Inhalt

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Prolog 1
  5. Prolog 2
  6. 1 Die Nacht zum achten Dezember
  7. 2 Dienstagmorgen, der achte Dezember
  8. 3 Dienstagvormittag, der achte Dezember
  9. 4 Dienstagmorgen, der achte Dezember
  10. 5 Dienstagvormittag, der achte Dezember
  11. 6 Die Nacht zum achten Dezember
  12. 7 Dienstagvormittag, der achte Dezember
  13. 8 Dienstagvormittag, der achte Dezember
  14. 9 Dienstagmittag, der achte Dezember
  15. 10 Dienstagnachmittag, der achte Dezember
  16. 11 Dienstagabend, der achte Dezember
  17. 12 Dienstag, der achte Dezember
  18. 13 Mittwochnachmittag, der neunte Dezember
  19. 14 Donnnerstagabend, der zehnte Dezember
  20. 15 Freitagmorgen, der elfte Dezember
  21. 16 Freitagmorgen, der elfte Dezember
  22. 17 Freitagmorgen, der elfte Dezember
  23. 18 Freitagnachmittag, der elfte Dezember
  24. 19 Freitagnachmittag, der elfte Dezember
  25. 20 Freitagabend, der elfte Dezember
  26. 21 Freitagabend, der elfte Dezember
  27. 22 Freitagabend, der elfte Dezember
  28. 23 Samstagmorgen, der zwölfte Dezember
  29. 24 Samstagabend, der zwölfte Dezember
  30. 25 Sonntagmorgen, der dreizehnte Dezember, Luciafest
  31. 26 Sonntagmorgen, der dreizehnte Dezember, Luciafest
  32. 27 Sonntagmorgen, der dreizehnte Dezember, Luciafest
  33. 28 Sonntagnachmittag, der dreizehnte Dezember, Luciafest
  34. 29 Sonntagnachmittag, der dreizehnte Dezember, Luciafest
  35. 30 Sonntagnachmittag, der dreizehnte Dezember, Luciafest
  36. 31 Montagmorgen, der vierzehnte Dezember
  37. 32 Montagnachmittag, der vierzehnte Dezember
  38. 33 Montagnachmittag, der vierzehnte Dezember
  39. 34 Die Nacht zum fünfzehnten Dezember
  40. 35 Dienstagmorgen, der fünfzehnte Dezember
  41. 36 Dienstagmorgen, der fünfzehnte Dezember
  42. 37 Mittwochvormittag, der sechzehnte Dezember
  43. 38 Mittwochvormittag, der sechzehnte Dezember
  44. 39 Mittwochnachmittag, der sechzehnte Dezember
  45. 40 Donnerstagvormittag, der siebzehnte Dezember
  46. 41 Donnerstagmittag, der siebzehnte Dezember
  47. 42 Donnerstagabend, der siebzehnte Dezember
  48. 43 Donnerstagabend, der siebzehnte Dezember
  49. 44 Freitag, früher Morgen, der achtzehnte Dezember
  50. 45 Freitagmorgen, der achtzehnte Dezember
  51. 46 Samstagvormittag, der neunzehnte Dezember
  52. 47 Samstagnachmittag, der neunzehnte Dezember
  53. 48 Samstagnachmittag, der neunzehnte Dezember
  54. 49 Samstagnachmittag, der neunzehnte Dezember
  55. 50 Sonntagmorgen, der zwanzigste Dezember, vierter Advent
  56. 51 Donnerstag, der siebzehnte Dezember
  57. 52 Sonntagmorgen, der zwanzigste Dezember, vierter Advent
  58. 53 Sonntagmorgen, der zwanzigste Dezember, vierter Advent
  59. 54 Donnerstag, der vierundzwanzigste Dezember
  60. Leseprobe – Lazarus

LARS KEPLER

DER
HYPNOTISEUR

Kriminalroman

Übersetzung aus dem Schwedischen
von Paul Berf

BASTEI ENTERTAINMENT

»Wie Feuer, genau wie Feuer.« So lauteten die ersten Worte, die der hypnotisierte Junge sagte. Obwohl er lebensgefährlich verletzt war – Dutzende Stich- und Schnittwunden im Gesicht, an den Beinen, an Rumpf und Rücken, unter den Füßen, im Nacken und am Hinterkopf –, hatte man ihn hypnotisiert, weil man hoffte, mit seinen Augen sehen zu können, was geschehen war.

»Ich kneife die Augen zusammen«, murmelte er. »Ich gehe in die Küche, aber da stimmt etwas nicht, es knirscht zwischen den Stühlen, und auf dem Fußboden breitet sich ein leuchtend rotes Feuer aus.«

Der Polizeimeister, der ihn zwischen den anderen Leichen in dem Reihenhaus gefunden hatte, hielt den Jungen für tot. Er hatte viel Blut verloren und einen medizinischen Schock erlitten und war erst sieben Stunden später wieder zu Bewusstsein gekommen.

Er war der einzige überlebende Zeuge, und Kriminalkommissar Joona Linna nahm an, dass der Junge ihm eine gute Personenbeschreibung liefern könnte. Der Täter hatte alle töten wollen und sich deshalb vermutlich nicht die Mühe gemacht, während der Tat sein Gesicht zu verhüllen.

Wären die übrigen Tatumstände nicht so außergewöhnlich gewesen, wäre man dennoch wohl nie auf den Gedanken verfallen, sich an einen Hypnotiseur zu wenden.

In der griechischen Mythologie ist der Gott Hypnos ein geflügelter Junge, der Mohnkapseln in der Hand trägt. Sein Name bedeutet Schlaf. Er ist der Zwillingsbruder des Todes und ein Sohn von Nacht und Dunkelheit.

In seiner modernen Bedeutung wurde das Wort Hypnose erstmals 1843 von dem schottischen Chirurgen James Braid benutzt. Mit dem Begriff beschrieb er einen schlafähnlichen Zustand von gesteigerter Aufmerksamkeit und großer Empfänglichkeit.

Heute ist es wissenschaftlich erwiesen, dass fast jeder Mensch hypnotisiert werden kann. Die Meinungen hinsichtlich der Anwendbarkeit, der Verlässlichkeit und der Gefahren der Hypnose gehen dagegen weit auseinander. Diese Zwiespältigkeit liegt wahrscheinlich darin begründet, dass die Hypnose von Betrügern, Scharlatanen und Geheimdiensten in aller Welt missbraucht worden ist.

Technisch gesehen ist es leicht, einen Menschen in einen hypnotischen Bewusstseinszustand zu versetzen, die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, den Verlauf der Hypnose zu steuern, den Patienten zu begleiten, die Ergebnisse zu analysieren und einzuordnen. Man braucht viel Erfahrung und großes Talent, um die Tiefenhypnose beherrschen zu können. Auf der ganzen Welt gibt es kaum mehr als eine Handvoll medizinisch kompetenter Experten für Hypnose.

