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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

DER AUTOR
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Dr. Lutz van Dijk, geboren 1955 in Berlin, deutsch-niederländischer Schriftsteller, war zunächst Lehrer in Hamburg, später Mitarbeiter des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam. Seit 2001 lebt er in Kapstadt, wo er sich als Mitbegründer der Stiftung HOKISA (Homes for Kids in South Africa, ) für von Aids betroffene Kinder einsetzt.
Näheres über Lutz van Dijk und seine Arbeit als Schriftsteller unter: und

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cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch
Der Taschenbuchverlag für Jugendliche
Verlagsgruppe Random House

BEAS BRIEF
 
Der Bahnhof. Früh ist es, schrecklich früh, neblig dazu, alle Bänke noch feucht von der Nacht. Die wenigen Reisenden, die jetzt schon unterwegs sind, haben die Mantelkragen hochgeschlagen oder Mützen und Kopftücher tief ins Gesicht gezogen. Am Kiosk ordnet ein Mann Stapel gerade gelieferter Morgenzeitungen. Er hustet dabei, steckt sich eine Zigarette an, überlegt es sich dann wieder und schnippt sie gegen eine der grünen Mülltonnen. Beim Aufprall stieben Funken und erlöschen einen Moment darauf.
Hier ist es passiert, ziemlich genau vor zwei Wochen, an Gleis neun, da, wo die Züge aus Richtung Norden einfahren, die schnellen Intercitys, Eurocitys, ICEs, alle auf Gleis neun. Ganz an den Anfang, ein Stück außerhalb der Wartehalle selbst, war Silke gerollt, weil die Geschwindigkeit dort noch hoch ist und selbst der beste Lokführer nichts mehr machen kann. Nach wie vor läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich es mir versuche vorzustellen. Die letzten Minuten, bevor der Zug einfuhr: Silke in ihrem dicken roten Anorak, ohne ihre tollen langen blonden Haare, die sie sich noch ein paar Tage vorher auf Streichholzlänge hatte abschneiden lassen. Ob ihr da schon alles egal war? Nein, Unsinn, überhaupt nichts war ihr egal. Sie hat das entschieden. Sie wollte nicht mehr schön sein, nicht mehr kokettieren, nicht mehr hören: »So ein hübsches Mädchen im Rollstuhl, ach!« Was hat sie gedacht in den letzten Augenblicken, bevor der Zug kam? Angeblich soll er ein paar Minuten Verspätung gehabt haben. Ein paar Minuten Bedenkzeit? Noch mal Abwägen, ein Zeichen vom lieben Gott? Silke, tu’s nicht, denk doch an deine Eltern, die sich immer um dich gekümmert haben.
›Eben darum‹, schreit Silke. Immer gekümmert: Silke, pass auf! Das ist nichts für dich, Silke! Einfach kein Umgang! Vorsicht, Silke! Der nutzt dich doch nur aus, Silke! Achtung, viel zu gefährlich! Und die Kehrseite: Sieh mal, wir haben dir einen Pullover in deiner Lieblingsfarbe gekauft … heute Abend gibt es dein Lieblingsessen … möchtest du, dass wir dir einen neuen Videofilm holen? ›Nein‹, schreit es in Silke, leider nur in ihr, es kommt über all die Jahre einfach nicht nach außen: ›Ich pisse auf euren Pullover, ich will Scheiße fressen und Horrorfilme glotzen, bis mir schlecht wird!‹ Wenn sie es doch nur einmal hätte herausbrüllen können.
Jetzt sitzt sie da in ihrem modernen Rollstuhl, eine Leichtmetallausführung, wo einiges zugezahlt werden muss, in jedem Fall besser als mein Klapperkasten, und denkt: Ich tue es. Wenn der Zug aus Kopenhagen einläuft, packe ich beide Räder und schiebe mich zwanzig Zentimeter nach vorn. Das reicht. Dann kippt das Ding mit mir darin nach vorn, und ich lande irgendwo direkt auf den Gleisen. Wichtig ist noch, dass ich möglichst nicht zuerst auf den Kopf falle, sondern noch checken kann, ob ich so liege, dass es wirklich sofort vorbei ist. Ich weiß ja, wie das ist, im Rollstuhl zu sitzen. Das habe ich Millionen von Selbstmördern voraus, die schlampig ans Werk gehen und hinterher staunen, wenn sie noch mal ein paar Jahrzehnte weitermachen sollen – aber im Rollstuhl.
