Band 550
Herausgegeben von Bernd Leplow und Maria von Salisch
Begründet von Herbert Selg und Dieter Ulich
Diese Taschenbuchreihe orientiert sich konsequent an den Erfordernissen des Bachelorstudiums, in dem die Grundlagen psychologischen Fachwissens gelegt werden. Jeder Band präsentiert sein Gebiet knapp, übersichtlich und verständlich!
H. E. Lück/S. Guski-Leinwand
Geschichte der Psychologie
D. Ulich/R. Bösel
Einführung in die Psychologie
K. Rentzsch/A. Schütz
Psychologische Diagnostik
J. Schiebener/M. Brand
Allgemeine Psychologie 1
D. Ulich/P. Mayring
Psychologie der Emotionen
F. Rheinberg/R. Vollmeyer
Motivation
U. Ehlert/R. La Marca/E. A. Abbruzzese/U. Kübler
Biopsychologie
J. Kienbaum/B. Schuhrke
Entwicklungspsychologie der Kindheit
T. Faltermaier/P. Mayring/W. Saup/P. Strehmel
Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters
H. M. Trautner
Allgemeine Entwicklungspsychologie
L. Laux
Persönlichkeitspsychologie
T. Greitemeyer
Sozialpsychologie
R. Guski
Wahrnehmung
F. J. Schermer
Lernen und Gedächtnis
H.-P. Nolting/P. Paulus
Pädagogische Psychologie
J. Felfe
Arbeits- und Organisationspsychologie, Bd. 1 und 2
L. v. Rosenstiel/W. Molt/B. Rüttinger
Organisationspsychologie
T. Faltermaier
Gesundheitspsychologie
S. Trepte/L. Reinecke
Medienpsychologie
D. Köhler
Rechtspsychologie
G. Felser
Konsumentenpsychologie
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7., vollständig überarbeitete Auflage 2014
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ISBN 978-3-17-026141-9
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Als erster Band der Reihe Grundriss der Psychologie behandelt die vorliegende Ausgabe Strömungen, Schulen und Entwicklungslinien der Psychologie. Wer sich mit der Geschichte der Psychologie beschäftigt, wird schnell den Wert dieser Beschäftigung erkennen: Namen und Begriffe erhalten Bedeutung und Tiefe, Zusammenhänge werden erkannt. Aber die Geschichte der Psychologie kann noch mehr leisten. Sie kann in der Psychologie Versäumnisse, Fehlentwicklungen und zu Unrecht in Vergessenheit geratene Ideen, Werke und Urheber herausstellen und damit zur Gewissensbildung der Fachentwicklung beitragen. So kann Psychologiegeschichte ein tieferes Verständnis für die Gegenwart ermöglichen. Leitfragen lauten hierzu: Woher kommen zum Beispiel psychologische Tests? Warum hat die Psychoanalyse in psychologischen Studiengängen nach wie vor eine randständige Bedeutung? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass der Beruf »Psychologe« entstand? Welche politische Bedeutung hatte die Psychologie im Verlaufe des 20. Jahrhunderts? – Dies alles sind Fragen, auf die die neuere Geschichte der Psychologie Antworten gibt.
In der vorliegenden Einführung werden die wichtigsten Strömungen der Psychologie dargestellt, wobei die Geschichte der Psychologie in Deutschland etwas stärker herausgestellt wird. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass für den Aufbau im Wesentlichen eine ideengeschichtliche Darstellung der Schulen und Richtungen in annähernd chronologischer Abfolge gewählt wurde. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung des 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zu gegenwärtigen Strömungen der Psychologie. Dieses Vorgehen erschien im Interesse besserer Lesbarkeit gerechtfertigt, wurde jedoch – wo immer möglich und nötig – um Betrachtungen gesellschaftlich-politischer Zusammenhänge erweitert.
Das in den letzten Jahren gewachsene Interesse an der Geschichte der Psychologie lässt sich nun auch an diesem Buch ablesen: Es zählt an vielen Universitäten zur Standardlektüre und liegt nunmehr in siebter Auflage vor. Das Buch ist in chinesischer, italienischer, polnischer und russischer Übersetzung erschienen. Die vorliegende Auflage ist gegenüber der letzten aktualisiert und um die Geschichte mehrerer Teildisziplinen erweitert worden. Formal sei noch darauf hingewiesen, dass wir der flüssigeren Lesbarkeit wegen die maskuline Schreibweise gewählt haben. In Zitaten wurde überdies die jeweilige Originalrechtschreibung übernommen.
Vielen Kolleginnen und Kollegen sind wir für Hinweise und Verbesserungsvorschläge zu Dank verpflichtet. Carl Friedrich Graumann, Theo Herrmann und Ernst G. Wehner haben uns jeweils bis zu ihrem Tod in vielen Aspekten zur Geschichte der Psychologie angeregt und unterstützt. Ihnen gilt ebenso unser Dank.
Die vorliegende 7. Auflage ist die erste in Co-Autorenschaft, die sich durch das gemeinsame Interesse an der Geschichte der Psychologie begründet hat und ihren Anfang in fruchtbaren Diskussionen der vergangenen zehn Jahre hat. Die unkomplizierte Zusammenarbeit hat den Band um einiges erweitert – wie auch unsere individuellen Erfahrungen.
Hagen/Bad Honnef im Juni 2014
Helmut E. Lück/Susanne Guski-Leinwand
Die Psychologiegeschichte hat seit etwa Mitte der 1980er Jahre auch in Deutschland einen Aufschwung erlebt, der nicht vorherzusehen war. Man könnte geradezu von einer Wende sprechen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Psychologie in den Jahrzehnten zuvor ein relativ wenig beachtetes Randgebiet war: Gegenstand von anekdotischen Rückbesinnungen, Nekrologen und Festreden. Nur gelegentlich entstanden größere psychologiegeschichtliche Abhandlungen. Psychologiegeschichte war kein Prüfungsfach im Rahmen der Ausbildung von Diplompsychologen. Im Bachelorstudiengang Psychologie wird Psychologiegeschichte nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie gelehrt. Dass von einer Beschäftigung mit der Psychologiegeschichte kräftige Impulse auf das Fach selbst ausgehen können, hätte die Mehrheit der Psychologen vor ein paar Jahren als fragwürdig abgetan. Das Verhältnis der Psychologen zu ihrer Fachgeschichte war – und ist z. T. auch heute noch – distanziert.
