Judith Reinhard
Judith und das liebe Vieh
Mein neues Leben auf dem Land
Mit Bruni Prasske
Für meinen Bruder Martin
Um die Persönlichkeitsrechte der in meiner Geschichte vorkommenden Akteure zu wahren, wurden Details wie Name, Beruf und Ort verändert bzw. anonymisiert.
Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See
Umschlagmotiv: © Uwe Böhm Fotografie, Hamburg
ISBN 978-3-641-20860-8
V002
www.gtvh.de
INHALTSVERZEICHNIS
1 Gras ist zum Fressen da
2 Die Schöne, die Dicke und die mit den Warzen
3 Meine Tiere. Meine Weiden
4 Roter Nebel und indigofarbenes Gift
5 Schulbank drücken und Euter pflegen
6 Achtzig Morgen und ein anderes Leben
7 Mein erstes Fleisch
8 Tiere. Trecker. Tücken.
9 Der Doktor und das kranke Vieh
10 Mein erstes Kalb
11 Die Dicke lahmt
12 Anruf aus einer anderen Welt
13 Hof Wümmetal
14 Marktfrau im Winter
15 Willi und der Tod
16 Anders Schlachten und Bullen kneifen
17 Sanfter Tod auf dem Hof
18 Restaurants und glückliche Kunden
19 Feine Küchen und Fanpost aus Tokio
20 Die Dicke und ihr letztes Kalb
21 Himmelsboten des Glücks
Danke
1 GRAS IST ZUM FRESSEN DA
Als ich die Bürotür schloss und in den Wagen stieg, gab es nur den einen Gedanken: Ich will zu meinen Wiesen. Die Anziehung wurde umso stärker, je weiter ich in Richtung Norden kam. Ein Blick auf die Uhr. Nur für eine halbe Stunde, für einen kleinen Spaziergang, für ein kurzes Durchatmen. Im Mai ist es lange hell. Auf halber Strecke zwischen Bremen und Hamburg lag der Bauernhof an der Wümme. Automatisch setzte ich den Blinker und tauchte hinein in das Grün einer Moorlandschaft, die mir einst so vertraut gewesen, im Laufe meines Lebens aber immer fremder geworden war. Die Landstraße führte schnurgerade zu meinem Ziel, auf beiden Seiten vereinzelte Häuser und Höfe mit eigenen Zufahrten, wie es in Moorlandschaften üblich ist. Entwässerungsgräben zwischen den Wiesen, Birken, kleine Waldstücke und dann die Wümme. Fremden wird der Wasserlauf kaum auffallen, an den Straßenrändern geben nur zwei unscheinbare Geländer einen Hinweis auf ein Gewässer. Und dann endlich der freie Blick auf meinen Hof.
Nach dem Öffnen der Tür hörte ich Vogelgezwitscher und den Wind im frischen Eichenlaub. Mit dem nächsten Atemzug hatte ich den Duft der Wümmewiesen in der Nase und ließ ihn tief in meine Lungen.
Im Kofferraum standen neuerdings ein Paar Gummistiefel, und so schlüpfte ich aus meinen feinen Business-Sneakers. Rasch noch eine Weste über die weiße Bluse, fertig. Hinter der Scheune lagen die Weiden und der Fluss. Ein altes Gatter hing schief in den Angeln und knarrte unter meinem Druck. Vor dem klaren Blau des Himmels schwebten dicke weiße Wolken. Ich fühlte den feuchten Boden unter meinen Füßen, der bei jedem Schritt ein wenig nachgab. Ein Trampelpfad führte zur Wümmebrücke, die aus Holzbohlen gezimmert war. Der Fluss war schmal und flach, manchmal konnte man sogar hindurchwaten. Unter bräunlichem Moorwasser schimmerte der Sand, das Ufer ist gesäumt von Erlen, hohem Schilfgras und vereinzelten Schwertlilien. Ich schaute über die Wiesen. Zwanzig Hektar gehörten zum Hof. Zweihunderttausend Quadratmeter landwirtschaftliche Weideflächen, Äcker zum Getreideanbau und Moor mit viel Wildwuchs. Was wächst dort hinter der Weide eigentlich, überlegte ich. Ist das Hafer oder Weizen? Ob die Sorte in den Pachtverträgen eingetragen ist? Ein Moorbruch mit Birken, deren weiße Stämme weithin leuchten, einige dunkle Kiefern und alte Bickbeerensträucher am Rand der Felder, gaben dem Ort etwas Wildromantisches.