1
Die Nacht zum achten Dezember

Als das Telefon klingelt, wird Erik Maria Bark aus einem Traum gerissen. Bevor er richtig wach ist, hört er sich selbst sagen:

»Ballons und Luftschlangen.«

Plötzlich aus dem Schlaf gerissen, pocht sein Herz. Erik weiß nicht, was er mit seinen Worten gemeint haben könnte, hat keine Ahnung, worum es in seinem Traum ging.

Um Simone nicht zu wecken, schleicht er sich aus dem Schlafzimmer und schließt die Tür, ehe er sich meldet.

»Erik Maria Bark.«

Ein Kriminalkommissar namens Joona Linna fragt ihn, ob er wach genug ist, um wichtige Informationen aufzunehmen. Als er den Worten des Kommissars lauscht, fallen seine Gedanken immer noch in die dunkle Leere nach dem Traum.

»Man hat mir gesagt, dass Sie Experte für Traumabehandlung sind«, sagt Joona Linna.

»Ja«, antwortet Erik knapp.

Während er den Ausführungen des Polizisten lauscht, nimmt er eine Schmerztablette. Der Kommissar erklärt, er müsse jemanden vernehmen. Ein fünfzehnjähriger Junge sei Zeuge eines Doppelmords geworden. Es gebe nur leider das Problem, dass der Junge selbst lebensgefährlich verletzt worden sei. Sein Zustand ist instabil, er hat einen medizinischen Schock erlitten und ist bewusstlos. In der Nacht ist er aus der Neurologie in Huddinge in die Neurochirurgie des Karolinska-Universitätskrankenhauses in Solna verlegt worden.

»Wer ist der behandelnde Arzt?«, fragt Erik.

»Daniella Richards.«

»Sie ist sehr kompetent, und ich bin mir sicher, dass sie …«

»Sie wollte, dass ich Sie anrufe«, unterbricht ihn der Kommissar. »Sie braucht Ihre Hilfe, und es ist anscheinend ziemlich dringend.«

Erik kehrt ins Schlafzimmer zurück, um seine Kleider zu holen. Der Lichtstreifen einer Straßenlaterne fällt zwischen den beiden Rollos ins Zimmer. Simone liegt auf dem Rücken und sieht ihn mit seltsam leeren Augen an.

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagt er gedämpft.

»Wer war das?«, fragt sie.

»Ein Polizist … ein Kriminalkommissar, ich habe seinen Namen nicht richtig verstanden.«

»Was wollte er?«

»Ich muss ins Karolinska«, antwortet er. »Sie brauchen meine Hilfe bei einem Jungen.«

»Wie spät ist es eigentlich?«

Sie sieht auf den Wecker und schließt die Augen. Er sieht, dass die Falten des Betttuchs auf ihren von Sommersprossen übersäten Schultern Streifen hinterlassen haben.

»Schlaf weiter, Sixan«, flüstert er.

Erik trägt seine Kleider in den Flur, macht Licht und zieht sich rasch an. Eine glänzende Stahlklinge blitzt hinter ihm auf. Erik dreht sich um und sieht, dass sein Sohn seine Schlittschuhe an die Klinke der Wohnungstür gehängt hat, damit er sie nicht vergisst. Obwohl Erik in Eile ist, geht er zur Kleiderkammer, zieht eine Kiste ins Licht und sucht die Kufenschoner heraus. Er schiebt sie über die scharfen Klingen, legt die Schlittschuhe anschließend auf den Teppich und verlässt die Wohnung.

Es ist drei Uhr nachts am Dienstag, den 8. Dezember, als sich Erik Maria Bark ins Auto setzt. Träge fällt Schnee aus einem schwarzen Himmel. Es herrscht völlige Windstille, und die schweren Flocken legen sich schläfrig auf die leere Straße. Er dreht den Schlüssel im Zündschloss, und Musik rollt heran wie sanfte Wellen: Miles Davis’ Kind of Blue.

Er fährt die kurze Strecke von der Luntmakargatan zur nördlichen Stadtgrenze durch die schlafende Stadt. Hinter dem fallenden Schnee kann man das Wasser der Brunnsviken als große, dunkle Öffnung erahnen. Langsam rollt er auf das Krankenhausgelände, zwischen dem unterbesetzten Astrid-Lindgren-Kinderkrankenhaus und der Entbindungsstation hindurch, an Strahlentherapie und Psychiatrie vorbei, parkt auf seinem angestammten Platz vor der neurochirurgischen Klinik und steigt aus dem Wagen. Das Licht der Straßenlaternen spiegelt sich in den Fenstern des hohen Gebäudekomplexes. Auf dem Besucherparkplatz stehen nur vereinzelte Autos. In der Dunkelheit zwischen den Bäumen bewegen sich Amseln mit raschelnden Flügeln. Erik fällt auf, dass man die Autobahn um diese Uhrzeit nicht hört.

Er steckt seine Zugangskarte in den Schlitz, gibt den sechsziffrigen Code ein, betritt das Foyer, nimmt den Aufzug in den fünften Stock und geht den Flur hinab. Das Licht der Neonröhren an der Decke schimmert auf dem blauen PVC-Boden wie Eis in einem Straßengraben. Erst jetzt, nach dem plötzlichen Adrenalinstoß, spürt er, wie müde er in Wahrheit ist. Der Schlaf ist so erholsam gewesen, dass er immer noch einen glücklichen Nachgeschmack hinterlässt. Er passiert einen Operationssaal, geht an den Türen der riesigen Druckkammer vorbei, grüßt eine Krankenschwester und lässt in Gedanken nochmals Revue passieren, was ihm der Kriminalkommissar am Telefon erzählt hat: Ein Junge blutet, hat Schnittwunden am ganzen Körper, schwitzt, will nicht liegen bleiben, ist rastlos und sehr durstig. Man versucht ihn anzusprechen, aber sein Zustand verschlechtert sich rapide. Sein Bewusstsein schwindet, während das Herz gleichzeitig rast, und die behandelnde Ärztin Daniella Richards trifft die völlig richtige Entscheidung, der Kriminalpolizei jeden Zugang zu ihrem Patienten zu verwehren.

Vor der Tür zu Station N 18 stehen zwei uniformierte Polizisten. Erik meint einen Anflug von Besorgnis auf ihren Gesichtern entdecken zu können, als er sich ihnen nähert. Vielleicht sind sie auch nur müde, denkt er, als er vor ihnen stehen bleibt und sich ausweist. Sie werfen einen kurzen Blick auf seine Papiere und drücken anschließend den Knopf, sodass die Tür surrend aufschwingt.

Erik geht hinein, gibt Daniella Richards die Hand und bemerkt den angespannten Zug um ihren Mund, den gezügelten Stress in ihren Bewegungen.

