DANTE ALIGHIERI
Die Göttliche Komödie
Aus dem Italienischen übersetzt von
Ida und Walther von Wartburg
Kommentiert von Walther von Wartburg
Mit 48 Illustrationen nach
Holzschnitten von Gustave Doré
MANESSE VERLAG
Dantes Leben und Werk
INFERNO
Erster Gesang
Zweiter Gesang
Dritter Gesang
Vierter Gesang
Fünfter Gesang
Sechster Gesang
Siebenter Gesang
Achter Gesang
Neunter Gesang
Zehnter Gesang
Elfter Gesang
Zwölfter Gesang
Dreizehnter Gesang
Vierzehnter Gesang
Fünfzehnter Gesang
Sechzehnter Gesang
Siebzehnter Gesang
Achtzehnter Gesang
Neunzehnter Gesang
Zwanzigster Gesang
Einundzwanzigster Gesang
Zweiundzwanzigster Gesang
Dreiundzwanzigster Gesang
Vierundzwanzigster Gesang
Fünfundzwanzigster Gesang
Sechsundzwanzigster Gesang
Siebenundzwanzigster Gesang
Achtundzwanzigster Gesang
Neunundzwanzigster Gesang
Dreißigster Gesang
Einunddreißigster Gesang
Zweiunddreißigster Gesang
Dreiunddreißigster Gesang
Vierunddreißigster Gesang
PURGATORIO
Erster Gesang
Zweiter Gesang
Dritter Gesang
Vierter Gesang
Fünfter Gesang
Sechster Gesang
Siebenter Gesang
Achter Gesang
Neunter Gesang
Zehnter Gesang
Elfter Gesang
Zwölfter Gesang
Dreizehnter Gesang
Vierzehnter Gesang
Fünfzehnter Gesang
Sechzehnter Gesang
Siebzehnter Gesang
Achtzehnter Gesang
Neunzehnter Gesang
Zwanzigster Gesang
Einundzwanzigster Gesang
Zweiundzwanzigster Gesang
Dreiundzwanzigster Gesang
Vierundzwanzigster Gesang
Fünfundzwanzigster Gesang
Sechsundzwanzigster Gesang
Siebenundzwanzigster Gesang
Achtundzwanzigster Gesang
Neunundzwanzigster Gesang
Dreißigster Gesang
Einunddreißigster Gesang
Zweiunddreißigster Gesang
Dreiunddreißigster Gesang
PARADISO
Erster Gesang
Zweiter Gesang
Dritter Gesang
Vierter Gesang
Fünfter Gesang
Sechster Gesang
Siebenter Gesang
Achter Gesang
Neunter Gesang
Zehnter Gesang
Elfter Gesang
Zwölfter Gesang
Dreizehnter Gesang
Vierzehnter Gesang
Fünfzehnter Gesang
Sechzehnter Gesang
Siebzehnter Gesang
Achtzehnter Gesang
Neunzehnter Gesang
Zwanzigster Gesang
Einundzwanzigster Gesang
Zweiundzwanzigster Gesang
Dreiundzwanzigster Gesang
Vierundzwanzigster Gesang
Fünfundzwanzigster Gesang
Sechsundzwanzigster Gesang
Siebenundzwanzigster Gesang
Achtundzwanzigster Gesang
Neunundzwanzigster Gesang
Dreißigster Gesang
Einunddreißigster Gesang
Zweiunddreißigster Gesang
Dreiunddreißigster Gesang
Copyright
Vers 1 Da nach Psalm 89, 10 unser Leben mit 70 Jahren erfüllt ist, verlegt Dante, im Jahre 1265 geboren, seine Lebensmitte in das Jahr 1300.
Vers 2 Der dunkle Wald ist das Leben mit seinen Irrungen.
Vers 11 Auch in den Paulusbriefen ist der Schlaf der sinnbildliche Ausdruck für ein von Sünden verdunkeltes Lebensbewußtsein.
Vers 13 Der Hügel, wie gleich nachher der Berg, ist ein allegorischer Ausdruck für das tugendhafte Leben.
Vers 30 Im Steigen stützt man sich stets auf den niedrigern Fuß. Der Sinn ist wohl, daß Dante sich noch unsicher fühlt, ob er das Ziel eines tugendhaften Lebens erreichen wird.
Vers 38 Nach der allgemeinen Meinung der Zeit stand die Sonne im Sternbild des Widders, als Gott die Gestirne des Himmels ihr Kreisen beginnen ließ. Damit wird der Frühlingsbeginn als der Moment bestimmt, in dem Dante seine Reise beginnt.
Vers 60 Die Wölfin drängt ihn zurück gegen das Tal der Sünde, aus dem er eben aufzusteigen sich angeschickt hatte.
Vers 74 Anchises ist der Vater des Aeneas, der nach dem Fall von Troja mit einer Schar der Seinen dem Verderben entrann, und dessen Irrfahrten Vergil in der «Aeneis» erzählt.
Vers 107/8 Die vier hier genannten Personen fielen in der Schlacht, durch die Aeneas sich den Eingang nach Latium errang, im Kampfe gegen die Volsker: Eurialus und Nisus waren Gefährten des Aeneas, Camilla die Tochter des Königs der Volsker, Turnus der Fürst der Rutuler.
Die Darstellung der Reise durchs Jenseits beginnt eigentlich erst mit dem zweiten Gesang. Der erste Gesang ist eine Art Vorrede, in der Dante die Lage schildert, in der er sich befand, als ihm die Gnade zuteil wurde, durch Hölle und Fegfeuer hindurchzuschreiten und sich durch das Paradies zu Gott zu erheben. Darum hat auch die erste Cantica, diesen Gesang mitgerechnet, deren vierunddreißig, im Gegensatz zu den beiden andern, die je dreiunddreißig umfassen. Der erste Gesang ist also eine Art Vorspiel auf Erden.