Fest entschlossen sitzt sie da. Handschuhe schützen ihre Finger vor der Kälte, die neuen Handschuhe, die sie eigentlich erst zu Weihnachten bekommen sollte. Aber der Herbst hat dieses Jahr schon ungewöhnlich früh und kalt begonnen, und da dachten ihre Eltern sicher: Ach, unsere Silke soll nicht frieren an den Fingern! Wenn es doch nur auch Handschuhe für die Seele gäbe. So sitzt sie da, hunderttausendmal abgewogen: Wie will ich leben? Wie lebe ich tatsächlich? Was kann ich tun, um mein Leben zu ändern? Antwort: Nichts.
Ich werde immer in diesem Rollstuhl sitzen bleiben. Das äußere Gefängnis. Ich werde immer abhängig bleiben von meinen Eltern, bis sie alt und klapperig sind. Das innere Gefängnis. Jetzt breche ich aus! Flucht nach vorn – oder nach oben. Vielleicht gibt’s ja doch einen Himmel, auch für Rollstuhlfahrer und solche, die keine mehr sein wollen. Alles ist so gewiss. Dieses eine ist zumindest noch ungewiss: Was nach dem Tod kommt. Wenn ich raus bin aus diesem gefesselten Körper mit den hübschen langen Haaren, die wie ein Hohn wirkten. Viel schlimmer als dieses Leben kann es kaum werden. Es macht auch keinen Sinn mehr, mit jemandem darüber zu reden. Mit wem denn? Mit meinen Eltern? Abgehakt. Mit meinem Klassenlehrer an der Sonderschule? Das habe ich früher probiert. Aber wenn es darauf ankommt, dann hält der doch zu meinen Eltern, der Feigling. Und die Leute aus der Jugendgruppe im Behindertenzentrum? Die haben doch selber alle die Schnauze voll. Bis auf Bea vielleicht. Bea?
Jetzt werde ich sentimental. Wieso soll gerade sie an mich gedacht haben? Weil ich meine, dass wir doch beste Freundinnen füreinander waren? Ja genau! Stärker noch: weil ich dich auf meine Art geliebt habe, einfach darum! Silke, geliebte Silke, was fällt dir ein, mich im Stich zu lassen, mich in meinem alten Klapperrollstuhl einfach zu vergessen? Überhaupt kein Mitleid habe ich mit dir. Hundsblöd bist du! Abhauen hättest du doch auch mit mir können. Aber nicht zum lieben Gott, sondern irgendwo in den Süden. Mensch, da haben wir doch mal beide von geträumt, hast du das alles total vergessen an diesem einen Morgen?
Mich stinkt schließlich alles genauso an wie dich: überall Bordsteine, überall Treppen, überall unsichere Menschen, die entweder unfreundlich rumpöbeln oder höflich wegschauen, wenn du dich irgendwo abquälst, um herein- oder herauf- oder wieder herunterzukommen. Ach, hör auf mit der alten Platte! Ich will dir mal was ganz anderes sagen – wobei ich mir gleichzeitig in den Hintern beißen könnte vor Wut, dass ich so nicht vor jenem Morgen mit dir geredet habe: Auch ich haue jetzt ab von hier, von dieser Stadt, von diesen Menschen, von diesem Bahnhof! Aber anders als du. Wenn du willst, kannst du ja immer noch mitkommen. Einen Schutzengel werde ich in jedem Fall gebrauchen können.
So rede ich auf mich ein am anderen Ende des Bahnhofs, nur um nicht ebenfalls durchzudrehen. Die Züge nach Süden gehen ab auf Gleis zwei. Genau am anderen Ende der Halle. Als endlich meine Bahn kommt, schaue ich kein einziges Mal mehr hinüber zu Gleis neun.