Diese Distanz zur Geschichte der eigenen Wissenschaft kommt nicht von ungefähr. Sie lässt sich selbst wiederum historisch erklären: Die Psychologie hat geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Wurzeln. In dem Maße, wie Psychologen ein Verständnis ihrer Disziplin entwickelten, das an die Methodologie der Naturwissenschaften angelehnt war, erschienen ihnen frühere Forschung als überholt und die Beschäftigung mit ihr als mehr oder weniger überflüssig. In den letzten Jahrzehnten haben wir in der Psychologie eine Wiederbesinnung auf die geisteswissenschaftliche Tradition der Psychologie erlebt (vgl. z. B. Jüttemann, 1986), einschließlich einer Neubesinnung auf die Psychologiegeschichte mit kritischer Reflexion und multiperspektivischer Untersuchung derselben (Guski-Leinwand, 2010).
Dieser Umschwung hat verschiedene Gründe: Ein Grund ist methodischer Art: Es hat sich immer deutlicher die Unzulänglichkeit des empiristischen Denkens gezeigt. Kritische Psychologen haben früh auf Defizite der vorherrschenden experimentellen Psychologie aufmerksam gemacht und auf die historische Bedingtheit des Handelns verwiesen.
Aber auch von anderer Seite kamen starke Impulse für eine Neubesinnung auf die Psychologiegeschichte. So haben Wissenschaftshistoriker wie Thomas Kuhn (1962) und andere versucht, Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung von Wissenschaften aufzuzeigen. Nach Kuhn werden längere Phasen sog. Normalforschung durch »Krisen« erschüttert. Das bisherige Forschungsparadigma wird durch ein neues in Frage gestellt und schließlich abgelöst. Das Provozierende an Kuhns Überlegungen ist der Hinweis auf die Irrationalität wissenschaftlichen Handelns. Forscher halten nicht nur in Zeiten der Normalforschung an ihrem Paradigma fest, weil sich damit Probleme lösen lassen, sondern sie verteidigen u. U. eisern ihr lieb gewordenes Erklärungsprinzip, wenn sich die Schwäche des Paradigmas bereits deutlich gezeigt hat. So sehr diese beschriebenen Verläufe kritisiert wurden: Nach anfänglichen Widerständen ist die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Wissenschaftstheorie ins Bewusstsein gerückt. Dies ist nun ein zweiter Grund für die intensivere Beschäftigung mit der Geschichte von Wissenschaftsdisziplinen – so auch der Psychologie.
Ein dritter Grund für ein lebhafter gewordenes Interesse an der Wissenschaftsgeschichte leitet sich von den Tendenzen in den Geschichtswissenschaften selbst ab. Geschichtswissenschaft war in der Vergangenheit meist auf politisches Handeln von Staatsmännern oder anderen Persönlichkeiten bezogen – und Geschichtsunterricht in der Schule auf entsprechende historische Ereignisse beschränkt. Dem hat die neuere französische Gesellschaftsgeschichte (sog. Schule der Annales, benannt nach der Zeitschrift Annales: Économies, Sociétés, Civilisations) dieser »Geschichte der Großen« eine »Geschichte der Vielen« oder gar eine »Geschichte von unten« entgegengesetzt und z. B. in Form der mündlichen Befragung von Zeitzeugen (Oral history) zunehmend Gebrauch von Methoden der empirischen Sozialforschung gemacht ( Kap. 1.5.4). In den letzten Jahren hat diese »Geschichte von unten« geradezu den Charakter einer Expedition bekommen, in deren Rahmen Laien »dort graben, wo sie stehen«, nach der Geschichte eines Ortsteils, eines Vereins, einer Straße, einer Fabrik oder eines Berufsstandes.
Auch Psychologiegeschichte kann verschieden betrieben werden und verschiedenen Zwecken dienen. Diente sie früher häufig der Rechtfertigung eigenen Handelns, so hat die neuere psychologiegeschichtliche Forschung mit ihrer Betonung der gesellschaftlichen Bedingungen psychologischen Handelns in Forschung, Lehre und Anwendung der Geschichte der Psychologie einen neuen und höheren Wert beigemessen. Auch wurde so die Rolle der Psychologie für die Gesellschaft reflektiert. Unsere ursprüngliche Frage, warum denn eine Beschäftigung mit der Psychologiegeschichte sinnvoll sein kann und was man denn aus ihr lernen könne, muss daher zur Frage werden, wie man denn Psychologiegeschichte betreiben sollte, dass man aus ihr lernen kann.
Psychologen sind – wie gesagt – lange Zeit etwas nachlässig mit der Geschichte ihrer Disziplin umgegangen (vgl. Graumann, 1983). Dies hat zur Verbreitung von Irrtümern beigetragen. Drei Beispiele sollen zeigen, dass die historische Realität gelegentlich anders war, als man in Psychologievorlesungen hören oder in Psychologiebüchern lesen kann.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Verhältnis der Psychologie zum Nationalsozialismus so gut wie gar nicht thematisiert – weder von Psychologen noch von Historikern. Wohl hatte ein Psychologiestudent gewisse Vorstellungen von der Wehrmachtpsychologie, vom Verbot der Psychoanalyse in der Nazizeit und von der erzwungenen Emigration bedeutender jüdischer Psychologen. An einigen Universitäten war aufmerksamen Psychologiestudenten auch nicht entgangen, dass ein Teil der psychologischen Fachliteratur aus dem Zeitabschnitt 1933–1945 aus der Bibliothek des psychologischen Instituts verschwunden war. Doch wurde das Verhältnis der Psychologie zum Nationalsozialismus kaum ernsthaft thematisiert; man kann von einem Tabu sprechen (Geuter, 1980, S. 6).