Vers 1 Die ersten Verse muten noch etwas hart und kalt an. Das liegt daran, daß Dante aus dem Vorspiel keine anschauliche, dichterische Schöpfung gemacht hat. Allegorische und wörtliche Bedeutung stehen sich etwas fremd gegenüber. Sie sind nicht zu einer Einheit verschmolzen; der philosophische Sinn, der Dante bei der Abfassung dieser ersten Verse vorgeschwebt hat, hat ihn verhindert, die sinnliche Darstellung mit seinem ganzen Feuer zu durchglühen. Die allegorische Dichtung wurde im ganzen Mittelalter als eine hohe Form des Ausdrucks philosophischer und moralischer Ideen gepflegt. Auch Dante lag die allegorisch-philosophische Auslegung sehr am Herzen. Aber in spätem Gesängen treffen wir oft auf Stellen, die zweifellos auch allegorischer Deutung fähig sind, in denen aber das den Ausgang bildende Erlebnis Dantes unmittelbar, in seinem Geist schon, die geschilderten Formen angenommen hat. Hier aber steckt in der Allegorie etwas Gewolltes, Erdachtes. Man fühlt, Dante ist in der Erinnerung sein Versinken in die Sünde nicht unmittelbar in dieser Form sinnlich erschienen; er hat sich diese Bilder intellektuell ausgedacht. Dante selber wird, etwas abstrakt gesetzt, zum Begriff der ganzen Menschheit und findet daher als Ausdruck seiner Angst und seiner Verzweiflung nur ganz allgemeine Vergleiche, wie etwa in Vers sieben. Doch sind auch hier schon einige dichterisch bedeutende Stellen, wie «in des Herzens See» (Vers 20), wo das Herz erscheint wie die glatte Spiegelfläche eines Sees, der von jedem Windstoß in Erregung versetzt wird, dessen Tiefe aber unergründlich bleibt. So auch gleich anschließend das Bild des Schiff brüchigen, der einen letzten Blick auf die überstandene Gefahr zurückwirft.
Vers 31 Auch hier dauert die Allegorie an. Die drei Tiere, die Dante entgegentreten, versinnbildlichen drei verschiedene Laster, welche den Menschen bedrohen. Sie gebaren sich unanschaulich: Der Luchs (32) ging mir nicht vor den Augen weg; der Löwe (45) schien auf mich zuzukommen. Der Luchs stellt wohl die Sinnenlust dar, der Löwe den Hochmut, die Wölfin (49) die Habsucht. Während die beiden ersten sittliche Gefahren sind, die Dante in seiner eigenen Seele erfahren hat, ist es die Habsucht anderer, welche ihm Schlingen gelegt hat. Die Habsucht gilt ihm als das verhängnisvollste Laster sowohl für das geordnete Staatswesen, den Menschen als Einzelnen wie als Gesamtheit. Es ist das Laster, für das Dante gar keine Anlage und daher lauter Abscheu hatte. Nicht umsonst wird die Wölfin allein in ihrer Häßlichkeit beschrieben, während das Äußere der beiden andern Tiere nur kurz angedeutet wird. In dieser Einschätzung der Habsucht geht Dante durchaus mit Aristoteles, der großen philosophischen Autorität des Mittelalters, zusammen. Für Aristoteles ist sie die speziell politische Form der Ungerechtigkeit, welche die rechtliche Gleichheit der Bürger zerstört. Die allegorische Darstellung durch die drei Tiere hat ihr unmittelbares Vorbild in Jeremias 5, 6: «Darum wird sie auch der Löwe, der aus dem Walde kommt, zerreißen, und der Wolf aus der Wüste wird sie verderben, und der Parder wird um ihre Stadt lauern.» Die Gewohnheit, die Sünden, die Gefahren des Dies- und Jenseits, die auf den Menschen lauernden Dämonen durch Tiere zu versinnbildlichen, ist systematisch und eindrucksvoll durch die apokalyptische Dichtung ausgebildet worden, welche seit der Offenbarung und bis zur Reformation zur Darstellung religiöser Erlebnisse gepflegt wurde. In der bildenden Kunst äußert sie sich besonders kräftig: Auf sie gehen die zahllosen Fratzen, Dämonen, Ungeheuer, Drachen und Teufel zurück, mit welchen besonders die romanischen und gotischen Kathedralen des Mittelalters dekoriert werden.
Vers 61 Da erscheint vor Dantes Augen eine menschliche Gestalt, die Dante sofort um Hilfe anfleht. Auf Dantes Frage gibt er sich, ohne seinen Namen zu nennen, als Vergil zu erkennen. Kaum hat Dante erfaßt, wer vor ihm steht, so quillt aus ihm die ganze Verehrung, die er für diesen Dichter hegte und der ihm, wie er sagt, den Weg zur wahren, höhern Dichtkunst gewiesen hat, wie sie Dante vor 1300 bereits in seinen Liebessonetten und in seinen philosophischen Kanzonen gepflegt hat.
Vers 91 Vergil will Dante auf einen Weg führen, auf dem die gierige Wölfin ihm nicht folgen kann. Er weissagt ihm auch das Erscheinen einer Persönlichkeit, die Italien von dieser befreien wird, allerdings in dunklen Worten, deren realer Sinn nicht mit Sicherheit zu erfassen ist. Am wenigsten unwahrscheinlich ist die Interpretation, die im Jagdhund (Veltro) Cangrande della Scala sieht, den Herrn von Verona, bei dem Dante längere Zeit Aufnahme gefunden hat. Dann wäre mit Feltro vielleicht Feltre in Venezien und Montefeltro in der Romagna gemeint, zwischen denen ungefähr Verona liegt.
Vers 112 Vergil verspricht Dante, ihn zuerst durch die Hölle zu geleiten (112–117), dann durch den Läuterungsberg (118–120) hinan, wonach er ihn jemand anderm übergeben wird, der ihn durch die Regionen der Himmel führen will.