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Der Brief. An dich. An wen denn sonst? Mit der Anschrift wird es eventuell noch Probleme geben. Aber wenn alle Stricke reißen, verbuddele ich ihn später auf deinem Grab. Falls ich jemals zurückkomme, heißt es. Der Brief ist auch mehr ein leeres Schulheft, aber wenn ich es später in einen größeren Umschlag stecke, sieht es doch wieder wie ein Brief aus. Ich finde, dass es ein Brief sein soll. An dich. Weil ich dir alles erzählen will, so wie früher. Dann weißt du wenigstens, was du verpasst hast, du blödeste aller Freundinnen … wie ich dich liebe! Und jetzt geht der Brief einfach los:
Weil noch drei Tage Herbstferien sind, habe ich zu Hause gesagt, dass ich Katrin aus dem Zentrum besuchen will und auch bei ihr übernachten kann. »Bea braucht einfach Abstand, es hat sie alles doch sehr mitgenommen!«, meinte Mutter. Natürlich hat Vater trotzdem bei Katrin angerufen, um zu fragen, ob es auch ihren Eltern recht ist. Die sind aber die ganzen Ferien auf Gran Canaria, und zum Glück war erst Katrins ältester Bruder dran, der von gar nichts wusste, und schließlich Katrin selbst, die bestätigte, dass alles in Ordnung sei und ich gern bei ihr schlafen könne. Von Gran Canaria kein Wort. Ich habe Katrin versprochen, ihr später alles zu erklären, und gebeten, nur bitte dieses eine Mal mitzuspielen. Wenn ich dann nicht bei ihr auftauchen würde, könne sie ja nichts dafür. Aber ich hätte doch zwei wertvolle Tage Zeit gewonnen.
Von zu Hause abhauen ist wohl niemals ein Kinderspiel. Mit einem Rollstuhl hat das fraglos seinen eigenen Charme. Zum Beispiel erwartet die Bahnverwaltung, dass Rollstuhlfahrer, die Hilfe benötigen beim Einsteigen, dies vierundzwanzig Stunden vorher anmelden. Habe ich nicht gemacht, weil natürlich bei der simpelsten Rückfrage alles aufgeflogen wäre. Da kommt also mein Zug nach München: Inzwischen stehen mehr Leute auf dem Bahnsteig, und kaum haben die Wagen angehalten, drängen sie auch schon zu den automatischen Türen. Knopfdruck, leises Zischen und schon schubsen sie los. Eine Frau bleibt mit ihrer Plastiktüte irgendwo hängen und meckert dafür einen älteren Mann an, der überhaupt nichts dafür kann und ziemlich verdutzt schaut. Super – die Nichtbehinderten unter sich, ganz reizend.
In Bezug auf mich reden sie sich wahrscheinlich alle ein: Sieh mal, die junge Behinderte da, so früh schon auf, die holt sicher jemanden ab. Praktischer Gedanke, weil man mich so einfach stehen lassen kann. Ich recke meinen Hals, ob irgendwo eine Bahnaufsicht herumläuft. Tatsächlich, ganz vorn bei der Lok steht jemand in Uniform und schwatzt mit einem Kollegen. »Hallo!«, rufe ich, so laut ich kann. Ist aber nicht laut genug, weil die einfach zu weit weg sind, und wieso sollen die auch in meine Richtung schauen? Außerdem haben sie dazu ja keinen Grund. Ich hätte mich schließlich vierundzwanzig Stunden vorher anmelden müssen. Plötzlich hebt einer der beiden Bahnbeamten seine Kelle und pfeift – um Himmels willen, die fahren gleich ohne mich ab! Alle anderen Fahrgäste haben inzwischen ihre Plätze eingenommen, ihre Mäntel und Jacken aufgehängt und sich hinter Zeitungen verschanzt. Was bleibt mir übrig? Ich schiebe mich ganz dicht bis an eine der Türen und rufe nach drinnen: »Hallo, könnte mir mal jemand helfen, bitte?« Keine Reaktion, ein Zug voller Taubstummer, da müssten wir doch Verständnis für haben, was, Silke?