Im Allgemeinen waren Lehrende und Lernende froh, diese »dunkle« Zeit hinter sich zu haben. Weit verbreitet war die Auffassung, dass die psychologische Forschung unter dem Nationalsozialismus zu leiden hatte; Nationalsozialisten seien überhaupt gegen die Psychologie eingestellt gewesen, denn z. B. sei ja die Psychoanalyse verboten worden und schließlich sei ja sogar die Wehrmachtpsychologie aufgelöst worden, kurz: Die Psychologie habe im Nationalsozialismus ihren Niedergang erlebt, von dem sie sich nur schwer erholt habe.
Diese Auffassungen wurden jahrzehntelang fast unwidersprochen verbreitet. Erst Anfang der 1980er Jahre erfolgten die ersten umfangreicheren Recherchen und kritischen Auseinandersetzungen mit der Psychologie im Nationalsozialismus (Geuter, 1984, Graumann, 1985). Diese Untersuchungen haben gezeigt, dass über die Rolle der Psychologie im Nationalsozialismus bislang vielfach Halbwahrheiten verbreitet worden waren und dass dies z. T. auch absichtlich geschehen war. Die historische Wirklichkeit ist – wie so oft – recht komplex, und daher sollen hier nur wenige Fakten komprimiert dargestellt werden.
Schon bald nach der Machtergreifung und vor Inkrafttreten des Gesetzes »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 07.04.1933, wonach Beamte sogenannter »nichtarischer Abstammung« in den Ruhestand zu versetzen seien, fanden Denunziationen gegen jüdische Psychologen in einschlägigen NS-Zeitungen statt. Auslöser war die Planung des XIII. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (Geuter, 1979). Von den Folgen des Gesetzes waren zunächst fünf von insgesamt fünfzehn Psychologieprofessoren betroffen: Adhemar Gelb, David Katz, Wilhelm Peters, William Stern und Max Wertheimer. Ferner wurde Otto Selz, Professor an der Handelshochschule Mannheim, entlassen. Selz emigrierte in die Niederlande und wurde später dort verhaftet, nach Auschwitz verschleppt und ermordet. Kurt Lewin kam seiner Amtsenthebung durch Emigration in die USA zuvor, 1935 emigrierte auch der nichtjüdische Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler, nachdem er sich nationalsozialistischer Eingriffe in sein Berliner Institut nicht mehr länger erwehren konnte. Der Münchener Professor Kurt Huber gehörte der Widerstandsgruppe Weiße Rose an, wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Viele weitere Professoren und Dozenten, jüdische Mitarbeiter an psychologischen Instituten, dortige Assistenten, Doktoranden und Studenten waren ebenfalls durch das Gesetz betroffen und in den Folgezeiten ebenso verfolgt bzw. existenziell bedroht. Die wenigen Zeugnisse jüdischer Psychologen, die Exil, Ghetto oder Haft im Konzentrationslager überlebt haben, sind bisher nicht zum Ausgangspunkt weiterer psychologischer Forschung nach den geistigen Wurzeln dieser Menschenrechtsverletzung geworden (vgl. hierzu z. B. Blumenfeld, 1936; Stern, E., 1937; Utitz, 1947; Kaufhold, 2000). Dass sich durch die Agitationen gegen jüdische Psychologen sehr früh 1933 ein sog. »wissenschaftlicher Antisemitismus« (Levinstein, 1896) ins Werk gesetzt hat, wurde erst spät erkannt und so benannt (Guski-Leinwand, 2010, S. 210 ff.).
Diesem Aderlass der deutschen Psychologie stand aber – quantitativ gesehen – ein Aufschwung der Psychologie gegenüber. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden die psychologischen Institute ausgebaut, einige neue Professuren eingerichtet oder andere, nicht besetzte Lehrstühle in psychologische Professuren verwandelt. Unter nationalsozialistischer Regierung erfolgte zudem ein gewaltiger Ausbau der Wehrmacht und der Wehrmachtpsychologie. Geuter (1986, S. 586 f.) nannte dazu folgende Planstellenzahlen für Psychologen in Heer und Marine:
1935: 69 Planstellen
1937: 127 Planstellen
1938: 170 Planstellen
Die Luftwaffe beschäftigte 1942 etwa 150 Psychologen. Gab es bis dahin kein klares Berufsbild und dementsprechend auch keinen berufsbildenden Studiengang für Psychologen, so erforderte der Bedarf an Wehrmachtpsychologen die Einrichtung einer entsprechenden Ausbildung. Für die Berufung zum Psychologieprofessor wurde die Erfahrung in Wehrmachtpsychologie, besonders in Diagnostik wichtig. In Form der Diplom-Prüfungsordnung für Psychologen, die 1941 in Kraft trat (vgl. dazu Lück et al., 1987, S. 114 ff. u. 145; Krampen, 1992), war ein entscheidender Schritt in Richtung auf die Professionalisierung der Psychologie getan, jedoch auch ihre prinzipielle Dienstbarmachung für das damalige politische System ablesbar geworden.
Der damalige Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie mit Felix Krueger im Vorsitz verhielt sich mit vorauseilendem Gehorsam und auffallend früher Systemtreue gegenüber dem Nationalsozialismus. Aus den Vorstandsreihen wurden die Agitationen gegen jüdische Psychologen als Kollegen oder Bürger nicht vereitelt oder verurteilt. Viele Psychologen stellten ihre Fähigkeiten in den Dienst des neuen Systems (Retter, 2001; Traxel, 2004), bei einigen lässt sich die Systemnähe auch eindeutig an ihren Publikationen erkennen (z. B. Hippius, 1943). Inwieweit Psychologen bei nationalsozialistischer Propagandaarbeit, in den Umsiedelungs- und Vertreibungsmaßnahmen systematisch eingesetzt oder gar bei Deportationen oder in Konzentrationslagern aktiv z. B. bei der sogenannten Selektion mitgewirkt haben, bedarf noch umfassender Untersuchung. Inzwischen gibt es allerdings Quellen, die sehr deutlich zeigen, dass Psychologinnen und Psychologen nicht nur diagnostisch-gutachterlich bei der Entscheidung zur Adoption von Waisenkindern im besetzten Polen tätig waren, sondern dass auch diagnostische Untersuchungen von Psychologinnen und Psychologen bei der »Kindereuthanasie« eine Rolle spielten, d. h., ob geisteskranke und retardierte Kinder getötet werden sollten. Benetka und Rudolph (2008) haben anhand wiedergefundener Krankenakten das Schicksal einzelner Kinder verfolgt und die Rolle von Psychologinnen und Psychologen an der Einrichtung Am Spiegelgrund untersucht. Ergänzend muss außerdem festgestellt werden, dass jüdische Psychologen seit 1933 überwiegend keine Teilhabe mehr an der wissenschaftlichen Gemeinschaft (wie z. B. Kongressteilnahmen) hatten. Auch wurden ihre Arbeiten nicht mehr gleichwertig hinzugezogen. Ihr Leid war in den nicht-jüdischen akademischen Kreisen kaum Thema.