I
Wohl in der Mitte unsres Lebensweges geriet ich tief in einen dunklen Wald, so daß vom graden Pfade ich verirrte. |
1 |
Oh, schwer wird’s mir, zu sagen, wie er war, der wilde Wald, so finster und so rauh; Angst faßt aufs neue mich, wenn ich dran denke; |
4 |
So schmerzlich, daß der Tod kaum bittrer ist. Doch, um vom Guten, das ich fand, zu reden, will ich von andrem, das ich sah, erzählen. |
7 |
Wie ich hineinkam, sicher weiß ich’s nicht, so sehr war ich von Schlaf befangen dort, als ich vom richt’gen Wege abgewichen. |
10 |
Doch als ich dann zum Fuße eines Hügels gelangte, wo das Tal zu Ende ging, das mir mit Furcht das Herz erstarren machte, |
13 |
Hob ich den Blick und sah des Berges Schultern umflossen schon von Strahlen des Gestirnes, das uns den graden Weg auf jedem Pfade weist. |
16 |
Da wurde stiller um ein weniges die Furcht, die in des Herzens See gewohnet hatte die ganze Nacht, die ich in Qual verbracht. |
19 |
Und jenem gleich, der mit erschöpftem Atem vom Meer ans Ufer kaum zurückgelangt nun blicket auf die unheilvollen Wasser, |
22 |
So wandte sich mein Geist, noch fliehend fast, erschauernd rückwärts, um den Weg zu messen, der lebend keinen jemals noch entließ. |
25 |
Als dann mein müder Leib sich ausgeruht, macht’ ich mich auf den Weg am öden Hang, so daß der feste Fuß auch stets der untre war. |
28 |
Und sieh da, fast am Fuße noch des Abhangs, ein Luchs, behend und ruhelos sich regend, und der von schwarzgeflecktem Fell bekleidet; |
31 |
Und nimmer wollt’ er weichen mir vor’m Antlitz, ja, er vertrat mir derart meinen Weg, daß mehrmals ich zur Umkehr schon mich wandte. |
34 |
Es war die Stunde am Beginn des Tages, die Sonne stieg herauf mit jenen Sternen, die mit ihr zogen, als die Liebe Gottes |
37 |
Setzt’ jedes Ding der Schöpfung in Bewegung, so daß mit guter Hoffnung mich erfüllten wegen des Tiers mit dem gefleckten Fell |
40 |
Die frühe Stunde und der holde Lenz. Doch nicht so sehr, daß Furcht mich nicht erfaßte, als sich mir eines Löwen Anblick bot, |
43 |
Als wär’ bereit er, auf mich loszustürzen mit hocherhobnem Kopf und wütgem Hunger, so daß die Luft davon zu beben schien, |
46 |
Und eine Wölfin, die im magern Leib beladen schien mit jeglicher Begier, und die schon vielen Menschen Jammer schuf; |
49 |
Und also stürzte mich in schwere Not das Grauen, das aus ihrem Anblick strömte, daß mir die Hoffnung auf den Gipfel schwand. |
52 |
Und einem gleich, der gern zusammenrafft, und dann die Zeit erreicht, da er verlieren muß, so daß er weint und klagt in seinem Denken, |
55 |
So machte mich das ruhelose Tier, das auf mich zukam, setzend Schritt vor Schritt, mich rückwärts drängend, wo die Sonne schweigt. |
58 |
Wie ich unselig nun zur Tiefe sinke, da offenbart sich meinen Augen einer, der stumm geworden schien von langem Schweigen. |
61 |
Als den ich in der großen Öde sah, rief ich ihm zu: «Erbarm dich mein, wer immer du bist, ob Schatten nur, ob wahrer Mensch.» |
64 |
«Nicht Mensch», gab er zurück, «Mensch war ich schon; Lombarden waren meine Eltern beide, und Mantua war ihre Vaterstadt. |
67 |
Sub Julio bin ich geboren, spät schon, und lebt’ in Rom zur Zeit Augusts, des Guten, zur Zeit der falschen, lügenhaften Götter. |
70 |
Ein Dichter war ich, sang von dem gerechten Sohn des Anchises, der von Troja kam, nachdem das stolze Ilion verbrannt. |
73 |
Doch du? Warum kommst du zu solchem Jammer? Was steigst du nicht hinan den Berg der Wonne, der Ursprung ist und Urgrund aller Freude?» |
76 |
«So bist du denn Vergil und jener Bronnen, aus dem so mächtig brach der Strom des Wortes?» sprach ich zu ihm mit schamgebeugter Stirn. |
79 |
«O du, der andern Sänger Ehr und Leuchte, es helfe mir der lange Fleiß, die große Liebe, die suchend ich hab’ auf dein Buch verwandt. |
82 |
Du bist mein Meister und mein Vorbild du; von dir allein nur hab’ ich übernommen die hohe Wortkunst, die mir Ehre brachte. |
85 |
Du siehst das Tier, vor dem ich fliehen mußte: Errette mich von ihm, du großer Weiser; es läßt mein Blut in allen Adern beben.» |
88 |
«Auf einem andern Wege sollst du wandern», gab er zurück, als er mich weinen sah, «wenn du entfliehn willst diesem grausen Ort: |
91 |
Denn dieses Tier, das Schreie dir entlockt, läßt keinen je des Wegs vorübergehen; es widersetzt sich ihm, bis er getötet; |
94 |
So ruchlos und verdorben ist sein Wesen, daß niemals seine brünstge Gier sich sättigt, und nach dem Fraß ist größer nur sein Hunger. |
97 |
Viel andre Tiere gatten sich mit ihm, und ihre Zahl wird wachsen, bis der Jagdhund erscheint und ihm ein schmerzvoll End bereitet. |
100 |
Der wird sich nicht von Land noch Schätzen nähren, von Weisheit nur und Lieb und starkem Mut, und zwischen Feltro und Feltro ist seine Heimat. |
103 |
Italien, dem bedrängten, bringt er Heil, für das Camilla einst als Jungfrau starb, Eurialus’, Turnus’, Nisus’ Blut einst floß. |
106 |
Der wird das Tier aus jedem Ort verjagen, bis er zur Hölle es zurückgetrieben, von der der Neid es ehmals ausgesandt. |
109 |
Drum denk’ ich und erwäg’ zu deinem Heil, daß du mir folgst; ich will dein Führer sein, geleiten dich von hier durch ewgen Raum, |
112 |
Wo du verzweifelt Schreien hören wirst und sehn der Vorzeit Geister Qualen leiden, die alle jammern um den zweiten Tod; |
115 |
Dann wirst du jene sehn, die freudig sind im Feuer, weil sie hoffen, sich dereinst, wann es auch sei, der selgen Schar zu einen. |
118 |
Willst du zu dieser dann empor noch steigen, so harrt dein eine Seele, würdiger als ich; der werde ich dich scheidend überlassen; |
121 |
Denn jener Mächtige, der dort oben herrscht, und dess’ Gesetze ich nicht anerkannte, will nicht, daß man durch mich sein Reich betrete. |
124 |
Allüberall gebeut er, und dort herrscht er, Dort stehet seine Stadt, sein hoher Thron. O glücklich, wen für das er auserkoren.» |
127 |
Drauf ich zu ihm: «O Dichter, hör mich flehn, bei jenem Gotte, den du nicht erkanntest, damit ich dieser Not und Schlimmerem noch entrinne, |
130 |
Führ hin mich zu dem Ort, von dem du sprachst, auf daß ich seh’ des heilgen Petrus Pforte und jene, die so leiden, wie du sagst.» |
133 |
Dann ging er, und ich folgt’ ihm auf dem Fuß. | 136 |
Vers 5 Das Mitleid, das Dante beim Anblick der Verdammten empfinden und ihn manchmal fast überwältigen wird.
Vers 7 Mit «kühner Sinn» meint Dante seinen eigenen Geist.