»Nimm dir einen Kaffee«, sagt sie.

»Reicht die Zeit dafür?«, fragt Erik.

»Ich habe die Blutung in der Leber unter Kontrolle«, antwortet sie.

Ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren in einer Jeans und einem schwarzen Jackett steht vor dem Kaffeeautomaten und klopft gegen das Gehäuse. Er hat wild zerzauste blonde Haare, und seine Lippen sind ernst, zusammengepresst. Erik überlegt, dass er Daniellas Mann Magnus sein könnte. Er ist ihm noch nie begegnet, hat nur das Foto in ihrem Büro gesehen.

»Ist das dein Mann?«, fragt Erik und deutet in seine Richtung.

»Bitte?«

Sie wirkt gleichzeitig amüsiert und erstaunt.

»Ich dachte, Magnus wäre vielleicht mitgekommen.«

»Nein«, lacht sie.

»Bist du sicher? Ich kann ihn ja mal fragen«, scherzt Erik und geht auf den Mann zu.

Daniellas Handy klingelt, und sie klappt es lachend auf.

»Erik, lass das«, sagt sie, ehe sie sich das Telefon ans Ohr hält und sich meldet. »Daniella.«

Sie lauscht, hört aber nichts.

»Hallo?«

Sie wartet ein paar Sekunden und beendet den Anruf dann ironisch mit dem hawaiianischen Gruß »Aloha«, ehe sie das Telefon wieder zuklappt und Erik folgt, der zu dem blonden Mann geht. Der Kaffeeautomat brummt und zischt.

»Trinken Sie einen Kaffee«, sagt der Mann und versucht, Erik den Kaffeebecher in die Hand zu drücken.

»Nein, danke.«

Der Mann nippt an dem Kaffee und lächelt mit Grübchen in den Wangen.

»Schmeckt gut«, sagt er und versucht erneut, Erik den Becher aufzudrängen.

»Ich möchte keinen.«

Der Mann trinkt noch einen Schluck und sieht Erik dabei an.

»Könnte ich mir Ihr Handy ausborgen?«, fragt er plötzlich. »Wenn das okay ist. Ich habe meins im Auto liegen gelassen.«

»Und jetzt wollen Sie sich meins leihen?«, fragt Erik reserviert.

Der blonde Mann nickt und sieht ihn mit hellen Augen an, die grau sind wie polierter Granit.

»Sie können meins haben«, wirft Daniella ein.

»Danke.«

»Nichts zu danken.«

Der blonde Mann nimmt das Telefon entgegen, sieht es an und begegnet ihrem Blick.

»Ich verspreche Ihnen, dass Sie es zurückbekommen«, sagt er.

»Sie sind ohnehin der Einzige hier, der es benutzt«, scherzt sie.

Er lacht und zieht sich ein wenig von den beiden zurück.

»Das muss dein Mann sein«, sagt Erik.

Sie schüttelt lächelnd den Kopf und sieht auf einmal sehr müde aus. Sie hat sich die Augen gerieben und silbergraues Kajal auf ihrer Wange verschmiert.

»Soll ich mir jetzt den Patienten ansehen?«, fragt Erik.

»Von mir aus gern«, nickt sie.

»Wenn ich schon einmal hier bin«, beeilt er sich zu sagen.

»Erik, ich möchte wirklich deine Meinung hören, ich bin unsicher.«

Sie öffnet die schwere, leise Tür, und er folgt ihr in den warmen Raum neben dem Operationssaal. In einem Bett liegt ein schlaksiger Junge. Zwei Krankenschwestern verbinden seine Wunden neu. Es handelt sich um Dutzende Schnitt- und Stichwunden am ganzen Körper. Unter den Füßen, an Brust und Bauch, im Nacken, mitten auf dem Kopf, im Gesicht, an den Händen.

Sein Puls ist schwach, aber sehr schnell. Die Lippen sind aluminiumgrau, er schwitzt, und seine Augen sind fest geschlossen. Die Nase scheint gebrochen zu sein. Unter der Haut breitet sich ein Bluterguss wie eine dunkle Wolke vom Hals bis zur Brust aus.

Erik fällt auf, dass das Gesicht des Jungen trotz der Verletzungen schön ist. Daniella berichtet ruhig, wie sich die Werte des Jungen verändert haben, als ein Klopfen sie plötzlich verstummen lässt. Es ist wieder der blonde Mann. Er winkt ihnen durch die Fensterscheibe in der Tür zu.

Erik und Daniella sehen sich an und verlassen das Untersuchungszimmer. Der blonde Mann steht erneut neben dem zischenden Kaffeeautomaten.

»Ein großer Cappuccino«, sagt er an Erik gewandt. »Den können Sie gebrauchen, bevor Sie dem Polizisten begegnen, der den Jungen gefunden hat.«

Erst jetzt begreift Erik, dass der blonde Mann jener Kriminalkommissar sein muss, der ihn vor weniger als einer Stunde geweckt hat. Am Telefon hatte Erik den finnischen Akzent nicht so deutlich wahrgenommen, aber vielleicht war er auch nur zu müde gewesen, um ihn zu registrieren.

»Warum sollte ich den Polizisten treffen wollen, der den Jungen gefunden hat?«, fragt Erik.

»Um zu verstehen, warum ich ihn vernehmen …«

Als Daniellas Handy klingelt, verstummt Joona Linna. Er zieht es aus seiner Jacketttasche, ignoriert ihre ausgestreckte Hand und blickt rasch auf das Display.

»Das dürfte für mich sein«, erklärt er und meldet sich. »Ja … Nein, ich will ihn hier haben. Okay, aber das ist mir scheißegal.«

Der Kommissar lächelt, als er den Einwänden seines Kollegen am anderen Ende lauscht.

»Aber mir ist da was aufgefallen«, antwortet Joona.

Der andere schreit etwas.

»Ich mache das auf meine Art«, sagt Joona mit ruhiger Stimme und beendet das Gespräch.

Er gibt Daniella das Telefon zurück und bedankt sich wortlos.

»Ich muss den Patienten vernehmen«, erklärt er ernst.

»Tut mir leid«, erwidert Erik. »Ich bin der gleichen Meinung wie Doktor Richards.«

»Wann werde ich mit ihm sprechen können?«, fragt Joona.

»Solange er sich in diesem Schockzustand befindet, jedenfalls nicht.«

»Ich wusste, dass Sie das sagen würden«, entgegnet Joona leise.

»Sein Zustand ist immer noch sehr kritisch«, erläutert Daniella. »Das Lungenfell ist ebenso verletzt wie Dünndarm und Leber und …«

Ein Mann in einer besudelten Polizeiuniform kommt herein. Seine Augen flackern unruhig. Joona winkt, geht zu ihm und gibt ihm die Hand. Er sagt etwas mit gedämpfter Stimme, und der Beamte streicht sich über den Mund und sieht die Ärzte an. Der Kriminalkommissar wiederholt an den Polizisten gewandt, dass alles in Ordnung sei, sie müssten nur die Umstände der Tat erfahren, weil dies eine große Hilfe für sie sein könne.