Lange galt die Auffassung, die Psychologie als Disziplin sei von Nationalsozialisten verfolgt worden. Als Beweis wurde häufig die überraschende Entscheidung aus dem Jahre 1942 zur Auflösung der Heeres- und Luftwaffenpsychologie herangezogen. Der Hauptgrund für die Auflösung ist wohl darin zu sehen, dass eine differenzierte Prognose für die Kriegstauglichkeit nicht mehr nötig war. Die Verluste bei Heer und Luftwaffe waren außerdem inzwischen so groß, dass eine weitere Auslese kaum sinnvoll erschien. Was das Verbot der Psychoanalyse betrifft, so ist auch hier eine genauere Sicht notwendig. Es stimmt, dass die Schriften des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, schon im Mai 1933 zusammen mit Schriften anderer, von den Nationalsozialisten diskriminierter Autoren öffentlich verbrannt wurden und dass Freud, ebenso wie vielen seiner jüdischen Schüler, nach dem »Anschluss« Österreichs nur die Emigration verblieb, um einem noch härteren Schicksal zu entgehen. Das Wiener Psychoanalytische Institut und seine Einrichtungen wurden liquidiert und die Psychoanalyse wurde offiziell verboten. Es stimmt aber nicht, wenn man behauptet, Psychoanalyse sei als Therapie im Dritten Reich nicht mehr praktiziert worden. Nach Auflösung des Psychoanalytischen Instituts wurde in Berlin 1936 das »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« gegründet, dessen Aufgabe die Entwicklung einer deutschen »Seelenheilkunde« war. In diesem Institut wurden die verschiedenen tiefenpsychologischen Richtungen zusammengefasst und unter medizinischer Leitung praktiziert. Somit ist die (von Psychoanalytikern lange gepflegte) Behauptung von der »Zerschlagung« der Psychoanalyse nicht ganz haltbar (vgl. dazu Lockot, 1985), wenngleich hinzugefügt werden muss, dass die Tiefenpsychologie nicht identisch mit der Psychoanalyse war, sondern zur damaligen Zeit (ab 1941 auch als Fach in der Diplom-Prüfungsordnung) mit weltanschaulichen Inhalten verknüpft und auf biologischer Basis angesiedelt war (Elliger, 1986, S. 145 ff.).
Wenn behauptet wird, die wissenschaftliche Psychologie in Deutschland habe zur Zeit des Nationalsozialismus ihre Qualität eingebüßt und den Anschluss an das internationale Niveau verloren, so ist dies sicher richtig (wenngleich es Hinweise darauf gibt, dass dieser Prozess schon vor 1933 begann). Die Paradigmenwechsel, die dafür grundlegend waren, sind bisher noch wenig untersucht worden (vgl. Guski-Leinwand, 2013). Dem Qualitätsverlust steht jedoch ein beachtlicher materieller Aufschwung und Ausbau der Psychologie als Beruf gegenüber. (Diese Aussage sollte natürlich nicht als Rechtfertigung nationalsozialistischer Ideologie missverstanden werden.) Eindeutig falsch ist aber die Aussage, Nationalsozialismus und Psychologie als akademische Disziplin seien unvereinbar gewesen.
Wer eine psychologische Fachzeitschrift aufschlägt, ein psychologisches Institut betritt oder eine psychologische Einführungsvorlesung hört, muss den Eindruck gewinnen, die Psychologie sei eigentlich immer schon eine experimentelle Wissenschaft gewesen. Wenn überhaupt auf ältere Autoren verwiesen wird, so werden gern Namen wie Gustav Theodor Fechner (1801–1887), Wilhelm Wundt (1832–1920) oder John B. Watson (1878–1958) genannt. Es entsteht dann leicht der Eindruck einer kontinuierlichen und logischen Entwicklung der Wissenschaftsdisziplin Psychologie. Dies ist eine weit verbreitete Fehleinschätzung.
Immer hat es in der Psychologie nichtexperimentelle und spekulative Anteile gegeben. Um gleich bei den drei erwähnten Autoren zu bleiben: Fechner hat mehrere Bücher mit mystisch-spekulativem Charakter verfasst; Wilhelm Wundt hat mehr als zwanzig Jahre seines Lebens fast ausschließlich auf die Entwicklung einer nichtexperimentellen Völkerpsychologie verwendet und John B. Watson hat populärwissenschaftliche Abhandlungen und sogar Utopien verfasst – wir kommen darauf zurück.
Es kommt nicht von ungefähr, dass große geisteswissenschaftliche Anteile an der Vergangenheit der Psychologie, insbesondere aber jene Richtungen in der Psychologie, die sich aus heutiger Sicht als Fehlschläge erwiesen haben, gern ausgeblendet, vergessen und vernachlässigt werden. So wird selbst mancher ausgebildete Psychologe erstaunt sein zu erfahren, dass eine experimentelle Psychologie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg keine Selbstverständlichkeit war, sondern von Psychologieprofessoren als überholt angesehen wurde (vgl. Traxel, 1985, S. 105 ff.). Nicht wenige deutsche Psychologieprofessoren hielten etwa Anfang der 1950er Jahre die in den USA dominierende experimentelle Psychologie für rückständig und für überwunden. Erst einer nachfolgenden Psychologengeneration gelang Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre die »Wiederbelebung der experimentellen Psychologie« (vgl. Traxel, 1985, S. 105 ff.; Geuter, 1985). In diesem zeitlichen Zusammenhang sind auch die Ereignisse um den XVI. Internationalen Kongress für Psychologie in Bonn 1960 bedeutsam: Hier wurde erstmals Kritik an einzelnen Lehrstuhlinhabern laut, welche im nationalsozialistischen Deutschland einschlägig publiziert hatten, aber nach dem Krieg hierzu schwiegen (Lück, 2004a).