Ich stapfte weiter, hin zur schmalen Straße am Friedhof und genoss die frische Luft und das Draußen sein. Einfach nur draußen sein, kein Dach über dem Kopf, keine Neonröhre an der Decke, keine Schreibtischlampe, kein flimmernder Bildschirm, kein Telefon. Instinktiv tastete ich nach meinem Handy. Nein, es war im Auto geblieben. Wie gut.
Als ich das rückwärtige Gatter erreichte, kam ein alter Mann vom Friedhofsgelände, eine Gießkanne hing am Lenker seines Fahrrades, ein Korb mit einer Hacke und Schaufel auf dem Gepäckträger befestigt. Er wollte gerade aufsteigen, als er mich sah.
»Bist du nicht Judith?«, fragte er und schob sein Rad in meine Richtung. Seine Stimme und seine Gestalt kamen mir bekannt vor. In seinem Gesicht entdeckte ich vertraute Züge von jemandem, den ich als Kind gekannt haben muss.
»Ja, Judith Reinhard und Sie? Sind Sie Otto Lührs? Ich war so lange nicht hier, habe Sie ewig nicht gesehen«, sagte ich ein wenig verunsichert. Ottos Milchvieh-Hof lag nicht weit von meinem Elternhaus entfernt.
»Kannst ruhig Otto sagen. Du bist doch ein Mädchen von hier. Wir siezen uns doch nicht.«
Ich hatte den Lührs-Hof vollkommen vergessen, aber zu meinem eigenen Erstaunen gefiel es mir, auf Anhieb erkannt und sogar als eine von hier bezeichnet zu werden. War ich das wirklich? Alteingesessene Moorbauern waren wir Reinhards jedenfalls nicht. In der Nachkriegszeit hatte es meine Eltern als junges Ehepaar hierher verschlagen. Im Moor wurde man nicht so einfach zu einer Hiesigen, auch nicht, wenn man hier geboren war. Unter den Bauern galten eigene und oftmals raue Regeln. Herzliche Gesten und überflüssige Worte gehörten nicht dazu. Und so wunderte es mich nicht, dass Bauer Lührs wortlos auf dem Gatter lehnte und über die Wiesen schaute.
»Das schöne satte Gras«, sagte er schließlich und ich folgte seinem Blick über mein Land, »gutes Futter für Tiere«, setzte er nach und nickte dabei mit dem Kopf, als wolle er sagen: Judith, schau doch mal, das ist gutes Land, und gutes Land kann ein Moorbauer nie genug haben.
Solche Männer wie Otto kannten hier jeden Winkel, vermutlich sogar jeden Baum. Das Gras stand wadenhoch, es war frisch und ein wenig feucht. Wasserperlen benetzten Blätter und Halme, bei genauerem Hinsehen entdeckte ich Klee, Löwenzahn und bunte Blüten unbekannter Kräuter und Blumen. Manche Halme waren deutlich höher als andere. Es sah appetitlich aus, wie auf den Werbefotos für moderne Salate mit blühender Kresse. Was hatte er gesagt? Gutes Futter für Tiere? Damit mochte er recht haben. Dieses Gras konnte Tiere nähren. Tiere konnten darauf grasen. Es war sicher nicht nur dafür da, mir einen Abendspaziergang nach einem anstrengenden Arbeitstag zu ermöglichen, mich mit Düften zu verwöhnen und ein Gefühl von Freiheit zu schenken, sondern es ließ sich daraus etwas machen. Ich könnte daraus etwas machen, schoss es mir durch den Kopf, etwas Sinnvolles.
Ich musste Bauer Lührs angeschaut haben, als habe er etwas Großartiges von sich gegeben. Er lächelte und nickte ein weiteres Mal.