Inzwischen schwitze ich vor Panik und denke schon, na gut, dann eben den nächsten Zug nach Frankfurt, wie oft bin ich so schon abgehängt worden, als plötzlich hinter mir ein Junge angerast kommt, an mir vorbeihechtet und im letzten Moment den Sperrhebel für die Türöffnung herunterzieht. Er ist höchstens zehn oder elf, eine halbe Portion in ungewöhnlich schicken Klamotten, aber immerhin der Einzige, der mir hilft. Er mimt erst den Starken, sagt: »Mach ich!«, und zerrt wie wild an meinem Rollstuhl herum. Aber ich weiß, wie schwer das Ding ist, und beruhige ihn: »Mann, das ist total nett von dir – aber da muss wohl noch ein Zweiter mit anheben!«
Da der Zug wegen der Türsperre nicht abfahren kann, hat sich inzwischen der Bahnbeamte mit der Kelle zu uns bemüht. Aus der Nähe sieht er ganz freundlich aus, fasst sofort mit an und hievt mich gemeinsam mit dem Jungen, der unbedingt mit anfassen will, in den Zug. »Vielen Dank!«, sage ich zu beiden. Der Beamte tippt sich an seine Schirmmütze und informiert mich professionell: »Es ist so, dass Sie uns einen Tag vorher Bescheid sagen können, dann ist immer jemand für Sie da!« – »Oh«, entgegne ich ernst, »das ist ja toll!«
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Ich weiß, dass du jetzt grinst, Silke. Wie oft haben wir solche Situationen zusammen erlebt. Weißt du noch, die schrille Geschichte mit dem Bademeister am Eingang unseres Schwimmbads an jenem Montagabend? So ein jung-dynamischer Sportstudiotyp in weißer, prall über einem Knackarsch sitzender Turnhose und sonnengebräunt muskulösem Oberkörper, der uns weismachen wollte, dass es doch extra den Dienstagabend für das Behindertenschwimmen gäbe, mit erhöhter Wassertemperatur und zusätzlich geschultem Aufsichtspersonal und einem abgeschirmten Beckenbereich für uns Behinderte. Nur eine Sekunde schauten wir uns in die Augen, und ohne ein Wort war klar, dass wir absolut keinen Bock hatten auf lauwarmes Wasser, Sozialarbeiter in Bademeisterhosen und ein abgesperrtes Krüppelbassin. Und wie du dann mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt gefragt hast: »Ja, wir haben gelesen von Ihren Extraabenden im Hallenbad und wollten fragen, was heute Abend dran ist.« Natürlich wussten wir das. Aber wir freuten uns tierisch, wie der Hallenbad-Tarzan herumdruckste, sich unsicher umschaute und schließlich zwischen zusammengepressten Zähnen hervorstieß: »Montag ist Nacktschwimmen!« – »Super!«, strahlten wir ihn beide an und rollten mit vollem Schwung zur Kasse vor.
Hintergrund der ganzen Geschichte war, dass Karsten, der schwule Lehrer, der mit seinem Freund in der Wohnung über euch wohnt, einmal erzählt hatte, dass er immer montags zum Nacktschwimmen gehen würde und dass das ganz lustig sei, weil da fast nur Schwule und ein paar nette ältere Frauen kämen. Und genauso lustig wurde es auch: Wir halfen uns gegenseitig beim Ausziehen in einer der beiden Umkleidekabinen für Behinderte, die es seit einiger Zeit hier gab, und rollten dann bis zu den Duschen, wo wir aus unseren Stühlen rutschten und uns aus eigener Kraft bis zum Beckenrand zogen. Bei den Duschen waren noch immer keine Knöpfe in unserer Höhe angebracht, sodass wir die nicht benutzen konnten. Aber das war nicht schlimm. Denn kaum waren wir in der Halle, hatte uns jener Karsten auch schon entdeckt und rief so laut, dass alle es hören konnten: »Hey, Silke – stark, dass ihr gekommen seid!« Wir ließen uns ins Wasser plumpsen und paddelten zu ihm hinüber. Er hing da am Beckenrand mit ein paar anderen Männern, tatsächlich fast nur Männer, viele jüngere, auch ein paar ältere, und die meisten hingen am Beckenrand und schauten sich an oder redeten miteinander. Nur ein paar schwammen richtig. Jetzt entdeckten wir auch wenige Frauen, die ungestört ihre Bahnen zogen, ganz entspannt, keine blöde Anmache und vor allem kein Glotzen zu uns herüber. Wenn du nicht bald darauf wieder dein blödes Asthma bekommen hättest, wären wir sicher noch öfter dahin gegangen. Beim Anziehen haben wir noch gelacht wie verrückt, da wir merkten, dass Tarzan immer in der Nähe unserer Kabine herumschlich, während wir uns ausgiebig mit Massageöl einrieben, dabei genüsslich stöhnten, und als wir plötzlich die Tür aufstießen, er sich schnell abwandte, aber wir doch entdeckt hatten, dass er eine voll rote Birne hatte. War das denn nichts, Silke? Wieso hat dies alles nicht mehr gezählt an jenem Morgen an Gleis neun?