Vers 13 Hinweis auf die Hadesfahrt des Aeneas, des Silvius’ Vater, die Vergil im 6. Buch der «Aeneis» erzählt.
Vers 18 «Wer» weist auf die Wesenheit hin, nämlich Rom, «welcher» auf die besondere Eigenheit derselben, nämlich Sitz des Papsttums und des Kaisertums zu sein.
Vers 22 Beide, nämlich Rom als auch das Römische Reich.
Vers 28 «Vaso d’elezione» (= auserwähltes Gefäß) wird in der Apostelgeschichte Paulus genannt. Paulus wurde in den dritten Himmel entrückt. Siehe 2. Korinther 12, 2.
Vers 76 Vergil erkennt gleich Beatrice nach ihrem allegorischen Wert als die christliche Erleuchtung.
Vers 83 Beatrice befindet sich mit den andern Seligen und Heiligen jenseits der räumlichen Welt, welche die neun Himmel umfaßt und in deren Mitte die Erde schwebt.
Vers 93 Das Feuer, das im Inferno lodert, allerdings nicht dort, wo Vergil weilt, sondern in dessen untern Partien.
Vers 94 Die Jungfrau Maria.
Vers 97 Wahrscheinlich die heilige Lucia von Syrakus, die als die Schutzheilige der Augenkranken gilt (im Mittelalter hatte jede Krankheit ihren besondern Heiligen, der von den entsprechenden Kranken angerufen wurde). Erscheint wohl deshalb als Vermittlerin, weil Dante zweimal an einem Augenübel litt. Allegorisch bedeutet Lucia wohl die erleuchtende Gnade.
Vers 102 Beatrice sitzt neben Rahel aus dem Alten Testament. Siehe auch Paradiso XXXII, 8.
Vers 108 Da Dante in der Landschaft, in der sich der Beginn der Handlung abspielt, sonst keinen Fluß erwähnt, ist hier unter diesem Wort wohl allgemein der stürmische Charakter seiner verzweifelten Lage zu verstehen.
Vers 1 Vor der sich senkenden Nacht gerät Dantes Zuversicht ins Wanken. Er gedenkt zweier Männer, die würdig befunden worden waren, das Jenseits in ihrer irdischen Lebenszeit zu schauen: Aeneas und Paulus (das auserwählte Gefäß, Vas Electionis [28]), mit denen Dante sich nicht zu vergleichen wagt.
Vers 43 Um Dantes Mut zu kräftigen, erzählt ihm Vergil, daß er von himmlischen Kräften gesandt worden sei, Dante aus seinen Verirrungen herauszuführen. Während Dante auf seinem Irrwege von den Tieren bedroht worden ist, haben sich drei hohe Frauen im Himmel seiner erbarmt. Die Heilige Jungfrau entsandte die heilige Lucia, die Spenderin der erleuchtenden Gnade, die sich ihrerseits an Beatrice wandte. Diese stieg in den Limbo der Hölle nieder, wo Vergil weilte, und bat ihn, dem bedrängten Dante Hilfe zu bringen. Von Beatrice, der Jugendliebe Dantes, geht gleich ein warmer Strom unmittelbarer, wirklich erfühlter Liebe aus. Die Erzählung dieser ganzen Vermittlung der göttlichen Gnade beseitigt in Dante die schweren Zweifel, ob er berufen sei, die versprochene Reise anzutreten. Und so folgt er denn Vergil. Vergil als Führer Dantes wird bloß verständlich, wenn wir uns an die Rolle erinnern, welche dieser im Mittelalter innehatte. Für das Mittelalter war die ganze vorchristliche Zeit nur eine Vorbereitung auf das Kommen des Erlösers gewesen. Die Mission, das Gottesreich auf Erden zu erfüllen, war dem päpstlichen und kaiserlichen Rom zugemessen. So war noch für Dante die Gründung und die ganze Geschichte Roms ein Werk der göttlichen Vorsehung. Wenn Aeneas seine welthistorische Mission ausführte, so war er dazu von Gott ausersehen. Vergil, der als der Sänger des Aeneas bei den Römern als der große Dichter der Staatsreligion verehrt wurde, war für Dante der Dichter jener Vorbereitungszeit. Daher steht sein Wirken in inniger Verbindung mit dem Auswirken der christlichen Gedanken. Dazu kam, daß die vierte Ekloge des Vergil das ganze Mittelalter hindurch als Prophezeiung des kommenden Christus gedeutet wurde, eine Auffassung, der auch Dante huldigte. Für ihn trug Vergil eine Vorahnung des Christentums in sich und war darum ganz besonderer Verehrung würdig. Aber nicht nur als Prophet, sondern auch als Mensch und Dichter erschien Dante Vergil als Vorbild. Vergleichende Studien haben nachgewiesen, wieviel Dante auch tatsächlich in technischer Beziehung Vergil verdankt, wie oft er als Dichter und Darsteller von ihm gelernt hat. Diese Beziehungen werden noch inniger gestaltet durch die Tatsache, daß Vergil seinen Helden Aeneas eine ähnliche Reise in die Unterwelt tun läßt, wie sie Dante nun antreten soll. Dantes Verehrung für Vergil hat etwas von jener Schwärmerei, die ein auf abenteuerliche Entdeckungen Ausgehender dem entgegenbringt, der das gleiche unternommen hat und mit tausend Schätzen beladen zurückgekehrt ist. Deshalb sind die Beziehungen zwischen Vergil und Dante so innig, so menschlich; deshalb hat Vergil nie etwas Abstraktes, sondern bleibt für Dante der verehrte Führer, der ältere Freund, der sein ganzes Wollen darauf richtet, dem jüngern zum Aufstieg zu verhelfen, soviel in seiner Macht steht. Wohl ist es klar, daß in Vergil das Prinzip der Vernunft zur Darstellung gelangt. Aber Vergil ist so vom Leben durchpulst, daß nichts Unangemessenes, nichts Konstruiertes an ihm haften bleibt.
In den zwei ersten Gesängen kommt eine große, schmerzliche Erkenntnis zum Ausdruck, die sich Dante in seinem Leben errungen hat: Der Mensch, der vom graden Weg abgewichen ist und sich im Urwald der Leidenschaften und der Sünde verirrt hat, kann sich nicht retten, indem er zurückgeht; das verlorne Paradies der Unschuld kann er nicht wiedergewinnen. Nur eine Möglichkeit des Heils öffnet sich ihm: Der Weg durch die Sünde und durch die Erkenntnis hindurch. Stets nach vorwärts gehen zu müssen, ist das Schicksal der Menschen. Nicht die Flucht vor dem Bösen, nicht dessen einfache Negierung kann uns erlösen, sondern nur das Ringen mit dem Bösen und seine Überwindung.