»Ja«, sagte ich rasch, »hier wächst richtig gutes Gras.« Die Worte kamen wie von selbst, und meine Gedanken überschlugen sich förmlich. Als habe er mir eine Weisheit anvertraut, musste ich plötzlich an den Kreislauf der Natur denken, an das Wachsen, an das Fressen von Gras und das Gefressenwerden. Der Mai war nicht nur gekommen, damit ich meinen Daunenmantel in den Schrank hängen und gegen eine Daunenweste eintauschen konnte. Sondern diese Jahreszeit ließ das Gras wachsen, das Gras auf meinen Wiesen. Tiere könnten es fressen, und wir Menschen könnten uns von diesen Tieren ernähren. Mir gefiel der Gedanke. Zwanzig Hektar Land waren nicht viel, aber auch nicht wenig. Ich wusste so gut wie nichts über Landwirtschaft und Tierhaltung, aber der Wunsch nach einer sinnvollen Tat oder gar Tätigkeit ging mir schon länger durch den Kopf. Über viele Jahre waren der berufliche Erfolg in der Modebranche, die Anerkennung durch meine Auftraggeber und das Streben nach größeren und noch erfolgreicheren Projekten ein Ansporn für mich gewesen. Aber in letzter Zeit hinterfragte ich meine Rolle in diesem Geschäft immer öfter.
Gutes Gras und weidende Tiere erschienen mir plötzlich um ein Vielfaches sinnvoller als kurzlebige Mode und ihre profitorientierte Vermarktung. Ich habe Weiden und diese Weiden sind Futter! Mich beglückte diese Vorstellung geradezu. Über Jahre hatte ich den Großteil des Landes Pächtern überlassen, den Rest dem Lauf der Natur, das Hofgebäude an ein junges Paar vermietet und keine Zukunftspläne für die Wümmewiesen geschmiedet. Dieses Land ist eine ferne Vergangenheit für mich, aber doch keine Zukunft – hatte ich immer gedacht. Mein aufreibender Job ließ mir ohnehin keine Zeit für Träumereien und Veränderungen, und Weidebewirtschaftung passte definitiv nicht in meine Welt. Man hatte mir zwar schon einige Male geraten, meine Weiden gelegentlich mähen zu lassen, weil sie sonst verkrauteten, aber ich hatte wenig Lust mich damit zu befassen und liebte die Wiesen, so wie sie waren.
»Vielen Dank«, sagte ich zu Otto Lührs, der mich nun musternd anschaute. Da konnte ich hundertmal im Moor geboren sein und die Kindheit hier verbracht haben. Jetzt stand ich doch wie eine Fremde in ungewöhnlicher Kleidung auf sattem Grün. Meine kurzen dunklen Haare waren streng nach hinten gekämmt, keine einzige Strähne tanzte aus der Reihe, das Make-up zwar dezent, aber dennoch sichtbar, meine Hände gepflegt, die Bluse mit Stehkragen makellos und die Hose weit entfernt von Freizeit- oder gar Arbeitskleidung. Für einen kurzen Moment sah ich mich mit seinen Augen und spürte, ich gehöre hier schon lange nicht mehr dazu. Ich bin keine von ihnen, ich bin kein Wümme-Mädchen mehr. Es kam mir so vor, als könne ich seine Gedanken lesen: Die Judith hat sich verändert. Die Leute sagen, dass sie viel auf Reisen ist, oft in Amerika.
»Was wird denn nun aus dem Hof?«, wollte Otto wissen und schaute zum Haus und der Scheune.
»Das Haus ist vermietet.«
»Aber die haben keine Tiere.«
»Nein, das Paar handelt mit Kleintierfutter. In der Scheune lagert Hunde- und Katzenfutter.«
Otto stieg mit einem ich sach mal Tschüss und einem Handzeichen als Abschiedsgruß aufs Rad und fuhr davon. Seine Gießkanne konnte ich noch eine Weile am Lenker baumeln sehen. Otto hatte etwas Bedeutendes gesagt. Hier gab es Ressourcen, deren Nutzung sinnvoll war. Vielleicht konnte ich hier sogar etwas Nachhaltiges schaffen, für mich und für andere, eine kleine Oase, meinen eigenen kleinen und ehrlichen Beitrag für etwas Gutes. Zwanzig kleine Hektar in unserer großen Welt.