»Ja, also«, sagt der Polizist und räuspert sich schwach. »Wir bekommen über Funk Meldung, dass ein Raumpfleger in der Toilette am Sportplatz in Tumba eine männliche Leiche gefunden hat. Und wir sind mit unserem Wagen sowieso schon auf dem Huddingevägen und brauchen also bloß noch in den Dalavägen abzubiegen und zum See hoch zu fahren. Mein Kollege, Janne, geht rein, während ich draußen bleibe und mit dem Raumpfleger spreche. Erst haben wir gedacht, es ginge um eine Überdosis, aber mir ist schnell klar geworden, dass etwas anderes los sein muss. Janne kommt aus dem Umkleideraum, ist ganz weiß im Gesicht und will mich irgendwie nicht durchlassen. Da ist nur scheißviel Blut, sagt er dreimal, und dann lässt er sich einfach auf die Treppe fallen und …«

Der Polizist verstummt, setzt sich auf einen Stuhl und starrt mit halb offenem Mund vor sich hin.

»Könntest du bitte weitermachen?«, sagt Joona.

»Ja also … der Krankenwagen kommt, der Tote wird identifiziert, und ich bekomme den Auftrag, mit den Angehörigen zu sprechen. Wir haben nicht genug Leute vor Ort, also muss ich alleine hinfahren. Denn meine Chefin sagt, dass sie Janne in dem Zustand nicht gehen lassen will, und das kann man ja auch verstehen.«

Erik sieht auf die Uhr.

»Sie haben die Zeit, sich das anzuhören«, sagt Joona mit seinem ruhigen finnischen Klang in der Stimme.

»Der Verstorbene«, fährt der Beamte mit gesenktem Blick fort, »ist Lehrer am Gymnasium von Tumba und wohnt in der Reihenhaussiedlung oben auf der Anhöhe. Es macht keiner auf. Ich klingele ein paarmal. Also, ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, warum ich um die Häuserzeile herumgegangen bin und auf der Rückseite mit der Taschenlampe ins Haus hineingeleuchtet habe.«

Der Polizist verstummt, sein Mund zittert, und er kratzt mit einem Fingernagel über die Armlehne des Stuhls.

»Sprich weiter«, bittet Joona ihn.

»Muss das wirklich sein, denn ich … ich …«

»Du hast den Jungen, die Mutter und ein kleines Mädchen von fünf Jahren gefunden. Der Junge war als Einziger noch am Leben.«

»Obwohl ich gedacht habe … ich …«

Er verstummt, sein Gesicht ist leichenblass.

»Danke, dass du gekommen bist, Erland«, sagt Joona.

Der Polizist nickt schnell und steht auf, streicht sich mit der Hand verwirrt über seine schmutzige Jacke und verlässt das Zimmer.

»Alle waren voller Stich- und Schnittwunden«, fährt Joona fort. »Der nackte Wahnsinn, die Opfer waren übel zugerichtet, man hat sie getreten, geschlagen, mit Stichen malträtiert, und das kleine Mädchen … ist in zwei Teile zertrennt worden. Unterkörper und Beine lagen in einem Sessel vor dem Fernseher und …«

Er verstummt und beobachtet Erik, ehe er weiterspricht:

»Der Täter scheint gewusst zu haben, dass der Familienvater sich auf dem Sportplatz aufhielt«, erklärt Joona. »Ein Fußballspiel, er war der Schiedsrichter. Der Mörder hat gewartet, bis der Mann alleine war, ehe er ihn tötete, aggressiv zerstückelte und danach zu dem Reihenhaus fuhr, um die anderen zu töten.«

»Es hat sich in dieser Reihenfolge abgespielt?«, fragt Erik.

»Davon bin ich fest überzeugt«, antwortet der Kommissar.

Erik spürt, dass seine Hand zittert, als er sich über den Mund fährt. Vater, Mutter, Sohn, Tochter, denkt er sehr langsam und begegnet anschließend Joona Linnas Blick.

»Der Täter wollte die ganze Familie auslöschen«, konstatiert Erik mit schwacher Stimme.

Joona macht eine unschlüssige Geste.

»Genau das ist der Punkt, warum … Ein Kind fehlt nämlich noch, die ältere Schwester. Eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren. Wir können sie nicht finden. Sie hält sich nicht in ihrer Wohnung in Sundbyberg auf, ist offenbar auch nicht bei ihrem Freund. Wir denken, dass der Mörder es auch auf sie abgesehen haben könnte. Deshalb wollen wir den Zeugen möglichst schnell vernehmen.«

»Ich werde zu ihm gehen und ihn gründlich untersuchen«, sagt Erik.

»Danke«, nickt Joona.

»Aber wir können das Leben des Patienten nicht riskieren, indem wir …«

»Dafür habe ich volles Verständnis«, unterbricht Joona ihn. »Es ist nur so, je länger es dauert, bis wir eine Spur haben, desto mehr Zeit bleibt dem Täter, um nach der Schwester zu suchen.«

»Vielleicht sollten Sie die Tatorte untersuchen«, meint Daniella.

»Die Arbeit ist in vollem Gange«, erwidert er.

»Fahren Sie hin und treiben Sie lieber Ihre eigenen Leute an«, sagt sie.

»Es wird so oder so nichts dabei herauskommen«, entgegnet der Kommissar.

»Wie meinen Sie das?«

»Wir werden an diesen Orten die vermischte DNA von Hunderten, vielleicht sogar über tausend Menschen finden.«

Erik kehrt zu dem Patienten zurück. Er steht vor dem Bett, betrachtet das blasse, verwundete Gesicht. Die flache Atmung. Die verfrorenen Lippen. Erik spricht den Namen des Jungen aus, und ein angespannter, schmerzerfüllter Zug legt sich auf das Gesicht.

»Josef«, wiederholt er leise. »Ich heiße Erik Maria Bark, ich bin Arzt und werde dich jetzt untersuchen. Wenn du verstehst, was ich sage, darfst du ruhig nicken.«

Der Junge liegt vollkommen still, und sein Bauch bewegt sich im Takt der kurzen Atemzüge. Trotzdem ist Erik überzeugt, dass der Junge seine Worte verstanden hat, bevor sein Bewusstsein geschwunden und der Kontakt abgebrochen ist.

Als Erik eine halbe Stunde später den Raum verlässt, sehen Daniella und der Kriminalkommissar ihn an.

»Wird er durchkommen?«, fragt Joona.