II
Es neigte sich der Tag; und Dämmerung enthob die Lebewesen auf der Erde all ihrer Mühen, und nur ich allein |
1 |
Macht’ mich bereit, das Ringen zu bestehen des schweren Wegs, wie auch des Herzens Mitleid, was künden wird mein Geist ohn alles Wanken. |
4 |
O Musen, o du kühner Sinn, nun helft mir! Erinnrung, die du schriebst, was ich geschaut, hier wird sich weisen deines Wesens Adel. |
7 |
Und ich begann: «O Dichter, du mein Führer, sieh her auf meine Kraft, ob sie genüge, bevor du mich dem steilen Weg vertraust. |
10 |
Du sagst, daß der Erzeuger Silvius’, lebendgen Leibes noch, zum ewigen Reich gegangen ist und war bei wachen Sinnen. |
13 |
Drum, wenn der Widersacher alles Bösen ihm gnädig war, der hohen Wirkung denkend, die ihm entspringen sollt’ und wer und welcher, |
16 |
So scheint’s nicht der Vernunft zu widersprechen, daß für die hohe Roma und ihr Reich im Himmelsthron zum Vater er erkoren. |
19 |
Und beide, um die Wahrheit auszusprechen, warn für die heilge Stätte vorbestimmt, auf der der Erbe thront des großen Petrus. |
22 |
Auf jener Fahrt, von der du rühmend singst, da hört’ er Dinge, die zum Sieg ihm halfen, und die dereinst zum Papstesmantel führten. |
25 |
Dorthin ging auch das auserwählt Gefäß, um Stärkung für den Glauben uns zu bringen, der uns zum Weg des Heils der Ausgang ist. |
28 |
Doch steht die Reise mir zu? Wer erlaubt’s mir? Ich bin Aeneas nicht, noch bin ich Paulus, nicht ich noch irgendwer hält dess’ mich würdig. |
31 |
Drum, wenn ich deiner Führung mich ergebe, so fürcht’ ich, tollkühn wird die Reise sein: Du, Weiser, weißt’s und besser als ich’s sage.» |
34 |
Wie einer, der nicht will, was erst er wollte, und sich bedenkt und seinen Vorsatz ändert, und sich zurückzieht von dem Unterfangen, |
37 |
So war ich selbst an jenem dunklen Hang; dran denkend, gab ich auf das Unternehmen und war doch erst so rasch dazu entschlossen. |
40 |
«Wenn deiner Worte Sinn ich recht verstand», antwortet’ mir des Hochgesinnten Schatten, «so ist von Kleinmut deine Seel befallen, |
43 |
Der oftmals so des Menschen Sinn verwirrt, daß er von edlem Unterfangen läßt, so wie ein Tier vor einem Trugbild scheut. |
46 |
Daß du von dieser Furcht jetzt dich befreiest, merk auf, warum ich kam und was ich hörte, als es zum erstenmal mich deiner jammert’. |
49 |
Ich war bei denen, die im Zwischenreiche, da rief mich eine Frau, so selig schön, daß willig ich sie bat, mir zu befehlen. |
52 |
Ihr Auge leuchtet’ heller als ein Stern, und schlicht und sanft hub sie zu sprechen an, mit Engelsstimme und in ihrer Sprache: |
55 |
‹O edler hoher Geist aus Mantua dess’ Ruhm noch jetzt auf Erden weiterlebt, und leben wird, solange sie besteht, |
58 |
Er, der mein Freund ist, doch nicht der des Glücks, wird dort am öden Hang so auf dem Weg gehemmt, daß er aus Furcht zurück sich wendet. |
61 |
Ich fürcht’, er hab’ sich schon so sehr verirrt, daß ich zu spät aufstand, um ihm zu helfen, nach dem, was ich im Himmel von ihm hörte. |
64 |
So eile, und mit deiner Rede Kunst, mit allem, was zu seiner Rettung nottut, steh so ihm bei, daß ich getröstet sei. |
67 |
Ich bin Beatrice, die dich gehen heißt, ich komm’ von dort, wohin’s mich wieder zieht, Liebe bewegte mich und läßt mich sprechen. |
70 |
Wenn ich vor meinem Herren wieder stehe, will oft vor ihm ich lobend dein gedenken.›» Dann schwieg sie still, und ich begann zu ihr: |
73 |
«O hohe, edle Frau, dank dir allein erhebt die Menschheit sich weit über alles unter dem Himmel mit dem kleinsten Kreise. |
76 |
So sehr willkommen ist der Auftrag mir, daß ich nicht schnell genug ihm folgen kann, mehr braucht es nicht, als deinen Wunsch zu nennen. |
79 |
Doch sag, wie kam’s, daß du dich nicht gescheut, in diese Mitte hier herabzusteigen vom weiten Ort, nach dem du hin dich sehnst?» |
82 |
«Drängt’s dich so sehr, den innern Grund zu kennen, sag’ ich in kurzen Worten dir», so sprach sie, «warum ich ohne Furcht hierher gekommen. |
85 |
Nur jene Dinge braucht man doch zu fürchten, die einem Böses anzutun vermögen, die andern aber können uns nicht schrecken. |
88 |
Ich bin durch Gottes Gnade so geschaffen, daß Euer Elend nimmer mich berührt, noch mich bedroht die Flamme dieses Feuers. |
91 |
Im Himmel weilt die hohe Frau, die sich erbarmt der Not, zu der ich jetzt dich sende, so daß sie hartes Urteil droben bricht. |
94 |
Die rief Lucia vor ihr Angesicht und sprach: ‹Sieh, dein getreuer Knecht bedarf jetzt dein; er sei von mir dir anbefohlen.› |
97 |
Lucia, jeder Grausamkeit abhold, bewegte sich alsbald zu mir herüber, wo ich bei Rahel saß, der Sinnenden. |
100 |
Und sprach: ‹Beatrice, wahres Lob der Gottheit, was hilfst du nicht dem, der so sehr dich liebte, daß er um dich entfloh dem großen Haufen? |
103 |
Hörst du den Jammer seiner Klage nicht? Siehst du nicht, wie der Tod schon ihn bedrängt dort bei dem Fluß, der wilder als das Meer?› |
106 |
Nie hatt’ auf Erden es ein Mensch so eilig, zu haschen, was ihm nützt, zu fliehn den Schaden, wie ich, als solche Worte ich vernommen. |
109 |
Von meinem selgen Sitz kam ich herab, vertrauend deiner edelmütgen Rede, die dich und jeden adelt, der sie hörte.» |
112 |
Und als sie so zu mir gesprochen hatte, hob sie ihr leuchtend Auge, naß von Tränen, daß ich noch rascher mich zum Gehen wandte. |
115 |
«So kam ich her zu dir, wie sie es wollte, ich führt’ dich weg von jenem wilden Tier, das dir zum schönen Berg den Aufstieg wehrte. |