Selbst jetzt um halb zehn am Abend war es noch hell. Ich stand auf der Brücke und schaute über die Wiesen. In Ufernähe entdeckte ich Rehe, wenig später einen Fasan. Im Westen zeigte der Himmel einen roten Schein, im Süden leuchtete er hell und versprach einen schönen Sommer. So zumindest deutete ich den milden Abend. Mein Blick ging hinüber zum Haus. Es schien sich unter den hohen Eichen zu ducken und wirkte behütet. Es war vor Jahrzehnten modernisiert worden und hatte seinen bäuerlichen Charme verloren. Mein Vater hat es seinen Nachkommen hinterlassen. Gewohnt habe ich in diesem Haus nie, aber das Land kenne ich dennoch. Im Moorbruch haben wir damals gespielt und auf den Inseln zwischen den Moorkuhlen unsere Festungshöhlen gebaut. Dort konnte man sich gruseln und dabei ausmalen, wie Eindringlinge sich im Moor verliefen und darin einsanken. Am Ende eines schönen Sommertages schmeckten uns die frischen Bickbeeren. Manchmal nahmen wir einen Eimer mit und pflückten genug für dick belegte Eierpfannkuchen. Nie wieder habe ich köstlichere Heidelbeeren gegessen.
Gern wäre ich länger geblieben, aber der Schreibtisch zu Hause wartete. In der Nacht musste ich einen Kunden in Asien anrufen. Es wurde Zeit. Ich sollte schleunigst weiterfahren. Bevor ich die Gummistiefel auszog, schaute ich noch einmal zurück. Schade um das schöne Gras. Es wuchs langsam heran und es war gutes Gras, wie Otto sagte. Ich sollte es wirklich nutzen. Wenn es schon so langsam heranreifen musste, bis es gut war, dann sollte dieses Wachsen auch einen Sinn haben. In meinem Beruf ging immer alles schnell. Mode war zu einer Massenware und fast schon zu einem Wegwerfprodukt geworden. Ein T-Shirt für fünf Euro, wie konnte das sein? Entworfen, hergestellt, verschifft, vermarktet, verkauft, getragen und aussortiert innerhalb von wenigen Monaten. Es gab keine Langlebigkeit, nur noch den schnellen Konsum. Das störte mich und ganz allmählich blieb meine Leidenschaft für Mode auf der Strecke. Ich war nicht mehr überzeugt von meinem Tun. Es war kein ehrlicher Schaffensbereich mehr, sondern eine künstliche Welt mit künstlich angeregten Bedürfnissen. So erschien es mir immer mehr. Gras und Tiere waren sicher viel echter und ehrlicher, erträumte ich mir. Alle Welt redete von Klima- und Ressourcenschutz. Wo war meine Rolle? Ich hatte einen Hof und zwanzig Hektar Land.
Wenig später lernte ich bei der Geburtstagsfeier eines Freundes Charlotte kennen. »Ich habe Galloway-Rinder«, sagte sie, nachdem ich ihr von meinem Land erzählte, »das sind tolle Tiere, und sie machen fast keine Arbeit. Die stellst du auf die Weide, im Sommer wie im Winter. Die bleiben immer draußen. Zweimal im Jahr machst du eine Wurmkur, das war’s schon. Die fressen dir dein Gras runter und geben gutes Fleisch. Galloways sind echt super.«
Charlottes Begeisterung für diese Tiere wirkte ansteckend. Sie bot mir an, das Fleisch ihrer Galloways zu probieren. Erst kürzlich sei ein Rind geschlachtet worden und bald abgehangen. Den halben Abend löcherte ich sie mit Fragen.
»Für deine Wiesen solltest du dir ein paar junge Färsen oder besser Absetzer kaufen, weibliche Absetzer, die halten das Gras schön kurz. Die kannst du mit gut zwei Jahren belegen lassen und dir eine Herde aufbauen«, riet Charlotte und nippte an ihrem Rotwein. Nach Rinderzüchterin sah sie wirklich nicht aus. Zu ihrem edlen Sommerkleid trug sie passende Slingpumps, ihr Schmuck war geschmackvoll, die Fingernägel dezent lackiert. Im Kuhstall traf man sie vermutlich selten an, aber hatte sie nicht selber gesagt, die Tiere seien zwölf Monate im Jahr auf der Weide? Sehr interessant. Zu später Stunde plauderte ich mit anderen Partygästen über ganz andere Themen. Hier trafen sich Leute aus der Modebranche und Redakteure von Frauenmagazinen. Einige Gäste kannte ich noch von meiner Zeit bei einem großen Modemagazin. Dort hatte ich nach dem Designstudium meine Laufbahn als junge Moderedakteurin begonnen. Das war der Auftakt für meine internationalen Geschäftsreisen. Die großen Modenschauen in London und Paris gehörten dabei zum festen Programm. Fotoreisen führten mich auf die Kanarischen Inseln und die Bahamas, nach Los Angelas, Miami oder New York.