»Es ist noch zu früh, um das zu sagen, aber er …«

»Der Junge ist unser einziger Zeuge«, unterbricht ihn der Polizist. »Jemand hat seinen Vater, seine Mutter und seine kleine Schwester umgebracht, und dieselbe Person ist vermutlich in diesem Moment auf dem Weg zu seiner großen Schwester.«

»Das wissen wir alles«, sagt Daniella. »Aber wir denken vielleicht, dass die Polizei lieber nach ihr suchen sollte, statt uns bei der Arbeit zu stören.«

»Wir suchen sie schon, aber das dauert mir alles zu lange. Wir müssen mit dem Jungen sprechen, weil er aller Wahrscheinlichkeit nach das Gesicht des Täters gesehen hat.«

»Es kann Wochen dauern, bis der Junge vernehmungsfähig ist«, sagt Erik. »Ich meine, wir können ihn ja schlecht wachrütteln und ihm erzählen, dass seine ganze Familie tot ist.«

»Und wie wäre es mit Hypnose?«, meint Joona.

Es wird still im Raum. Erik denkt an den Schnee, der auf die Brunnsviken fiel, als er in die Klinik gefahren ist. Wie er zwischen den Bäumen auf das dunkle Wasser hinabrieselte.

»Nein«, flüstert er vor sich hin.

»Eine Hypnose würde nicht funktionieren?«

»Damit kenne ich mich nicht aus«, antwortet Erik.

»Nun habe ich aber leider ein hervorragendes Gedächtnis für Gesichter«, sagt Joona breit grinsend. »Sie sind ein berühmter Hypnotiseur, Sie könnten …«

»Ich war ein Versager«, unterbricht Erik ihn.

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagt Joona. »Außerdem geht es hier um einen Notfall.«

Daniellas Wangen laufen rot an, und sie lächelt mit gesenktem Blick.

»Ich kann nicht«, sagt Erik.

»Ehrlich gesagt trage ich hier die Verantwortung für den Patienten«, erklärt Daniella mit erhobener Stimme. »Und mir erscheint es wenig verlockend, die Erlaubnis zu einer Hypnose zu erteilen.«

»Und wenn Sie zu dem Schluss kämen, dass für den Patienten keine Gefahr besteht?«, fragt Joona.

Erik wird klar, dass der Kriminalkommissar von Anfang an eine Hypnose als mögliche Lösung seines Problems ins Auge gefasst hat und keiner spontanen Eingebung folgt. Joona Linna hat ihn nur deshalb ins Krankenhaus gebeten, um ihn davon zu überzeugen, den Patienten zu hypnotisieren, und nicht, weil er Experte für die Behandlung akuter Schock- und Traumazustände ist.

»Ich habe mir geschworen, nie wieder jemanden zu hypnotisieren«, sagt Erik.

»Okay, ich verstehe«, erwidert Joona. »Ich habe gehört, dass Sie der Beste waren, aber was soll’s, ich werde Ihre Entscheidung wohl oder übel respektieren müssen.«

»Es tut mir leid«, sagt Erik.

Er betrachtet durch das Fenster den Patienten und wendet sich anschließend an Daniella.

»Hat er Desmopressin bekommen?«

»Nein, damit wollte ich lieber noch warten«, antwortet sie.

»Warum?«

»Wegen der Gefahr thromboembolischer Komplikationen.«

»Ich habe die Diskussion verfolgt, aber ich glaube nicht, dass da was dran ist, mein Sohn bekommt von mir ständig Desmopressin«, sagt Erik.

Joona erhebt sich schwerfällig von seinem Stuhl.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen anderen Hypnotiseur empfehlen könnten«, sagt er.

»Wir wissen doch noch nicht einmal, ob der Patient jemals wieder zu Bewusstsein kommen wird«, entgegnet Daniella.

»Also ich rechne schon damit, dass …«

»Und er muss ja wohl bei Bewusstsein sein, um hypnotisiert werden zu können«, sagt sie abschließend und verzieht ein wenig den Mund.

»Als Erik ihn angesprochen hat, war er jedenfalls ganz aufmerksam«, sagt Joona.

»Das glaube ich nicht«, murmelt sie.

»Doch, er hat mich gehört«, bestätigt Erik.

»Wir könnten seine Schwester retten«, fährt Joona fort.

»Ich fahre jetzt nach Hause«, sagt Erik leise. »Gib dem Patienten Desmopressin und zieh auch die Druckkammer in Erwägung.«

Er verlässt den Raum und zieht seinen Arztkittel aus, während er den Flur hinabgeht und sich in den Aufzug stellt. Im Foyer halten sich mehrere Menschen auf. Die Eingangstüren sind geöffnet worden, und der Himmel wird kaum merklich heller. Schon als das Auto vom Parkplatz rollt, streckt er sich nach der kleinen Holzschachtel, die er im Handschuhfach verwahrt. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, tippt er den Deckel mit dem bunten Papagei und dem Eingeborenen auf, fängt drei Tabletten auf und schluckt sie schnell. Er muss ein paar Stunden schlafen, bevor er Benjamin wecken und ihm seine Spritze geben wird.

2
Dienstagmorgen, der achte Dezember

Kriminalkommissar Joona Linna bestellt im Il caffè in der Bergsgatan ein großes Ciabatta mit Parmesan, Bresaola und getrockneten Tomaten. Es ist früh am Morgen, und das kleine Café hat gerade erst geöffnet: Die junge Frau, die seine Bestellung entgegennimmt, ist bisher nicht einmal dazu gekommen, die Brote aus den Tüten auszupacken.

Nachdem er gestern Abend zu später Stunde die Tatorte in Tumba inspiziert, das überlebende Opfer im Karolinska-Krankenhaus in Solna besucht und mitten in der Nacht mit den beiden Ärzten Daniella Richards und Erik Maria Bark gesprochen hat, ist er zu seiner Wohnung im Stadtteil Fredhäll gefahren und hat drei Stunden geschlafen.

Jetzt wartet Joona auf sein Frühstück, betrachtet durch das beschlagene Fenster das Rathaus und denkt an den Tunnel, jenen unterirdischen Gang, der unter dem Park zwischen dem gewaltigen Gebäudekomplex der Polizei und dem Rathaus verläuft. Er bekommt seine EC-Karte zurück, leiht sich einen riesigen Stift von der gläsernen Theke, unterschreibt die Quittung und verlässt das Café.

Schneeregen fällt sehr schnell vom Himmel, als er mit seinem warmen Brotpaket in der einen Hand und der Sporttasche mit dem Hallenbandyschläger in der anderen die Bergsgatan hinaufeilt.

Heute spielen wir gegen die Fahndung – und werden verdammt alt aussehen, denkt Joona. Wir werden eine herbe Niederlage einstecken müssen, genau wie sie es uns angedroht haben.

Die Hallenbandymannschaft der Landeskriminalpolizei verliert gegen die Schutzpolizei, die Verkehrspolizei, die Wasserschutzpolizei, die nationale Eingreiftruppe, das Einsatzkommando und den Staatsschutz. Aber diese Spiele bieten den Beamten einen guten Vorwand, sich hinterher in einer Kneipe zu treffen und den Ärger herunterzuspülen.