118 |
Was soll’s denn? Sag, warum, warum nur säumest du? Warum nährst du im Herzen solchen Kleinmut? Was bist du nicht von Mut und Kraft entbrannt? |
121 |
Wenn drei gebenedeite, selge Frauen um dich sich sorgen vor dem Thron des Himmels, und dir mein Wort so reiches Heil verspricht?» |
124 |
Wie Blümlein, die, vom nächtigen Frost geschlossen und hingebeugt, wenn sie die Sonne trifft, weit offen sich auf ihrem Stengel heben, |
127 |
So hob auch ich mich von dem müden Zagen, und so viel edler Mut strömt mir zum Herzen, daß ich begann, wie ein befreiter Mensch: |
130 |
«Oh, wie barmherzig ist, die mir geholfen, und du, wie gütig, der so rasch gehorchtest den wahren Worten, die sie dir gebracht! |
133 |
Du hast Verlangen mir geweckt im Herzen, so stark zum Kommen mit den Worten dein, daß ich gefestigt meinen ersten Vorsatz. |
136 |
Brich auf, wir haben beide einen Willen: Du sei mein Führer, du mein Herr, mein Meister!» So sagt’ ich, und als er zum Gehn sich wandte, |
139 |
Betrat auch ich den steilen, rauhen Weg. | 142 |
Vers 1 Die Dichter treten durch das Höllentor ein, über dem eine Inschrift den Kommenden ewiges Unheil verkündet. Die Hölle ist für Dante ein riesiger Trichter, dessen Spitze der Mittelpunkt der Erde ist. Diesen Trichter hat Luzifer in die Erdmasse hineingerissen, als er, von Gott abgefallen, aus dem Paradies herausgeschleudert wurde. Das so verdrängte Material aber wurde auf der entgegengesetzten Seite der Erde herausgetrieben und türmte sich zu einem gewaltigen Berg, dem Berg der Läuterung (Purgatorio). Die Hölle ist in neun immer enger werdende Kreise gegliedert, die wie die Stufen eines riesigen Amphitheaters übereinander geordnet sind. Diese Anordnung wiederholt sich ähnlich im Purgatorio. Die ersten fünf Kreise sind zur obern Hölle zusammengefaßt, die andern vier zur untern oder zur «Città di Dite». Ein Wesentliches scheidet sie: In der obern Hölle stecken die Sünder, die nicht an sich böse waren, deren Vernunft aber nicht stark genug war, ihr Triebleben zu bändigen. In der untern Hölle aber wird die wirkliche Bosheit bestraft, das heißt die Menschen, die absichtlich und vollbewußt das Böse gewollt und mit Vorbedacht ausgeführt haben.
Vers 22 Die Dichter treten zuerst in eine Art Vorhof der Hölle ein. Hier sind alle sittlich Neutralen vereinigt, jene also, die weder gut noch böse waren. Für fast alle sittlichen Kategorien, die dem Leser bei Dante begegnen, läßt sich die Quelle bei den kirchlichen oder bei den heidnischen Schriftstellern nachweisen, aus denen Dante seine Anschauungen genährt hat. In ihm leben die sittlichen Ideale, die im Altertum in der Stoa und dann in den heiligen Schriften sowie in den Lehren der Kirchenväter ihren Ausdruck gefunden haben. Hier aber ist eine der nicht zahlreichen Stellen, an denen Dante aus eigener Machtvollkommenheit etwas bisher nicht Dagewesenes geschaffen hat. Was mag Dante zu dieser eigenwilligen Schöpfung inspiriert haben? Aristoteles und die kirchliche Ethik kennen den Begriff der sittlich indifferenten Handlung (adiaphora). Dieser Begriff ist es wohl, der die Grundlage gibt zu Dantes Vision der sittlich indifferenten Menschen. Es ist ja theoretisch denkbar, immer nur sittlich indifferente Handlungen auszuführen, sein ganzes Leben hindurch allen sittlich wertbaren Handlungen auszuweichen; doch praktisch ist es wohl schwierig, sich gar nie nach der einen oder andern Seite zu entscheiden und sich so den Himmel oder die Hölle zu verdienen. Darum ist diese Kategorie Menschen auch der Kirche unbekannt. Was Dante hier schaut, das ist vor allem der Abdruck, den in der geistigen Welt die Haltung von Menschen zurückläßt, die sich im richtigen Moment nicht zu einer Entscheidung zwischen Gut und Böse durchzuringen vermögen, die innerlich zu schwach sind, um sich entschlossen auf eine Seite zu stellen. Hundertfältig hat es Dante erfahren, daß dieses Bleigewicht der menschlichen Unentschlossenheit und der Scheu vor Verantwortung sich viel übler auswirkt als das Böse selber. Die christliche Gnadenordnung rechnet mit der menschlichen Entscheidung, mit der Entscheidung, die jeder einzelne Mensch zu treffen immer wieder aufgerufen wird. Wer sich nicht zur Entscheidung aufzuraffen vermag, der stellt sich außerhalb dieser Ordnung. So hat er weder auf Himmel noch auf Hölle Anspruch.
Man könnte sich fragen, ob Dantes Meinung sei, daß das häufige Versagen des Menschen auch die paar Taten wertlos mache, die er im Laufe eines langen Lebens sich abgerungen hat, gleich wie eine an sich kräftige blaue oder rote Farbe, zu sehr verdünnt, zu einem undefinierbaren Grau wird. Aber Dante kommt es nicht auf ein solches Abwägen an; er rechtfertigt nicht, wie er es später in ähnlichen Fallen sorgfältig tut, er berichtet; er stellt vor uns hin, was er mit seinem geistigen Auge gesehen hat. Die Originalität, die Dante hier zeigt, wirkt sich zutiefst auch im Dichterischen aus. Die Schilderung dieses Vorhofs der Hölle, noch diesseits des Acheron, schiebt sich als Übergang zwischen die Oberwelt, aus der Dante kommt, und die Unterwelt, der er entgegenschreitet. Ohne wirklicher Schrecken zu sein, bereitet dieses Erlebnis ihn und uns vor, das Grauen der Hölle zu ertragen. Die Nichtigkeit dessen, was hier vor Dantes Auge vorüberhuscht, hat der Dichter rasch durchschaut.