Am späten Abend hörte ich Charlotte über Rennpferde plaudern, was mir weitaus kurzweiliger für die anderen Gäste erschien als das Thema Viehzucht. Angesichts der ungewohnten landwirtschaftlichen Vokabeln von Charlotte, musste ich schmunzeln und freute mich dabei über mein gutes Gedächtnis. Die Sprache der Viehhändler hatte ich als Kind aufgeschnappt. Färsen sind weibliche Rinder bis zur ersten Kalbung und Absetzer junge Tiere, die noch nicht lange von den Eutern ihrer Mütter abgesetzt waren. Und das Belegen war nichts anderes als ein Schwängern der Kühe durch einen Bullen. Aber woher würde ich einen Bullen bekommen, überlegte ich ernsthaft und schmiedete bereits Pläne für einen Besuch bei Charlotte. Es machte mir jetzt zunehmend Spaß, über Tiere, Rinderhaltung und Viehzucht nachzudenken. Mit sechzehn Jahren hatte ich dieser Welt, dem Moor und den Wümmewiesen den Rücken gekehrt, war in die Stadt gezogen und nie zurückgekommen. Bis jetzt.
Den Nachmittag hatte ich mir frei gehalten und fuhr an die Wümme. Unterwegs suchte ich im Handschuhfach nach etwas Süßem, aber meine Hand tastete während der Fahrt vergeblich über Unterlagen, Cremetuben, Lippenstifte und Ladekabel. Wie so oft hatte ich den ganzen Tag noch nichts gegessen. Meistens vergaß ich es schlichtweg, oder ich hatte keine Zeit und es mangelte an Gelegenheiten. Mit Mühe konnte ich meine Kleidergröße 36 halten, einige Hosen rutschten bereits.
Als ich aus dem Auto stieg, zitterten mir die Hände. Ich war vollkommen unterzuckert. Auf der Wümme-Brücke stehend, musste ich an meine Mutter und ihre Kochkünste denken. Bei den Reinhards gab es häufig Fleischgerichte, und ich war eine gute Esserin. Während andere Kinder gierig nach Nudeln mit Ketchup waren, konnte man mir jederzeit ein Kotelett auf den Teller legen. Eine Spezialität meiner Mutter war ihr Nierenragout. Wo wird so etwas heute noch angeboten? Und auch ihr Gulasch oder ihr saftiger Rinderbraten waren köstlich! Beim Gedanken daran lief mir das Wasser im Mund zusammen. Rinderleber mit gebratenen Zwiebeln! Ich sollte unbedingt mal wieder aufwendig kochen. Schon überlegte ich, wo es gutes Fleisch gab. Der Hamburger Isemarkt bot zwar eine exquisite Auswahl, aber zur Marktzeit war ich entweder in meinem Büro oder bei Kunden. Oft bedauerte ich es, kaum noch zu kochen und nur selten ein Proviantpaket dabeizuhaben. In meiner Branche wurde ohnehin nur wenig gegessen. Die meisten Frauen wollten unbedingt schlank sein. Deftige Fleischgerichte gehörten nicht in diese Welt. Seit ewigen Zeiten hatte ich kein perfekt gebratenes Kotelett mehr auf dem Teller gehabt. Jetzt hätte ich einiges dafür gegeben. Fast genauso glücklich wäre ich über ein hausgemachtes Hacksteak. Der Hunger machte mich noch verrückt. In meiner Jackentasche fand ich einen Kaugummi und hätte heulen können. Ein Himmelreich für ein Salamibrot. Ich lachte laut auf und dachte an die große Mittagsrunde, die sich früher beinah jeden Tag in unserer Küche versammelt hatte.