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Während ich unser Schwimmbadabenteuer notierte, ist der kleine Junge wieder neben mir aufgetaucht: »Drinnen ist nichts mehr zum Sitzen. Bin den ganzen Zug durchgelaufen.« Wenn er vor mir steht, können wir ungefähr auf Augenhöhe miteinander reden, wirklich angenehm. Sonst ist keiner mit uns auf dem Gang. »Wo fährst du denn hin?«, frage ich ihn. »Endstation«, meint er und stellt sich breitbeinig hin, um besser das Geruckel des Zuges ausgleichen zu können, »bis München und dann noch ein Stück mit dem Bus weiter.« Ich staune – so eine lange Strecke, immerhin ist er ja noch ziemlich jung. Bevor ich weiterstaunen kann, kommt der Kontrolleur. »Hinter dem Ruhrgebiet wird’s leerer!«, brummt er uns zu, drückt seine Zange in mein Ticket, ohne genau hinzugucken, und schaut dann fragend zu dem Jungen in den edlen Klamotten. Der bleibt ganz cool und antwortet ruhig: »Tut mir leid, mein Vater ist im Speisewagen, der hat unsere Fahrscheine!« Einen Moment scheint der Bahnbeamte nachzudenken, bevor er mit tiefer Stimme zurückgibt: »Ist gut, ich komme aber in jedem Fall bis München noch mal hier vorbei!«
Der Minidressman scheint einer von der ausgekochten Sorte zu sein. Immerhin habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie er allein eingestiegen ist. Zum ersten Mal grinst er: »In neunzig Prozent der Fälle haben die auf dem Rückweg vergessen, wie das genau mit dem Vater war. Für den Notfall habe ich aber auch noch andere Geschichten drauf. Wichtig ist nur, dass du gut angezogen bist. Das verunsichert. Dann denkt der: Bestimmt so’n reiches Söhnchen mit noch reicherem Papa, mit so was muss man sich lieber nicht anlegen. Eigentlich blöd, nicht?« Er gefällt mir, und ich habe Lust, mehr von ihm kennenzulernen. »Was willst du denn in München?«, frage ich ihn.
»In einem kleinen Dorf, eine Busstunde außerhalb von München, wohnt meine Oma in einem ganz beschissenen Altersheim. Bis vor einem halben Jahr hat sie bei uns gelebt. Aber dann hat Vater eine Beförderung nach Norddeutschland bekommen, jede Menge Kohle, und kurz vor unserem Umzug haben meine Eltern erklärt, dass Oma ins Heim muss, dass das auch besser für sie wäre, einen alten Baum soll man nicht mehr verpflanzen und all so’n Scheiß. Da hat Oma geheult und gesagt, dass wir doch alles für sie sind, vor allem wir drei Enkelkinder, und seit Opa tot ist, ihr völlig egal wäre, wo sie lebt, wenn sie nur in unserer Nähe ist. Dann hat Vater wieder drauflosgeredet, dass wir sie ja ganz oft besuchen kämen und dass das ein ganz tolles Seniorenhaus wäre, mit allem Luxus und Ärzten und allem Drum und Dran. Plötzlich hat Oma nichts mehr gesagt, sie hat sich die Nase geputzt und kein Wort mehr. Nicht mal mehr geweint – und ich habe ihr später ins Ohr geflüstert: ›Oma, ich komme dich wirklich besuchen!‹ Bis jetzt war ich schon viermal bei ihr, meine Eltern noch nie und meine Geschwister sind ja noch zu klein. Jedes Mal bin ich schwarzgefahren, weil sie mir nicht mal einen Cent für die Fahrkarte geben, denn sie meinen, so würde sich Oma nie an die Veränderung gewöhnen. Erst haben sie gedacht, dass sie mich damit zurückhalten könnten. Nachdem ich das erste Mal heimlich bei Oma war, haben sie gedroht, dass sie mich mit der Polizei aus dem Zug holen lassen würden. Aber da habe ich ganz klar gespürt: Das machen die nie, das wäre denen viel zu peinlich, wenn ich alles von Oma erzähle. Und inzwischen wissen sie ja auch, dass ich weder entführt noch vergewaltigt oder umgebracht worden bin.«
Er holt tief Atem nach seiner langen Rede. Dann klappt er sich einen der Sitze auf dem Gang herunter und schaut mich neugierig an: »Und du?« – »Ich habe keine Oma mehr, leider«, antworte ich. – »Ja«, meint er nachdenklich, »das ist wirklich traurig. Omas können echt Klasse sein!« Nach einer Pause reicht er mir plötzlich seine Kinderhand und stellt sich vor wie in einem alten Film: »Ich heiße Jakob!« Es hätte gepasst, dass er jetzt noch einen Diener macht. Wenig später haben wir die erste größere Stadt erreicht und ein paar Leute steigen aus. In einem Abteil nicht weit von uns bleibt ein Platz frei. »Willst du dich da nicht hinsetzen, Jakob?«, frage ich ihn. – »Nein, ich will lieber mit dir reden«, meint er, »dann vergeht die Zeit schneller, und mit den meisten Erwachsenen kann man nicht reden. Wie heißt du denn und wie alt bist du?« Ich nenne meinen Namen und sage, dass ich gerade sechzehn geworden bin. »So alt schon?«, meint er staunend.