Zuerst fühlt sich Dante bedrückt durch den Eindruck fürchterlicher Qual, der auf ihn einstürmt. Als ihm aber sein Meister und Begleiter kundgetan hat, welcher Art die Seelen sind, die er vor sich hat, da fällt jedes Mitleid von ihm. Es sind ja Menschen ohne Blut und ohne Geist, Larven, nicht wirkliche Menschen. Ihre Plage ist ekelhaft, lästig, Fliegengeschmeiß und Würmer, so recht das, was ihrem irdischen Leben entsprach. So besteht auch ihr Gewissensbiß im Beneiden jedes, auch des fürchterlichsten Schicksals. Man spürt in den Worten des Dichters die Verachtung, die er selber im Leben gegen solche Menschen hat empfinden müssen. Man fühlt, wie er selber als schwerstes Hindernis in seiner Wirksamkeit immer diese inerte Masse Mensch, oder besser gesagt Halbmensch, angetroffen hat, die in ihrer Gleichgültigkeit stets der schlimmste Feind des Großen ist. Mensch sein heißt Entscheidungen treffen, heißt sittliche Taten vollbringen und dabei vielleicht auch irren. Diese Menschen aber haben versucht, sich unterhalb der für uns bestimmten Sphäre zu halten und, wie die unter uns stehende Kreatur, keine Verantwortungen auf sich zu laden. Daher fällt auch dem Dichter in dieser Menge eintönig grau vorüberhuschender Schatten keiner besonders ins Auge; keiner ist würdig, daß durch Dante sein Andenken der Nachwelt erhalten bleibt. Dante gefällt sich sonst im Aufreihen von Namen historischen Gedenkens; hier aber läßt er sich nicht einen einzigen Namen entlocken. Eines einzigen gedenkt er besonders, aber auch bei diesem spricht er den Namen nicht aus. Es ist (Vers 60) der Papst Zölestin V. Zölestin war gegen seinen Willen aus seiner stillen Eremitenklause herausgeholt und zum Papst gekrönt worden. Aber nach wenigen Monaten legte er seine Würde wieder ab, weil er sich für unfähig hielt, und weil die Intrigen dessen, der sein Nachfolger werden sollte, ihm keine Ruhe ließen. So war Zölestin der Grund dazu, daß dieser, Bonifaz VIII., im Jahre 1294 den päpstlichen Thron besteigen konnte. Durch seine Feigheit machte er einem der skrupellosesten Päpste Platz, die das Mittelalter gekannt hat. Dazu hat viel beigetragen, daß Dante diese Gemeinheit Bonifaz’ VIII. persönlich hat erfahren müssen. Die Anonymität, in die sie von Dante gestoßen werden, besiegelt ihre Verurteilung. Der Leser erhält das Gefühl, ihre wahre Strafe seien die von Verachtung durchtränkten Worte des Dichters, jenes hoheitsvolle, sich vornehm zurückhaltende Wort Vergils (Vers 51) oder Dantes eigene Beschreibung (Vers 64). Dante verschwendet keinen überflüssigen Moment an diese Scheintoten, die vor dem Ableben Scheinlebendige waren. Sobald sein Erkenntnisdrang gestillt ist, wendet er sich ohne ein weiteres Wort von ihnen ab und Neuem zu. Nun erst beginnt der wirkliche Schrecken der Hölle.
Vers 70 Nachdem Dante die Vorhölle hinter sich hat, sieht er, wie die Gerechtigkeit Gottes mit fürchterlicher Rapidität in die Scharen der Verdammten hineingreift. Alles ist in Aktion aufgelöst. Der erste Exekutor gottverhängter Strafe, Charon, ist geschaffen, den unglücklichen Seelen gleich einen richtigen Begriff zu geben von den Schrecken der Hölle, mit seinem von zottigem, weißem Haar umwallten Gesicht, seiner Donnerstimme, den von feurigen Rädern umkreisten Augen. Die Erde selbst wird aktiv, bebt, speit ein rotes Licht aus, und Dante sinkt ohnmächtig zu Boden, um erst am andern Ufer wieder zu erwachen. In den Vorstellungen, die Dante vor uns hinstellt, mischen sich Altertum und christliches Mittelalter. Die Möglichkeit dazu war dadurch gegeben, daß die Kirchenväter die Existenz der heidnischen Götter nicht abstritten, in ihnen aber die Personifikation von Naturkräften und Dämonen sahen.
III
Durch mich geht man zur Stadt der Schmerzen ein; durch mich geht man hinein zur ewgen Qual; durch mich geht man zu den Verlorenen. |
1 |
Gerechtigkeit bewegte meinen Schöpfer; erschaffen hat mich Gottes ewge Allmacht, die höchste Weisheit und die erste Liebe. |
4 |
Denn vor mir ward kein einzig Ding erschaffen als Ewiges, und ewig werd’ ich dauern; ihr, die ihr herkommt, lasset alle Hoffnung. |
7 |
Die Worte sah in dunkler Farbe ich geschrieben über einer Pforte Bogen. Da sprach ich: «Meister, schwer trifft mich ihr Sinn.» |
10 |
Drauf er, wie einer, dem Erkenntnis ward: «Hier heißt es abtun jede Bangigkeit, und jedes niedre Zagen muß hier sterben. |
13 |
Wir sind am Ort, von dem ich dir verheißen, wo die Gepeinigten du sehen werdest, denen verloren ging die Wohltat des Erkennens.» |
16 |
Und als er seine Hand auf meine legte mit heiterm Antlitz, so daß Mut ich faßte, führt’ er mich ein zu den geheimen Dingen. |
19 |
Dort klangen Seufzer, Klagen, laute Schreie hin durch die Luft, die kein Gestirn erhellt, so daß zuerst mich Weinen überkam. |
22 |
Verschiedne Zungen, grauenvolle Reden, von Schmerz erfüllte Worte, Zornesrufe und Stimmen, laut und rauh, mit Händeschlagen, |
25 |
Die machten ein Getümmel, einen Wirbel aufs neue stets in zeitlos düstrer Luft, so wie der Sand, wenn heftger Sturmwind braust. |
28 |
Und ich, dess’ Haupt von Schrecken war umfangen, sprach: «Meister, sag, was ist’s, das ich vernehme, und wer sind die, die so vom Schmerz bewältigt?» |
31 |
Drauf er zu mir: «Dies unglückselge Leben, es ward zuteil den traurgen Seelen derer, die lebten ohne Schmach und ohne Lob. |