Die Jungs aus dem Labor sind die Einzigen, die wir besiegt haben, denkt Joona.

Als Joona an der Längsseite des Polizeipräsidiums und am Haupteingang vorbeigeht, ahnt er noch nicht, dass er an diesem Dienstag weder Bandy spielen noch in die Kneipe gehen wird. Er sieht, dass jemand ein Hakenkreuz auf den Wegweiser zum Verhandlungssaal des Amtsgerichts gemalt hat. Mit großen Schritten geht er zum Untersuchungsgefängnis Kronoberg hinauf und sieht, wie sich das große Tor lautlos hinter einem Wagen schließt. Auf der großen Fensterscheibe des Wachhäuschens schmelzen Schneeflocken. Joona geht am Polizeischwimmbad vorbei und überquert den Rasen, um zur Kopfseite des riesigen Gebäudekomplexes zu gelangen. Die Fassade ähnelt dunklem Kupfer. Poliert, aber unter Wasser, denkt er. In dem langgezogenen Fahrradständer neben dem Saal für Haftprüfungsverhandlungen stehen keine Räder, an den beiden Fahnenstangen hängen die Flaggen nass herab. Joona eilt im Laufschritt zwischen zwei Metallkästen hindurch und unter das hohe Milchglasdach, stampft den Schnee von den Schuhen und betritt anschließend das Foyer des Landespolizeiamts.

Für die Polizei ist in Schweden eigentlich das Justizministerium verantwortlich, aber das Ministerium ist nicht befugt festzulegen, wie die Gesetze in der Praxis angewendet werden sollen. Zentrale Verwaltungsbehörde ist das Landespolizeiamt, zu dem auch die Landeskriminalpolizei, der Staatsschutz, die Polizeihochschule und das Staatliche Kriminaltechnische Labor SKL in Linköping gehören.

Die Landeskriminalpolizei ist Schwedens einzige zentrale operative Polizei. Ihre Aufgabe besteht darin, schwere Kriminalität auf nationaler und internationaler Ebene zu bekämpfen. Hier ist Joona Linna seit neun Jahren als Kriminalkommissar tätig.

Joona geht seinen Flur hinab, zieht am Schwarzen Brett die Mütze aus, überfliegt die Zettel über Yoga, einen zum Verkauf angebotenen Wohnwagen, Informationen der Gewerkschaft und geänderte Trainingszeiten des Schützenvereins.

Der Fußboden, der zuletzt am vorigen Freitag gewischt wurde, ist bereits sehr schmutzig. Die Tür zu Benny Rubin steht einen Spaltbreit offen. Der sechzigjährige Mann mit dem grauen Schnäuzer und dem faltigen, sonnenverbrannten Teint hat einige Jahre zur Olof-Palme-Ermittlungsgruppe gehört, arbeitet mittlerweile jedoch an der Umorganisation der Einsatzzentrale und dem Übergang zum neuen Funksystem Rachel. Er sitzt mit einer Zigarette hinter dem Ohr vor seinem Computer und tippt beängstigend langsam.

»Ich habe Augen im Hinterkopf«, sagt er plötzlich.

»Das erklärt vielleicht, warum du so schlecht tippst«, bemerkt Joona scherzhaft.

Er sieht, dass Bennys neuestes Fundstück ein Werbeplakat der Fluggesellschaft SAS ist: Eine junge, ansprechend exotisch aussehende Frau in einem winzigen Bikini trinkt mit einem Strohhalm ein Fruchtgetränk. Das Verbot von Kalendern mit Pin-up-Girls hatte Benny seinerzeit dermaßen provoziert, dass die meisten dachten, er würde kündigen. Stattdessen hat er sich seit vielen Jahren einem stummen und sturen Protest verschrieben. Am Ersten jedes Monats wechselt er die Wanddekoration. Kein Mensch hat gesagt, dass Reklame für Fluggesellschaften, Bilder von Eisprinzessinnen mit weit gespreizten Beinen, Yogainstruktionen oder Dessouswerbung von Hennes & Mauritz verboten sind. Joona erinnert sich an eine Abbildung der Sprinterin Gail Devers in eng sitzenden Shorts und eine gewagte Lithographie des Künstlers Egon Schiele, die eine rothaarige Frau mit gespreizten Beinen in einem weiten, langen Schlüpfer zeigte.

Joona bleibt stehen, um seine Assistentin und Kollegin Anja Larsson zu grüßen. Sie sitzt mit halb geöffnetem Mund vor dem Computer, und ihr kugelrundes Gesicht ist so konzentriert, dass er beschließt, sie lieber nicht zu stören. Stattdessen geht er in sein Büro, hängt den nassen Mantel an die Tür, schaltet den Adventsstern im Fenster ein und sieht flüchtig den Inhalt seines Fachs durch: ein Rundschreiben zum Thema Arbeitsatmosphäre, ein Vorschlag zur Verwendung von Energiesparlampen, eine Anfrage der Staatsanwaltschaft und eine Einladung des Betriebsrats zum Weihnachtsbüfett im Restaurant des Freilichtmuseums Skansen.

Joona verlässt sein Büro, geht ins Besprechungszimmer, setzt sich an seinen Stammplatz, packt sein Brot aus und isst.

Auf dem großen Whiteboard an der Längswand steht: Kleidung, Körperschutzausrüstung, Waffen, Tränengas, Kommunikationsmittel, Fahrzeuge, sonstige technische Hilfsmittel, Kanäle, Stationssignale, Funkkontaktzeiten, Funkstille, Codes, Verbindungskontrolle.

Petter Näslund bleibt im Flur stehen, lacht selbstzufrieden und lehnt sich mit dem Rücken zum Besprechungszimmer in den Türrahmen. Petter ist ein muskulöser und glatzköpfiger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Er ist Erster Hauptkommissar, was ihn zu Joonas direktem Vorgesetzten macht. Seit Jahren flirtet er mit Magdalena Ronander, ohne ihre peinlich berührten Blicke und ihre ständigen Versuche zu bemerken, einen nüchtern kollegialen Ton anzuschlagen. Magdalena ist seit vier Jahren Kriminalinspektorin in der Fahndungsabteilung und hat sich das Ziel gesteckt, ihr Jurastudium noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag abzuschließen.

Jetzt senkt Petter die Stimme, löchert Magdalena mit Fragen zur Wahl ihrer Dienstwaffe und will wissen, wie oft sie den Lauf wechselt, weil das Profil abgenutzt ist. Ohne seinen plumpen Zweideutigkeiten Beachtung zu schenken, erklärt sie, über abgefeuerte Schüsse genauestens Buch zu führen.

»Aber du stehst doch bestimmt auf diese dicken Dinger – oder?«, sagt Petter.