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Siehst du, Silke, wenn Kinder finden, dass du kein Kind mehr bist, dann ist da was dran! Immer wieder hast du dich aufgeregt, dass alle Leute dich wie ein Kind behandelt haben. Oder wie sie denken, wie ein Kind behandelt werden soll. Jakob straft diese Sichtweise deutlich Lügen. Er tut, was er für richtig hält – auch gegen Erwachsene, wenn’s sein muss. Wenn du das doch nur auch geschafft hättest – gegen deinen blöden Onkel Manfred zum Beispiel. Seit der bei euch wohnt, ging’s eigentlich noch einmal ein Stück bergab mit dir. Warum hast du auch nicht den Mund aufgemacht? Garantiert hätten deine Eltern den rausgeschmissen: der jüngste Bruder deiner Mutter, angeblich trocken nach einer längeren Entziehungskur und nur vorübergehend in eurem Gästezimmer, bis er eine eigene Wohnung gefunden haben wollte. Wenn du mich fragst, wird der noch in zehn Jahren bei euch wohnen, so wie der sucht, nie eine Wohnung finden und weiter irgendwelche Mädchen angrabbeln. Dass du das überhaupt geschluckt hast so lange.
Meistens Freitagabends, wenn deine Eltern beim Kartenspielen waren und später nach Hause kamen, tauchte ausgerechnet der immer früher auf. Natürlich mit einer Fahne drei Meilen gegen den Wind. Du hast um die Zeit häufig noch Fernsehen geguckt, und da kam er dann immer an: »Silke, du bist noch ein kleines Mädchen, nicht? Lass mich mal sehen: Hast du schon einen Busen? Zwei richtige volle Brüste zum Anfassen? Zeig mal, Silke, Mensch, hab keine Angst, die sind ja noch ganz klein...« Und dann grapschte er an deinem Schlafanzug herum und versuchte, mit seinen Pranken unter den Stoff zu fahren. Angeblich hast du ihn ja jedes Mal zurückgewiesen. Aber ich finde, wir hätten was ganz anderes machen sollen. Willst du wissen, was?
Jetzt spinne ich mal: Es ist wieder Freitag, deine Eltern beim Kartenkloppen und du hörst, wie Onkel Manfred am Wohnungstürschloss herumfummelt. Vorher haben wir alles im Wohnzimmer präpariert, meinen Rollstuhl in deinem Zimmer deponiert, und ich hocke mucksmäuschenstill hinter dem Riesenfernsehsessel von deinem Vater. Du guckst blöd wie immer, wenn er ins Wohnzimmer torkelt, und sagst: »Onkel Manfred, ich will nicht, dass du dich so dicht neben mich aufs Sofa setzt.« Und dann fängt er an zu labern: »Ach, Silke, ich möchte doch nur mal sehen, ob du schon ein paar Haare da unten hast, will doch einfach nur wissen, ob du noch ein Mädchen bist. Oder etwa schon eine richtige Frau?« Dann du wieder, richtig schön laut und deutlich: »Onkel Manfred, nimm deine Finger von meinem Pyjama!« Ich mache mit der Fernbedienung den Ton beim Fernseher leiser, damit jedes Wort von dem alten Ekel gut draufkommt. »Silkelein, du musst deinen Onkel nicht so zurückweisen, lass mich mal fühlen, wie du dich verändert hast in den letzten Monaten, komm mal, Kleines, stell dich nicht so an …« Und kurz bevor er richtig loslegt, schalte ich den Fernseher völlig aus, zack, und rufe von meinem Platz hinter dem Fernsehsessel: »Silke, was ist denn – hast du Probleme?«
Erst wird er erschrocken sein, dann aber schnell so tun, als sei alles nur ein Scherz gewesen: »Ach, du hast Besuch von deiner Freundin, wie heißt du – Bea? Na denn, schönen Abend noch!« Und weg wäre er, zurück zur Kneipe oder auf sein Zimmer, um den Rausch auszuschlafen. Aber wir hätten alles auf Band gehabt und am nächsten Morgen beim Frühstück wäre Premiere eines Familienhörspiels gewesen: Fernsehabend mit Onkel Manfred! Wieso hast du dich bloß über den ganzen Quatsch so geschämt und außer mir nie jemandem davon erzählt?