Unser drittes Beispiel für einen historischen Irrtum betrifft ein ganz anderes Gebiet: Einer weit verbreiteten Annahme zufolge ist die Psychoanalyse eine deutsch-österreichische Angelegenheit, die nach der freiwilligen und erzwungenen Emigration bedeutender Psychoanalytiker besonders in den USA begeistert aufgenommen wurde.
Über Psychoanalyse in Russland und in anderen osteuropäischen Ländern war lange Zeit in der westeuropäischen Literatur nur wenig zu finden. Selbst Autoren, die sich in der Geschichte der Psychoanalyse gut auskennen, haben übersehen, dass es in der UdSSR eine Blütezeit der Psychoanalyse gab, die von der sowjetischen Regierung nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert wurde. Siebenundvierzig Arbeiten Freuds wurden ins Russische übersetzt, die meisten erst nach der Oktoberrevolution. Im August 1921 wurde ein psychoanalytisches Kinderheimlaboratorium in Moskau eröffnet. Auch andere Einrichtungen, Veröffentlichungen und die Gründung psychoanalytischer Vereinigungen an verschiedenen Orten in Russland (vgl. Nitzschke, 1989) lassen erkennen, dass die Psychoanalyse in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland eine Blütezeit erlebte, die ihr schnelles Ende durch den Stalinismus fand.
Diese frühe Blütezeit hatte vielleicht sehr individuelle Gründe: Möglicherweise war es Lenin selbst, der sich für die Übersetzung wichtiger Arbeiten Freuds ins Russische eingesetzt hat (vgl. Tögel, 1988). Zwischen 1900 und 1917 verbrachte Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) mehr als 13 Jahre in Westeuropa. Er nutzte jede Gelegenheit zum Besuch größerer Bibliotheken. Lenin war mit den wichtigsten geistigen Strömungen seiner Zeit gut vertraut. Es ist daher wahrscheinlich, dass Lenin zumindest gewisse Vorstellungen von der Psychoanalyse hatte. Aber mehr noch: Leo Trotzkij (1879–1940), später Mitglied des Zentralkommitees der KPdSU, war mit wichtigen Strömungen der Psychoanalyse schon früh vertraut und war ein Befürworter der Psychoanalyse. Schließlich ist Lenins Frau Nadeshda Krupskaja zu nennen, die an Pädagogik sehr interessiert war und mit ziemlicher Sicherheit mit Freuds entwicklungspsychologischen Gedanken vertraut war. Drei Bücher Freuds hatte Lenin in seiner eigenen Bibliothek (Tögel, 1988). Frühe Psychoanalyse in Russland – ein noch wenig erforschtes Gebiet.
Unsere drei Beispiele haben gezeigt, dass es irrtümliche Annahmen gibt, die z. T. weit verbreitet sind. Sie haben auch gezeigt, welcher Art Irrtümer häufig sind: Es wird von der gegenwärtigen Situation in die Vergangenheit zurückextrapoliert, ohne zu bedenken, dass Entwicklungen keineswegs geradlinig verlaufen. Weil in Russland kaum Psychoanalyse betrieben wurde, denkt man, dies sei schon immer so gewesen.
In allen drei Beispielen wurde versucht, eine Frage zur Vergangenheit mit Belegen zu beantworten. Weder die Fragen noch die Belege zur Beantwortung der Fragen stellen sich »von selbst« ein. Es gibt nicht »die Vergangenheit« oder »die historische Wahrheit«, von der man auszugehen hat, nicht einmal eine »biographische Wahrheit« (Bruder, 2003). Erst durch eine begründete Fragestellung in einem theoretischen Kontext wird geschichtswissenschaftliche Arbeit möglich. Wie sonst sollte aus der unendlichen Fülle von Daten (Archivalien, Veröffentlichungen, Dokumente, Lebenserinnerungen, Gesetze usw.) eine Orientierung entstehen?
Vielleicht haben Sie als Leser/Leserin an dieser Stelle Lust, das Leben und Werk einer/eines Ihnen vielleicht noch unbekannten Psychologin/Psychologen, wie z. B. Egon Brunswik, Rosa Katz, William Stern oder Carl Stumpf zu erforschen. Sie wollen z. B. in einer Arbeit »Leben und Werk« dieser Psychologin/dieses Psychologen darstellen. Wie gehen Sie vor? Es empfiehlt sich, eine Reihe von Fragen zusammenzustellen, die Ihnen bedeutsam erscheinen und dann für jede Frage kurz zu begründen, warum Sie Ihnen sinnvoll erscheint. Stellen Sie anschließend eine Reihe von möglichen historischen Quellen zusammen, durch die Sie zur Beantwortung Ihrer Fragen gelangen möchten. Sollte Ihnen diese Übungsaufgabe als noch zu schwer erscheinen, so haben Sie vielleicht Lust, sich das entsprechende Handwerkszeug anzueignen (vgl. z. B. von Brandt, 2007). Wir kommen später auf diese Aufgabe zurück.