»Nein, eigentlich nicht, ich benutze eine Glock 17«, antwortet sie. »Die schluckt jede Menge von der 9-Millimeter-Armeemunition.«

»Benutzt du keine tschechischen …«

»Doch, schon … aber lieber m39B«, sagt sie.

Die beiden betreten das Besprechungszimmer, setzen sich auf ihre Plätze und begrüßen Joona.

»Außerdem hat die Glock neben Kimme und Korn noch einen Kompensator«, fährt sie fort. »Der Rückstoß wird auf ein Minimum reduziert, und man kommt schneller zum nächsten Schuss.«

»Und was meint unser Mumintroll dazu?«, erkundigt sich Petter.

Joona lächelt sanft, und seine hellgrauen Augen werden eisig klar, als er Petter mit seinem singenden finnischen Akzent antwortet:

»Dass das alles keine Rolle spielt, entscheidend sind ganz andere Dinge.«

»Du hast es also nicht nötig, schießen zu können«, grinst Petter.

»Joona ist ein guter Schütze«, wirft Magdalena Ronander ein.

»Gut in allem«, seufzt Petter.

Magdalena ignoriert Petter und wendet sich stattdessen Joona zu.

»Der größte Vorteil der kompensierten Glock besteht darin, dass man im Dunkeln keine Pulvergase vor der Mündung sieht.«

»Stimmt genau«, sagt Joona leise.

Sie wirkt gut gelaunt, als sie ihre schwarze Ledermappe öffnet und in ihren Papieren blättert. Benny kommt herein, setzt sich, sieht alle an, haut mit der flachen Hand fest auf die Tischplatte und lächelt anschließend breit, als Magdalena Ronander ihm einen gereizten Blick zuwirft.

»Ich habe den Fall in Tumba übernommen«, erklärt Joona.

»Welcher Fall ist das?«, fragt Petter.

»Eine komplette Familie ist durch Messerstiche ermordet worden«, antwortet Joona.

»Das geht uns nichts an«, sagt Petter.

»Ich denke, es könnte sich um einen Serienmörder handeln oder zumindest …«

»Jetzt hör aber auf«, unterbricht Benny Joona, sieht ihm in die Augen und schlägt nochmals mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Das war doch bloß eine Abrechnung«, fährt Petter fort. »Darlehen, Schulden, Wetten … Auf der Trabrennbahn kannte ihn jeder.«

»Spielsucht«, bestätigt Benny.

»Er hat sich vor Ort Geld im kriminellen Milieu geliehen und dafür die Quittung bekommen«, erklärt Petter abschließend.

Es wird still. Joona trinkt einen Schluck Wasser, pickt ein paar Krümel vom Tisch auf und steckt sie sich in den Mund.

»Ich habe die richtige Nase für diesen Fall«, beharrt er gedämpft.

»Dann wirst du dich wohl versetzen lassen müssen«, sagt Petter grinsend. »Dieser Fall ist nichts für die Landeskripo.«

»Ich glaube schon.«

»Wenn du den Fall haben willst, musst du schon Streifenpolizist in Tumba werden«, erwidert Petter.

»Ich habe vor, diese Morde zu untersuchen«, beharrt Joona.

»Das ist meine Entscheidung«, entgegnet Petter.

Yngve Svensson kommt herein und setzt sich. Seine Haare sind zurückgegelt, er hat blaugraue Ringe unter den Augen, einen rötlichen Stoppelbart und trägt wie immer einen zerknitterten, schwarzen Anzug.

»Yngwie«, sagt Benny zufrieden.

Yngve Svensson ist einer der führenden Experten für organisiertes Verbrechen im Land, Leiter der Analyseabteilung und Mitglied der Einheit für internationale Polizeizusammenarbeit.

»Yngve, was sagst denn du zu den Morden in Tumba?«, fragt Petter. »Du hast dir das doch bestimmt angesehen, oder?«

»Ja, das scheint mir eine lokale Angelegenheit zu sein«, erklärt er. »Der Geldeintreiber fährt zu dem Haus. Der Familienvater müsste um diese Uhrzeit eigentlich zu Hause sein, ist aber als Schiedsrichter bei einem Fußballspiel eingesprungen. Der Geldeintreiber hat wahrscheinlich sowohl Speed als auch Rohypnol eingeschmissen, ist völlig von der Rolle und gestresst, wird durch irgendetwas provoziert und geht mit einem SWAT-Messer auf die Familie los. Die sagen ihm bestimmt, wo der Vater ist, aber der Typ dreht komplett durch und bringt alle um, ehe er zum Sportplatz weiterfährt.«

Petter lächelt spöttisch, trinkt ein paar große Schlucke Wasser, rülpst in seine hohle Hand, sieht Joona an und fragt:

»Und, was sagst du zu dieser Erklärung?«

»Wenn sie nicht falsch wäre, dann wäre sie unter Umständen gut«, antwortet Joona.

»Und was ist so falsch an ihr?«, fragt Yngve kampflustig.

»Der Mörder hat erst den Mann am Fußballplatz getötet«, antwortet Joona ruhig. »Dann ist er zu dem Haus gefahren und hat die anderen umgebracht.«

»Und wenn das stimmt, kann er kein Geldeintreiber gewesen sein«, sagt Magdalena Ronander.

»Wir werden ja sehen, was bei der Obduktion herauskommt«, murmelt Yngve.

»Sie wird zeigen, dass ich Recht habe«, erwidert Joona.

»Idiot«, seufzt Yngve und stopft sich zwei Portionstütchen Schweden-Snus unter die Lippe.

»Joona, ich werde dir diesen Fall nicht übergeben«, sagt Petter.

»Das ist mir klar«, seufzt Joona und steht auf.

»Wo willst du hin – wir haben eine Besprechung«, sagt Petter.

»Ich muss mit Carlos reden.«

»Nicht über diese Sache.«

»Doch«, antwortet Joona und verlässt den Raum.

»Bleib hier«, ruft Petter. »Sonst muss ich …«

Joona hört nicht mehr, womit ihm gedroht wird, sondern schließt ruhig die Tür hinter sich, geht den Flur hinunter und grüßt Anja, die seinem Blick über den Computerbildschirm hinweg mit fragender Miene begegnet.

»Bist du nicht in einer Besprechung?«, fragt sie.

»Doch«, antwortet er und schlägt den Weg zum Aufzug ein.

In der fünften Etage befinden sich der Konferenzraum der Landeskriminalpolizei und darüber hinaus das Sekretariat und das Büro von Carlos Eliasson, dem Leiter der Landeskriminalpolizei. Seine Tür ist angelehnt, aber wie üblich mehr geschlossen als offen.

»Herein, herein, herein«, ruft Carlos.

Als Joona eintritt, spiegeln sich gleichzeitig Sorge und Freude in Carlos’ Gesicht.