Tante Friedel, unsere Haushaltshilfe, war eine emsige Person gewesen und hatte stets ein Auge auf jeden und alles. Beim Viehhändler Reinhard waren immer diverse Helfer vor Ort. Es herrschte ein reges Treiben, LKWs mit Rindern kamen, andere luden Pferde auf, Futter wurde geliefert, Traktoren mit Heu und Stroh fuhren zu den Unterständen. Einmal stoppte ein Transporter mit Hunderten von Hühnern vor der Einfahrt. Der Fahrer zeigte meiner überraschten Mutter den Lieferschein. Mein Vater hatte die Tiere offenbar irgendwo günstig ersteigert, ohne dass der Hof über geeignete Ställe für Federvieh verfügte. Meine Mutter hatte nur kurz mit dem Kopf geschüttelt und kein Wort über ihr Missfallen verloren. Bei Reinhards ging es eher nüchtern, vor allem aber betriebsam zu. Jeder schien mit sich selber beschäftigt zu sein und irgendeine Aufgabe erledigen zu müssen. Für Herzlichkeit fehlte oft die Zeit. Und so saßen wir Geschwister nach der Schule mit unserer Mutter, Tante Friedel und vier bis fünf Helfern und Fahrern gemeinsam vor dampfenden Kartoffeln, deftigen Soßen, Erbsengemüse und Fleischplatten. Meiner Mutter war es wichtig, dass alle satt wurden. Der Tisch war der Ort der Gemeinsamkeiten auf unserem Hof. Da sprach man dann auch über das Essen und am liebsten über das Fleisch, während man hastig weiter aß. Vielleicht war es sogar die größte Gemeinsamkeit, überlegte ich. Ich saß immer neben Martin, meinem fünf Jahre älteren Bruder. Unser ältester Bruder Andreas war zehn und Sabine acht Jahre älter als ich. Unser jüngster Bruder Marcus kam als Nachzügler sechs Jahre nach mir auf die Welt. Mein Vater war bei den Mittagsrunden nur selten dabei. Er war stets beschäftigt, ein umtriebiger Mann, der überall seine Geschäfte mit Tieren machte.
Mein Magen knurrte und brachte mich auf eine Idee. Ich griff zum Handy und rief Charlotte an.
»Ich würde gern mal das Fleisch deiner Tiere probieren«, kam ich nach der Begrüßung sofort auf den Punkt.
»Dann komm doch vorbei, es sind nur anderthalb Stunden von Hamburg in Richtung Flensburg, wenn die A7 frei ist.«
»Die ist doch nie frei.«
Charlotte lachte und machte den Vorschlag für ein kurzes Treffen zur Fleischübergabe an einer Autobahnraststätte bei Hamburg in den nächsten Tagen. Dort habe sie ohnehin etwas zu erledigen.
Als ich zwei Tage später das 10 Kilogramm Galloway-Fleischpaket auf dem Küchentisch ausbreitete, kamen mein Mann und ich ins Grübeln. Was sollten wir mit diesen unterschiedlichen Fleischportionen anfangen? Ein Tier bestehe schließlich nicht nur aus Filetstücken, hatte Charlotte mich mit einem gespielt strengen Unterton aufgeklärt und deshalb sei in meiner Fleischlieferung etwas vom ganzen Tier dabei. Gallowayfleisch sei sehr gesund und nicht mit konventionellem Rindfleisch zu vergleichen. Die Tiere ständen schließlich das ganze Jahr auf der Weide und würden langsam wachsen. Ich würde es schon selber merken, es schmecke ausgezeichnet und gebe Kraft. Ich fand Knochen, Hack, einen Braten, Gulasch, Suppenfleisch, Rouladen und Steaks in dem Paket. Wie lange hatte ich keine Rouladen mehr gegessen? Charlottes Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Galloways machen keine Arbeit. Wenn das so ist, dann sollte ich es vielleicht mal ausprobieren und mir doch Tiere zulegen. Sie könnten das Gras fressen, auf den Wiesen würde es nicht nutzlos gedeihen und irgendwann hätte ich sogar mein eigenes Fleisch.