Durch diese Übungsaufgabe ist sicher schon deutlich geworden, dass man auf eine Vielzahl von Fragen stoßen kann: nach ethnischer Zugehörigkeit, sozialer Herkunft, Familie, Begabung, Persönlichkeitsstruktur, Schulbildung, Interessen, nach akademischen Lehrern, nach beruflichem Werdegang, Lebens- und Arbeitsstil, wissenschaftlichen Leistungen, Anerkennung durch die Fachwelt, Einfluss auf Fachdisziplin, Berufsstand, beruflicher Praxis usw. Eine solche Aufgabe ist methodisch der Wissenschaftspsychologie zuzuordnen, welche auch die Motivation des Forschers untersucht. Lange Zeit haben Historiker geglaubt, man müsse nur alle erreichbaren Fakten sammeln, sortieren und gewichten, um die »historische Wahrheit« zu erlangen, indem man zeigt, »wie es war«, d. h. die Fakten für sich sprechen lässt. Diese Auffassung vertrat z. B. Leopold von Ranke (1795–1886), ein bedeutender Vertreter der sog. Historischen Schule des 19. Jahrhunderts. Dieser an Realitäten orientierte Historismus erhob den Anspruch, exakte Wissenschaft zu sein. Gegenüber einer moralisierenden Geschichtsbetrachtung war diese positivistisch geprägte Geschichtswissenschaft gewiss ein Fortschritt. Genauer besehen mass man jedoch feststellen, dass es die historische Wahrheit nicht gibt, sondern dass Geschichte immer Rekonstruktion des Vergangenen ist, wobei diese Rekonstruktion mit gutem Gewissen auch als Konstruktion bezeichnet werden kann, da stets eine bestimmte Perspektive und Fragestellung die Arbeit bestimmt. Johann Gustav Droysen (1808–1884) und andere Historiker waren es, die schon im 19. Jahrhundert darauf aufmerksam machten, dass wir Menschen nur durch Einfühlen und Verstehen Zugang zu historischen Ereignissen gewinnen können. Der bekannte Satz, jede Zeit müsse sich ihre Geschichte neu schreiben, kann auch so verstanden werden, dass in jeder Epoche andere Fragen an die Geschichte gestellt und historische Fakten immer wieder anders verstanden oder gar gedeutet werden, wie z. B. als »Geschichte des Seelenlebens menschlicher Gemeinschaften« (Lamprecht, 1899, S. 17).
Eingangs wurden schon verschiedene Funktionen der Psychologiegeschichtsschreibung genannt. So wurde gesagt, die Psychologiegeschichte habe früher oft der Rechtfertigung der Wissenschaftsdisziplin Psychologie gedient (besonders bei heiklen Fragen nach der politischen Rolle). Die Methoden der Historiographie sind von den Funktionen gewiss nicht unabhängig zu sehen. Wer Geschichte lediglich als kontemplative Rückbesinnung begreift, wird sie vor allem als Darstellung »bedeutender« Ereignisse oder »großer« Persönlichkeiten ansehen und den Kontext ausblenden, ohne den jedoch keine Aufarbeitung möglich ist (Traxel, 2004, S. 22).
Lange Zeit war es üblich, Geschichte im Zusammenhang mit Alexander, Cäsar, Karl dem Großen (!), Bismarck oder Napoleon zu sehen. Hierzu passt die weit verbreitete Meinung, Geschichte würde von »großen Männern« (Great Men, Carlyle, 1840) gemacht. Abgesehen davon, dass bei einer solchen Bemerkung die Frauen wieder einmal vergessen wurden, muss man sich fragen, ob historische Entwicklungen einzelnen »großen« Personen zuzuschreiben sind oder ob es nicht ein Zusammenwirken Vieler ist.
Gewiss ist auch nicht zu prüfen, ob eine andere Person in gleicher historischer Situation das Gleiche oder Vergleichbares getan hätte. Doch sprechen auch in der Psychologiegeschichte viele Argumente gegen diesen sog. »Great Men«-Ansatz. Eine Theorie, eine Forschungshypothese, die Terminologie und ein mögliches Anwendungsfeld fallen nicht aus dem Himmel: Pawlow hatte Mitarbeiter, Freud bezog sich – freilich ohne sie immer zu zitieren – auf Schülerinnen und Schüler.
Und doch ist der weitaus größte Teil psychologiegeschichtlicher Darstellungen personalistisch geprägt. Gemeint sind nicht nur einzelne Autobiografien, Autobiografiesammlungen (z. B. Pongratz, Traxel und Wehner, 1972, 1979; Wehner, 1992; Lück, 2004c), Biografien und Biografiesammlungen (z. B. v. Bonin, 1983; Galliker, Klein & Rykart, 2007; Volkmann-Raue & Lück, 2011; Herrmann & Zeidler, 2012), sondern umfassende Abhandlungen zur Geschichte der Psychologie oder ihrer Teilgebiete auf der Grundlage des Lebenswerks einzelner Personen. Die differenzierteste Psychologiegeschichte dieser Art ist Edwin G. Borings History of Experimental Psychology (1929). Borings Darstellung der Geschichte der experimentellen Psychologie ist u. a. wegen ihres personalistischen Ansatzes sehr kritisiert worden. Gleichwohl bleibt sie eine gut recherchierte Psychologiegeschichte.
In der zweiten Auflage seiner History (1950) hat Boring versucht, stärker auf kulturgeschichtliche Strömungen Bezug zu nehmen und den psychologischen Forscher etwas weniger als »great man« und etwas mehr als Teil seiner Kultur darzustellen. Der deutsche Begriff Zeitgeist wurde nun zu Borings Lieblingsausdruck, um das Auftreten und Verschwinden psychologischer Schulen und Strömungen zu erklären. Der Versuch, die Geschichte der Psychologie jetzt stärker als Kulturgeschichte zu begreifen, war gewiss ein Fortschritt, doch liegt natürlich auch im Zeitgeist-Konzept eine Versuchung. Die Gefahr ist groß, dass der Autor den Zeitgeist immer dann wehen lässt, wenn er keine genaueren Gründe für veränderte Bedürfnisse, Einstellungen usw. benennen kann oder will.
Dies klingt ein wenig sarkastisch, obwohl es nicht so gemeint ist. Das Problem einer ideengeschichtlichen Darstellung einer Wissenschaftsdisziplin liegt aber darin, die geistigen Strömungen einer Zeit zu erkennen und zu erahnen und die Entwicklung der Disziplin aus diesen Strömungen heraus (oder im Gegensatz zu ihnen) aufzuzeigen. Für den Wissenschaftler wie den Wissenschaftshistoriker muss es im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis (DFG, 2013) um das Aufdecken der leitenden Paradigmen und Wissenschaftsauffassungen gehen.