34 |
Sie sind gesellt dem üblen Heer der Engel, die nicht abtrünnig waren und doch auch die Treue Gott nicht wahrten, sondern für sich blieben. |
37 |
Der Himmel stößt sie weg, um schön zu bleiben, und auch die tiefe Hölle will sie nicht, denn Ruhm gewännen nicht die Schuldigen an ihnen.» |
40 |
Und ich: «Was, Meister, tragen sie so schwer, daß sie so laute Klagen von sich geben?» Und er erwidert: «Kurz will ich’s dir sagen: |
43 |
Die haben keine Todeshoffnung mehr; und also niedrig ist ihr dunkles Leben, daß jedes andre Schicksal sie beneiden. |
46 |
Die Welt behält Erinnrung nicht an sie; Gerechtigkeit verschmäht sie und Erbarmen: Reden wir nicht von ihnen, schau und geh vorüber!» |
49 |
Und wie ich blickte, sah ich eine Fahne, die kreisend also rasch vorübereilte, daß es mir schien, sie könne niemals ruhn. |
52 |
Und hinterher kam ein so langer Zug von Leuten, daß ich nie hätt’ glauben können, daß je der Tod so viele hätt’ zerstört. |
55 |
Nachdem ich schon erkannt den einen oder andern, sah hin ich und gewahrt’ den Schatten jenes, der aus Erbärmlichkeit einst Großes ausschlug. |
58 |
Alsbald verstand ich und war dess’ gewiß, daß dies die Schar war jener Jammervollen, die Gott mißfallen und auch seinen Feinden. |
61 |
Diese Unselgen, die lebend nie gewesen, sie waren nackt, und heftig wurden sie gestochen von giftgen Fliegen und von Wespen, die dort waren. |
64 |
Die furchten ihnen das Gesicht mit Blut, und dieses ward, vermischt mit Tränen, aufgesogen von ekligem Gewürm zu ihren Füßen. |
67 |
Und drauf, als ich zum Schaun mich weiterwandte, sah Leute ich am Ufer eines Flusses. Ich sagt’: «Gewähre, Meister, mir, zu wissen, |
70 |
Wer jene sind und welches das Gesetz, das so sie eilen läßt zur Überfahrt, wie ich erkenne in dem schwachen Licht.» |
73 |
Und er zu mir: «Gekündet soll’s dir werden, wenn wir anhalten werden unsre Schritte am traurigen Gestad des Acheron.» |
76 |
Da senkte ich beschämt die Augen nieder, und fürchtend, daß mein Sprechen ihm mißfiele, enthielt ich mich der Rede bis zum Fluß. |
79 |
Da näherte sich uns in einem Kahne ein Greis, von urzeitaltem Haare weiß, der rief: «Weh euch, verachtungswürdge Seelen! |
82 |
Hegt keine Hoffnung, je zu sehn den Himmel. Ich komm’, ans andre Ufer euch zu führen, in ewge Nacht, in Hitze und in Kälte. |
85 |
Und du dort drüben, du lebendge Seele, hebe dich weg von diesen, die schon tot sind!» Doch als er sah, daß ich nicht weichen wollte, |
88 |
Sprach er: «Auf andrem Weg, durch andre Häfen, nicht hier, kommst du zur Überfahrt ans Ufer, dich muß ein leichtrer Kahn hinübertragen.» |
91 |
Der Führer rief: «Charon, laß dich’s nicht grämen, man will es so an jenem Ort, wo man das, was man will, auch kann, mehr frage nicht!» |
94 |
Nun schwiegen stille die behaarten Wangen des Fährmanns auf dem dunkeltrüben Teich, der Flammenräder um die Augen hatte. |
97 |
Doch jene Seelen, die da nackt und müde, sie wechselten die Farb und ihre Zähne klappten, als kaum vernommen sie die harten Worte. |
100 |
Sie fluchten Gott und fluchten ihren Ahnen, dem menschlichen Geschlecht, dem Ort, der Zeit, dem Samen ihres Samens und der Väter. |
103 |
Dann zogen alle weiter, heftig weinend, zusammen hin zum unglückselgen Ufer, das jedes Menschen harrt, der Gott nicht fürchtet. |
106 |
Charon, der Dämon mit den Feueraugen, winkt sie herbei; er nimmt sie alle auf; mit seinem Ruder schlägt er den, der zögert. |
109 |
So, wie zur Herbsteszeit die Blätter fallen, eines ums andre, bis der dürre Ast der Erde wiedergab sein ganzes Laub, |
112 |
So tat auch hier der schlechte Same Adams; sie warfen einer nach dem andern sich vom Ufer, wie der Vogel folgt dem Lockruf. |
115 |
So ziehn sie durch die braunen Wogen fort, und eh sie drüben wieder ausgestiegen, hat hier sich eine neue Schar versammelt. |
118 |
«Mein Sohn», sprach freundlich da zu mir der Meister, «sie, die gestorben sind in Gottes Zorn, sie kommen hier von jedem Land zusammen; |
121 |
Den Fluß zu überqueren eilen sie, es spornt sie göttliche Gerechtigkeit, so daß die Furcht sich wandelt in Verlangen. |
124 |
Nie setzt hier über eine gute Seele; wenn also Charon deinetwegen klagt, magst du ersehn, was diese Klag bedeutet.» |
127 |
Kaum hatt’ er dies gesprochen, als das düstre Feld erbebte so gewaltig, daß der Schrecken in der Erinnrung noch in Schweiß mich badet. |
130 |
Im tränenreichen Land hob sich ein Wind, und dieser ließ ein rotes Licht aufleuchten, das aller meiner Sinne mich beraubte, |
133 |
Und ich sank hin wie der, den Schlaf befällt. | 136 |
Vers 93 «Ein leichtrer Kahn»: das ist ein Hinweis darauf, daß Dante nach dem Tod den Kahn besteigen wird, der die für das Purgatorio bestimmten Seelen über das Meer zum Läuterungsberg trägt. Dante weissagt sich hier selber, daß er nach dem Tode nicht in die Hölle versetzt wird, sondern für die Seligkeit bestimmt ist. Diese Prophezeiung wird noch ausdrücklich in Vers 129 von Vergil bestätigt.
Vers 95/96 Diese Verse kehren oft wieder im Inferno, jedesmal dann, wenn die Hölle Widerstand zu leisten versucht.
Vers 122 «In Gottes Zorn» bedeutet: Ohne ihre Sünden bereut zu haben, da echte Reue, auch wenn sie erst im letzten Augenblick empfunden wird, den Sündern den Weg ins Purgatorio öffnet.