo: Auf Punk bin ich gekommen, weil ich als erstes was im Radio gehört hab von den Pistols. Und dann hab ich auch im Fernsehen die Interviews gesehen und Meinungen gehört. Die haben mir gefallen, und die ich dann getroffen hab, die hier rumgelaufen sind, so schocken auf allen Ebenen: die Genormten, die Spießer, die Bullen und alle. Und dann hab ich mir die Klamotten besorgt, und denn gings los. Und man hat ja auch gesehen, wenn man mit den Jungs hier rumgezogen is, was die für Schwierigkeiten hatten, mit ihrer Meinung durchzukommen, wegen Bullen und so, bei den Leuten auf der Straße. Und Fucker, die so Schläger sind, wollen hier uffschrubben, und da ist es denn die Schwierigkeit dabeizubleiben, wenn man so sieht, watn Punk für Gegner hat, für gewaltige: Polizei – das is eben echt, Überzeugung.

N.: Vor allem sieht man da erst mal, was die Wahrheit is, wenn man dabei is.

Wahrheit worüber oder wovon?

N.: Übers Leben. – Na, ich bin drauf gekommen, weil ich paar von drüben gesehen hab, wie die angezogen sind, das hat mir gefallen. Vor allem, alle anderen, die Leute, haben mich angekotzt. Überall immer ein und dasselbe.

Fatzo: Da gings immer nur um Geld, Mazda, wer der Schönste und der Nettste is und die besten Manieren hat. Allet hier, der janze Modekram, welches Auto am schnellsten fährt, schönes Wochenendhäuschen, und denn arbeiten bis fünfundsechzig. Und darauf hab ick absolut keen Bock. Arbeiten gehn mußte ja, irgendwie, aber mit Lust und Liebe jeh ick da bestimmt nich hin. Und hab keene Lust, mit fünfundsechzig … da kannste ja nirgends mehr hingehn, kannste keene Olle mehr ficken oder so, denn setz ick mir uff die Bank und fütter die Tauben.

Stichwort: Musik

Wie alt warste denn, als du dazu gekommen bist, was hastn da grade gemacht?

Fatzo: Fuffzehneinhalb oder so. Wat ick jemacht hab? Ick stand da so tierisch auf Hardrock, aber wie ick mitgekriegt hab, die Show von denen da, urste Angeberei, Peitschenschwingen, absolut Scheinwerfer, also totale Uffmachung, die Kunden da, und lassen Mauern einfallen… Wie einfach das die Punks machen, mit ihren textlichen Inhalten, also sagen wir mal, Protesttexte gegen die Gesellschaft und gegen eigentlich, wat einen so ankotzt, det ham wir denn ooch von den Texten so gesungen. Na, und Discoszene hat mir ooch nich jefallen, so rumhängen irgendwo in den Discotheken, is allet so stur da, jeder will der beste Tänzer sein, der Schönste, und die Weiber kieken, wer am besten tanzt, das is dann der absolute Knüller.

Da warst du noch in der Schule?

Fatzo: Ja.

Und was haben die gesagt, als du mit neuen, unbekannten Klamotten ankamst?

Fatzo: Bäh, die Klassenleitertypen: “Wie siehtn det aus!” Aber det hat mir ja wenig gerührt, det hat mir nachher jarnich mehr gestört, wa.

Also sie haben nicht irgendwo ‘ne Anordnung gemacht, du sollst das nicht mehr anziehen oder so? Oder die Prüfung nicht mitmachen?

Fatzo: Nee, nee. Dann im Betrieb ham se jesacht: Hauptsache, ich arbeite. Und sonst, meine Eltern … Na ja, hab schon Schwierigkeiten: ham se abends ne Macke gekriegt, von der Jacke alles abgemacht: “Wie siehtn det aus!” Ham jelacht, aber det stört mir nich. Warum solln die Leute nich lachen, wenn se von der Arbeit kommen. Sagen wir mal, haste uff Arbeit mal schlechte Laune, und dann siehste solche ausgeflippten Typen. Manche reagieren, is interessant, wie die meisten reagieren, auch inne U-Bahn: Du sitzt, die kieken urst so, andre lachen sich halb kaputt oder kieken uns böse an. Mich interessiert das gar nich.

Was sind denn das für Typen, die euch da verkloppen wollen?

N.: Kneipentypen. Entweder solche oder Knasttypen. Die hams nötig.

Fatzo: Weil se nischt andres zu tun haben. Wollen ihre Aggression loswerden. Wir lassen unsere Aggression beim Ausspinnen. Aber wir können uns ja auch nich so ausspinnen wie wir wollen, weil uns dann sone kleene Bullentaxe kostenlos mitnimmt.

Keule: Ausspinnen kannste dir schon, komm, komm.

Fatzo: Aber wie weit kann man sich ausspinnen?

Keule: Alles in Grenzen, wa.

Stichwort: Anarchie

Was mich noch besonders interessiert: hier ist ja gelegentlich dieses eingekreiste A zu sehen. Und da sagte Lade neulich: Zeichen für Anarchie oder Anarchismus, wie mans nimmt. Habt ihr da irgendwelche konkreten Vorstellungen, oder woher kommt diese besondere Vorliebe für das Zeichen und das, was dahintersteckt?

N.: Na, erst mal keene Macht. Keene Gesetze.