Die Ideengeschichte ist als Teil der Kultur- und Geistesgeschichte durchweg chronologisch angelegt. Es wird aufgezeigt, wie sich z. B. eine Theorie aus den Überlegungen und Befunden von Vorgängern entfaltet hat (sog. Entfaltungskonzept). Bei der Problemgeschichte wird nun von diesem chronologischen Vorgehen abgerückt und im Interesse einer stärkeren Systematisierung von Einzelfragen (Problemen) ausgegangen. Dies hat zur Folge, dass man bei jeder Frage – wenn auch unter anderem Aspekt – wieder zu den Anfängen zurückkehren muss. Die Problemgeschichte greift dabei im Allgemeinen recht kurz, weil sie den Kontext außer Acht lässt.
Pongratz hat eine umfangreiche Problemgeschichte der Psychologie (1967) verfasst, in der er u. a. dem Unbewussten, dem Erleben und dem Verhalten in der Psychologiegeschichte nachgeht.
Der Begriff der Sozialgeschichte wird nicht ganz einheitlich gebraucht (vgl. Hobsbawm, 1984). Lange Zeit diente der Begriff nur zur Bezeichnung der Geschichte unterer sozialer Schichten und insbesondere sozialer Bewegungen. In einem zweiten, allgemeineren Sinn wird unter Sozialgeschichte die gesamte Kulturgeschichte verstanden, also praktisch »Geschichte ohne Politik«. In einer dritten, weit verbreiteten Bedeutung wird Sozialgeschichte in einem Atemzug mit Wirtschaftsgeschichte genannt.
Keine der drei Bedeutungen trifft genau den Sinn, in dem heute von Sozialgeschichte der Psychologie gesprochen wird. Die neuere Sozialgeschichte der Psychologie versteht sich als Gesellschaftsgeschichte einer Wissenschaftsdisziplin, die sich in Fragestellungen und Methoden von der Ideengeschichte dadurch abhebt, dass sie weit stärker die sozialen, insbesondere die gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Bindungen und Bedingungen psychologischer Forschung herausstellt als die traditionelle Ideengeschichte. Die neuere Psychologiegeschichtsschreibung lehnt nicht grundsätzlich ideen- oder problemgeschichtliche Betrachtungen der Disziplin Psychologie als falsch ab. Sie stellt nur noch stärker heraus, dass Psychologiegeschichte nicht nur auf isoliert denkende und handelnde Personen, auf Theorien und Forschungsergebnisse reduziert werden darf, dass sie nicht nur der Legitimation der Disziplin dienen darf, sondern durch Aufzeigen von Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Lauf der Geschichte zum Korrektiv, zu einer »Gewissensbildung« der Disziplin werden sollte. Psychologiegeschichte verliert damit den »Nutzen« der Rechtfertigung der Disziplin, aber sie leistet für die Disziplin insgesamt gesehen mehr, da sie infrage stellt, aufmerksam macht, anregt usw. Traxel (1985, S. 9 ff.) hat diese Art von Psychologiegeschichte als »aktive« Geschichte (im Gegensatz zur »kontemplativen«) bezeichnet und Beispiele dafür genannt, wie die Psychologiegeschichte dazu beitragen kann, dass die Psychologie alte Holzwege und Sackgassen vermeidet.
Jeroen Jansz und Peter van Drunen haben eine aktuelle Sozialgeschichte der Psychologie verfasst (Jansz & van Drunen, 2004). Deutschsprachige sozialgeschichtliche Darstellungen der Psychologie finden sich u. a. bei Ash und Geuter (1985) Lück u. a. (1987) sowie Maikowski, Mattes und Rott (1976). Die Sozialgeschichte der Psychologie sucht die Disziplin multiperspektivisch zu erfassen. Dies entspricht auf einer weiteren Metaebene der Wissenschaftsforschung (Krampen & Montada, 2002; Guski-Leinwand, 2010), worauf wir im folgenden Unterkapitel eingehen werden.
Man kann sagen, dass die meisten aktuellen Darstellungen der Psychologiegeschichte ideengeschichtlich und chronologisch angelegt sind, wobei die sozialgeschichtliche Betrachtung bei vielen Autoren ergänzend hinzugezogen wird (z. B. Eckardt, 2011, Schönpflug, 2013).
Der psychologiegeschichtlichen Forschung stehen grundsätzlich keine anderen Forschungsmethoden zur Verfügung als den Geschichtswissenschaften insgesamt. Aber es gibt eine deutliche Akzentsetzung dadurch, dass die Psychologie eine junge Wissenschaft ist und daher durchweg der Neueren Geschichte zuzurechnen ist.
Schon die Ahnenforschung kann interessante Aufschlüsse geben. Gemeint ist hier nicht nur die Ermittlung von Verwandtschaftsbeziehungen, sondern z. B. die Frage, wer Schüler von wem war. Hillix (1980) hat für die Psychologiedozenten einer großen amerikanischen Universität die Genealogie der Doktorväter ermittelt und daraus geschlossen, dass ca. die Hälfte aller in den USA arbeitenden Psychologen von Wilhelm Wundt »abstammen«. Dies unterstreicht den Einfluss Wundts, wenn auch kein einziger amerikanischer Psychologe heute ein Psychologieverständnis wie Wundt vertritt.
An dieser Stelle soll nicht das gesamte »Werkzeug des Historikers« (von Brandt, 2007) ausgebreitet werden. Es sollen jedoch im Folgenden die für die Psychologiegeschichte wichtigen Bereiche skizziert werden.
In einem weiten Sinn sind Quellen alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnisse über die Vergangenheit gewonnen werden können. In einem engeren Sinn sind literarische Quellen gemeint, also mündliche oder schriftliche Überlieferungen, wie Annalen, Chroniken, Biografien, Memoiren, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Fotoalben, Zeitungen, Aktennotizen, ministerielle Erlasse, Studien- und Prüfungsordnungen, Institutsberichte, Sitzungsprotokolle, Bewerbungen, Gutachten, Vorlesungsverzeichnisse usw. (Erinnern Sie sich an die Übungsaufgabe? Welche Quellen erschienen Ihnen für die gewählte Wissenschaftlerpersönlichkeit als besonders geeignet?)