»Ich will nur kurz meine Kleinen füttern«, sagt er und klopft gegen den Rand des Aquariums.

Lächelnd betrachtet er die Fische, die zur Oberfläche schwimmen, und krümelt Fischfutter ins Wasser.

»Da hast du was«, flüstert er.

Carlos zeigt Nikita, dem kleinsten Paradiesfisch, die Richtung an, dreht sich anschließend um und sagt freundlich:

»Die Mordkommission hat sich erkundigt, ob du dir den Mord in Dalarna anschauen könntest.«

»Den lösen die auch ohne mich«, sagt Joona.

»Sie scheinen sich da nicht so sicher zu sein – Tommy Kofoed ist hier gewesen und hat in der Sache vorgesprochen …«

»Ich habe so oder so keine Zeit«, unterbricht Joona ihn.

Er setzt sich Carlos gegenüber, in dessen Büro es angenehm nach Leder und Holz riecht. Über den Umweg durch das Aquarium scheint die Sonne flirrend in den Raum.

»Ich will den Fall in Tumba übernehmen«, sagt Joona ohne Umschweife.

Für einen kurzen Moment gewinnt der bekümmerte Ausdruck in Carlos’ faltigem, warmherzigem Gesicht die Oberhand.

»Petter Näslund hat mich vor einer Sekunde angerufen. Er hat Recht, das ist nichts für die Landeskripo«, sagt Carlos vorsichtig.

»Da bin ich anderer Meinung«, widerspricht Joona.

»Nur wenn das Eintreiben der Geldschulden mit organisierter Kriminalität zusammenhängt, Joona.«

»Hier ging es nicht darum, Geld einzutreiben.«

»Nicht?«

»Der Mörder hat zuerst den Mann angegriffen«, stellt Joona fest. »Danach ist er zu dem Reihenhaus gefahren, um mit der Familie weiterzumachen. Er wollte die ganze Familie ermorden, er wird auch noch die erwachsene Tochter und den Jungen finden, falls der überlebt.«

Carlos wirft einen kurzen Blick auf sein Aquarium, als befürchtete er, dass seinen Fischen etwas Furchtbares zu Ohren kommen könnte.

»So, so«, sagt er skeptisch. »Und woher weißt du das?«

»Die Schritte im Blut waren im Haus kürzer.«

»Wie meinst du das?«

Joona beugt sich vor und sagt:

»Es waren natürlich überall Fußabdrücke, und ich habe die Schritte auch nicht ausgemessen, aber die in der Umkleide kamen mir … nun ja, frischer vor, die Schritte im Haus waren müder.«

»Jetzt geht das wieder los«, sagt Carlos matt. »Jetzt fängst du wieder an, die Dinge komplizierter zu machen, als sie sind.«

»Aber ich habe Recht«, erwidert Joona.

Carlos schüttelt den Kopf.

»Ich glaube, diesmal irrst du dich.«

»Nein, ich habe Recht.«

Carlos wendet sich den Fischen zu und sagt:

»Dieser Joona Linna ist der sturste Mensch, dem ich je begegnet bin.«

»Aber was passiert, wenn man nachgibt, obwohl man weiß, dass man Recht hat?«

»Nur, weil du so ein Gefühl hast, kann ich dir nicht über Petters Kopf hinweg den Fall übergeben«, erklärt Carlos.

»Doch.«

»Alle glauben, dass es um die Eintreibung von Spielschulden geht.«

»Du auch?«, fragt Joona.

»Oh ja, allerdings.«

»Die Spuren in der Umkleide waren kraftvoller, weil der Mann zuerst ermordet wurde«, beharrt Joona.

»Du gibst wohl nie auf«, sagt Carlos. »Stimmt’s?«

Joona zuckt mit den Schultern und lächelt.

»Am besten rufe ich sofort in der Rechtsmedizin an«, murmelt Carlos und greift nach dem Telefon.

»Sie werden dir sagen, dass ich Recht habe«, antwortet Joona mit gesenktem Blick.

Joona Linna weiß, dass er ein sturer Mensch ist, aber er weiß auch, dass er seine Sturheit braucht, um weitermachen zu können. Vielleicht hat es mit Joonas Vater begonnen, Yrjö Linna, der Streifenpolizist im Polizeidistrikt Märsta war. Joonas Vater befand sich auf der alten Landstraße nach Uppsala, etwas nördlich des Löwenströmska-Krankenhauses, als bei der Einsatzzentrale ein Anruf einging und man ihn in den Hammarbyvägen in Upplands Väsby schickte. Ein Nachbar hatte die Polizei angerufen und gemeldet, dass Olssons Kinder mal wieder Prügel bezogen. 1979 hatte Schweden als erstes Land der Welt die körperliche Züchtigung von Kindern unter Strafe gestellt, und die Landeskriminalpolizei hatte die örtlichen Polizeikräfte angewiesen, das neue Gesetz ernst zu nehmen. Yrjö Linna fuhr mit seinem Streifenwagen auf den Hof und hielt vor der Haustür. Er wartete auf seinen Kollegen Jonny Andersen. Wenige Minuten später meldete sich der Kollege über Funk. Jonny stand vor einer Würstchenbude an und meinte, dass ein Mann auch mal zeigen dürfe, wer der Herr im Haus ist. Yrjö Linna war ein schweigsamer Mensch. Er wusste, dass die Dienstvorschriften bei einem Einsatz dieser Art vorsahen, dass man zu zweit war, aber er bestand nicht darauf. Er sagte nichts, obwohl er wusste, dass er ein Recht auf Unterstützung hatte. Er wollte nicht meckern, wollte nicht feige wirken und konnte nicht länger warten. Yrjö Linna stieg die Treppen in den dritten Stock hinauf und klingelte. Ein Mädchen öffnete ihm mit ängstlichen Augen die Tür. Er bat sie, im Treppenhaus zu warten, aber die Kleine schüttelte nur den Kopf und lief in die Wohnung. Yrjö Linna folgte ihr und gelangte ins Wohnzimmer. Das Mädchen hämmerte gegen die Tür zum Balkon. Yrjö entdeckte, dass dort draußen ein kleiner Junge stand, der nur mit einer Windel bekleidet war. Er schien etwa zwei Jahre alt zu sein. Yrjö eilte quer durch den Raum, um das Kind hereinzulassen und entdeckte deshalb zu spät den betrunkenen Mann, der vollkommen regungslos hinter der Tür auf der Couch saß und das Gesicht dem Balkon zugewandt hatte. Yrjö musste beide Hände einsetzen, um die Sperre lösen und gleichzeitig die Klinke herabdrücken zu können. Erst als er das Klicken der Schrotflinte hörte, hielt er inne. Der Schuss fiel, und ein Schwarm von sechsunddreißig kleinen Bleikugeln traf seinen Rücken. Er war auf der Stelle tot.