Fatzo: Keene Bonzen und sone Typen, weeß ick. Nich immer allet machen, wat von oben kommt.

Keule: Nich so viele, die bloß rumhängen und trotzdem rüberfahren und dahin und woandershin.

Fatzo: Na ja, ohne Grenzen, wa.

Wenn ihr also keinen wollt, der bestimmt, was ihr macht, wie macht’n ihr das untereinander? Es gibt doch bei manchen Gruppen irgendeinen, der immer der Chef ist, was weiß ich, bei den Rockergruppen, der dann sagt, jetzt machen wir das, und das wird dann gemacht.

N.: Den Präsidenten…

Fatzo: Nee, ham wir nich, da sagt jeder, wat seine Meinung is, und Mehrheit entscheidet, wenn wir mal wohingehn, und dann kommen die andern schon mit, oder sie trennen sich eben.

N.: Wozu man Lust hat.

Fatzo: ‘n Boß, den die andern haben, den ham wir nich.

N.: Na, denn bräuchten wir ja nich Anarchie machen, wenn wir so wären wie die andern.

Fatzo: Na, das machen wir denn unter uns. Das wird ja auch irgendwie durch Kleidung ausgedrückt, würd ich sagen. Kann ja jeder anziehen, was er will, na, außer …

Stichwort: Aussehen

N.: Na, watn, außer…

Fatzo: Na, wenn ick sage, jeder zieht an, was er will, da kann er ja auch in Popperklamotten kommen.

Was ist denn das Besondere an der Kleidung, versucht doch mal zu beschreiben, worauf euchs da ankommt.

Keule: Na ja, daß man die Leute schocken kann, erst mal.

N.: Nicht nur: daß mans auch für sich selber macht.

Keule: Jeder macht det so, wie er will. Man braucht ja nicht unbedingt die teuersten Klamotten zu kaufen, kann ja auch ein paar billige Arbeitshosen kaufen oder so.

Aber das ist ja eine besondere Art, sich zu kleiden. Normalerweise kleiden sich Leute, damit sie allen andern gefallen.

Fatzo: Bäh, gefallen, das ist ja schon wieder Schönheit, einer will wieder besser aussehen als der andere, und det Häßliche, das ist ja – warum ist chic in, alle Leute wollen chic sein, wollen besser aussehen als… jeder geht zum Friseur, will die ursten, die neusten Trends haben, was weiß ich, achtziger Schnitt oder wat es da alles gibt, und jeder macht sich ne Birne, wat sagen die Leute, wenn ich nun mit Minirock runtergehe. Is mir doch scheißegal, wa, aber wir machen uns häßlich, um eben die ganzen Typen zu schocken, weeß ick, daß sie eben breitliegen oder Reaktionen draufhaben, und dann kanns eben auch zu Schlägereien kommen, weils denen nicht gefällt.

Keule: Du rennst ja schon automatisch vor der Bullentaxe…

Fatzo: …weil sie dir ja praktisch die ganzen Klamotten abnehmen, wat du dir so angeeignet hast, weil du hier an so’n Zeug normalerweise nich so schnell rankommst.

Was nehmen sie denn weg?

Keule: Alles, also ‘n T-Shirt, was total bunt is, das nehmen sie ab, Plastics, wat noch – denn fotografieren sie da sinnlos rum, von oben bis unten, wat du dranne hast anne Jacke, und wieviel Nieten du hast, das schreiben sie alles uff, det kommt dann inne Akte.

Fatzo: Na, da kriegt man denn ne richtige Wut. Die Scheißbullen, wa. Und denn erst recht. Man meidet zwar, wo die meisten sind, also Alex meidet man gewissermaßen, gerade wo’s so scharf is, bißchen mehr in ruhige Gegenden, wa, aber irgendwo kommt dann immer einer her. Die denken urst, wir wollen weeß icke…

Keule: Dann sagen sie: “Die Lederjacke mit den Nieten dran ist eine Schlagwaffe”. Du kannst dir ja noch nicht mal in Ruhe in die Telefonzelle stellen und telefonieren, kommt eener, läuft draußen hin und her, wartet, bis du rauskommst, denn: “Schönen guten Tag, Ausweis, was ham wir denn da an der Jacke, tz, tz tz. Und nun gehen wir gemeinsam zum Revier sechs”. Die sollen lieber richtig arbeiten gehn, weniger auf der Straße rumgammeln.

Fatzo: Hauen die Leute an, auch wenn die jarnischt getan haben. Im Grunde tun wir ja auch keenem weiter wat. Am meisten sind wir ja eigentlich die Angegriffenen.

N.: Vor allem arbeitet und tut man allet, und denn wird man noch in der Freizeit mitgenommen. Wir machen ja ooch wat dafür, daß wir hier leben können.

Fatzo: Man muß ja irgendwie mitm Arsch an die Wand kommen. Ob eener mitm Mazda an die Wand kommt oder wat weeß icke, die normalen Fromms oder wat …

Aber gabs denn schon mal einen Punkt, wo ihr gesagt habt, Mensch, Scheiße, von allen Seiten treten sie uns, die Bullen treten uns, die Kneipentypen treten uns, nun haben wir die Schnauze voll, nun hören wir auf mit Punk?

Keule: Denn erst recht weitermachen.

N.: Es gibt natürlich auch solche Typen bei uns, die dann aufhören.

Stichwort: Liebe

.