Der historische Erkenntniswert von Quellen hat gar nicht unbedingt etwas mit den Absichten zu tun, die in der Vergangenheit zur Entstehung des Dokumentes führten. So sind Geburtsregister heute nicht nur von Interesse, um festzustellen, wann eine bestimmte Person gelebt hat, sondern in aggregierter Form können Geburtsregister etwas über die Lebenserwartungen, Familiengrößen, Häufigkeit vorehelicher Geburten, ja sogar über die Präferenzen bezüglich des Geschlechtes eigener Kinder aussagen. (Wenn das jüngste Kind einer Familie häufiger ein Junge als ein Mädchen war, kann man annehmen, dass in dieser Kultur männliche Nachkommen erwünschter waren).
In der Regel ist der historische Erkenntniswert umso größer, je näher die Quelle dem Ereignis ist. So unterscheidet man Primär - und Sekundärquellen. Gegenüber den Lebenserinnerungen, die der hochbetagte Wilhelm Wundt über die Zeit seines Studiums und seiner ersten physiologischen Untersuchungen schrieb (Wundt, 1920a), müssen Wundts Briefe aus der betreffenden Zeit an seine Familie als Primärquellen gelten. Der Vergleich zeigt, dass diese Briefe einige Umstände seiner ersten Forschungsarbeiten anders – und ziemlich sicher realitätsnäher – darstellen. Hier muss jeweils gesehen werden, wann ein Werk publiziert wurde. Am Beispiel Wilhelm Wundts lässt sich sogar aufzeigen, dass einzelne Publikationen in seinem Todesjahr bzw. danach erschienen und von seinem Sohn oder seiner Tochter in Teilen überarbeitet oder verfasst wurden (z. B. Wundt, 1921).
Lebenserinnerungen sind ja nicht nur Erinnerungen an das, wie es war; sie sind stets auch gefilterte, gereifte, zensierte Darstellungen von persönlich bedeutsamen und als mitteilenswert erachteten Erlebnissen. So wird z. B. die Entscheidung, sich einem bestimmten Forschungsgebiet zuzuwenden, rückblickend als gut begründet dargestellt, obwohl in Wirklichkeit vielleicht nur ein paar Zufälle dazu führten, dieses und nicht jenes Gebiet zu bearbeiten. Gegenüber Autobiografien sind Biografien wiederum meist als Sekundärquellen zu werten. Hier wird oft noch mehr »begradigt«, und jeder Biograph identifiziert sich bis zu einem gewissen Grade mit der dargestellten Person, so dass die Biografie auch Züge des Biographen enthält. »Viele Historiker neigen … dazu, sich die anderen als alter ego vorzustellen d. h. als äußerst langweilige Personen« (Ginzburg, 1983, S. 22).
Hatten wir die Primärquellen den Sekundärquellen vorgezogen, so muss aber auch gesagt werden, dass Sekundärquellen – wie z. B. Biografien – oft den Vorzug der Übersicht und des zeitlichen und räumlichen Abstandes zum Thema besitzen also auch Quellen aus Archiven integrieren, die dem Betreffenden selbst zu seinen Lebzeiten so nicht zugänglich waren, jedoch Entwicklungsverläufe (u. a. durch Gutachteneinsicht, ministerielle Erlasse u. a.) somit erhellen können.
Längst nicht alle Dokumente bleiben für historische Forschung erhalten. Vieles wird verworfen, Weltkriege haben viele Unterlagen vernichtet, historisch bedeutsames Material, wie alte psychologische Apparaturen, sind noch nach dem Zweiten Weltkrieg in großer Zahl leichtfertig als Sperrmüll an den Straßenrand gestellt worden. Im Austausch untereinander ist in den letzten Jahrzehnten das Telefon benutzt worden, wo früher der Brief als Kommunikationsmittel diente. Da Telefongespräche nur selten aufgezeichnet werden, kann man vom »Telefonloch« sprechen, in dem wichtige Quellen verschwinden. Heute oft verwendete E-Mails sind zwar schriftliche Dokumente, doch verschwinden sie auch meist durch Löschen, oder sie geben Sachverhalte nur fragmentarisch wieder.
Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass das erhalten gebliebene Material so gut wie nie eine Zufallsstichprobe der Gesamtheit darstellt, d. h., Material überlebt selektiv. Dies bedeutet, dass gerade das nicht erhaltene Material bedacht werden muss. Im Sinne unserer angeregten Übungsaufgabe müssen Fragen folgender Art gestellt werden: Warum fehlen in einer Briefsammlung z. B. Briefe aus einem bestimmten Zeitabschnitt, oder warum sind die Akten der Gesellschaft für experimentelle Psychologie (1904–1929) bzw. der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (1929–1945) nicht auffindbar? Die Auswertung der Quellen für eine Fragestellung kann somit ganz unterschiedlich ausfallen. In der langen Tradition der Geisteswissenschaften ist die Hermeneutik als Kunst oder Lehre von der Interpretation von Reden oder Schriften zur zentralen Methode geworden. Begriffe, Redewendungen, Sprach- und Stilelemente müssen erkannt und interpretiert werden. Dabei ist es wichtig, das in der jeweiligen Zeit Übliche zu kennen und zu berücksichtigen, was u. U. auch einen disziplinübergreifenden Blick in die Nachbarwissenschaften nötig macht.
Leicht erliegt man der Gefahr, von heute üblichen sozialen Normen auszugehen und alles, was davon abweicht, als sonderbar oder auffällig zu bewerten. Mehrere amerikanische Psychologiehistoriker haben z. B. ihre Phantasie schweifen lassen, als sie berichteten, dass der junge Wundt sich als Schüler ein Zimmer mit seinem (unverheirateten) Privatlehrer teilte. Doch war Mitte des 19. Jahrhunderts in wohlhabenden Familien nicht nur ein Privatlehrer durchaus üblich, es war auch normal, dass sich Lehrer und Schüler das Zimmer teilten. Aus diesem Tatbestand heute den Schluss zu ziehen, Wundt sei Opfer pädophiler Neigungen gewesen, ist sicher unangebracht.