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Bevor ich weiterschreiben kann, stößt mich Jakob in die Seite und flüstert: »Bea, der Bahntyp kommt zurück – ich habe das blöde Gefühl, dass er zu den zehn Prozent gehört, die sich erinnern. Hast du zufällig eine Idee?« Um ihm eine Fahrkarte zu spendieren, reicht mein Geld nicht. Außerdem weiß ich noch nicht genau, wie ich von München weiterkomme, und will alles Gesparte so lange wie möglich zusammenhalten. »Lauf mal vor zum Klo und warte da auf mich!«, entgegne ich spontan. Am anderen Ende des Ganges gibt es eine Behindertentoilette, in die wir eigentlich beide gut hineinpassen müssten. Jakob rennt vor, um aus der Sichtweite des Kontrolleurs zu bleiben. Langsam rolle ich hinterher. Im letzten Moment erreiche auch ich das Örtchen, Jakob schiebt schnell die Tür hinter mir zu.
Wir halten den Atem an, und nur einmal kommt er aus Versehen gegen den Knopf für das Wasser zum Händewaschen, woraufhin ein warmer Strahl ins Becken fließt. Höchstens ein oder zwei Minuten später klopft es an der Tür, und die bekannte Brummstimme des Bahnbeamten ertönt fragend: »Alles in Ordnung?« – »Ja bestens, vielen Dank!«, rufe ich zurück durch die geschlossene Tür. Kurz darauf hören wir die automatische Schiebetür zum nächsten Wagen auf- und wieder zugleiten. Jakob hat eine Hand auf meinen Arm gelegt und sich so dicht an mich gelehnt, dass ich spüren kann, wie sein Herz klopft. Er fühlt sich ganz warm an, und ich staune wieder, wie zart seine Hände noch sind. Ich habe wirklich keine Angst vor Jungen oder Männern, finde es aber zum zweiten Mal äußerst sympathisch, dass Jakob noch so klein ist, so wahrhaftig und noch so ungeübt mit all den Mackertouren. Bei ihm wirkt es lustig, wenn er zeigt, wie stark er schon ist, oder sich breitbeinig aufbaut, um etwas größer zu erscheinen. Jakobs Oma kann wirklich stolz auf ihn sein.
Als wir die automatische Klinke berühren und die extragroße Klotür wieder aufgleitet, stehen ein paar Reisende mit Koffern direkt davor. Sie schauen etwas irritiert, als sie uns ungleiches Pärchen herauskommen sehen, rücken dann aber ohne Murren die Koffer beiseite, sodass wir leicht durchkommen. Zum ersten Mal schiebt mich jetzt Jakob, ein wenig stolz, vermute ich, und so lasse ich ihn machen. Da der Zug nun deutlich leerer ist, finden wir sogar ein ganzes Abteil für uns. Kaum sind wir drinnen, zieht Jakob die Gardinen dicht: »Bis München kommt keine Kontrolle mehr!« Dann holt er eine kleine Brauseflasche aus seiner gefütterten Markenlederjacke und reicht sie mir herüber: »Was willst du eigentlich in München, Bea?«
Gute Frage. In drei Stunden werden wir schon dort sein und so richtig klar sind meine weiteren Pläne noch immer nicht. Eine Nacht ausruhen irgendwo in einem billigen Hotel am Bahnhof und dann wollte ich gern in die Schweiz weiterfahren. Ich habe in einem Bergkalender mal die wahnsinnigsten Panoramaaufnahmen von irgendwelchen Schweizer Alpen gesehen. Wenn mich irgendwas reizt auf dieser Welt, dann ist es, mit meinem Rollstuhl auf so einen Drei- oder lieber noch Viertausender raufzukommen, jedenfalls so hoch es geht mit diesen tollen Liften, in denen man über die wildesten Täler nach oben schweben kann. Und hoch oben werde ich dann stehen und ganz laut deinen Namen rufen, Silke …