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Pater Johannes Pausch



Sternstunden
und
Wüstentage


Die kostbaren Momente im Alltag entdecken
Übungen, Gebete, Meditationen







GoldmannMosaikBei_innen.tif

Buch

Wir werden immer wieder mit Situationen konfrontiert, die uns an unsere Grenzen bringen und die negativen Seiten des Lebens spüren lassen. Doch gerade diese Wüstentage, wie Pater Johannes Pausch solche Erfahrungen nennt, halten eine Chance bereit: Sie laden uns zum Innehalten ein und öffnen uns die Augen für die Sternstunden des Lebens – jene besonderen Augenblicke, die uns eine tiefe Einsicht vermitteln, neue Kraft schöpfen lassen und uns in unserem Glauben bestätigen. Der Benediktinermönch sensibilisiert für diese kostbaren Momente im Alltag, die einen Klang in der Seele hinterlassen, der immer wieder neu ertönen kann. So zählen diese Sternstunden zu den kostbarsten Schätzen unseres Lebens, da sie uns einem Leben voll Glück und Zufriedenheit näher bringen. Doch zunächst geht es darum, ein Gefühl für die Wüstenerfahrung zu bekommen, um Sternstunden überhaupt erkennen zu können. In seinem 3-Wochen-Übungsprogramm führt Pater Johannes den Leser durch Meditationen, Übungen und Gebete zu einer positiven Lebenswahrnehmung.

Autor

Pater Dr. Johannes Pausch OSB, geboren 1949, zählt zu den weithin bekannten spirituellen Lehrern im deutschsprachigen Raum. Der Benediktinermönch und Psychotherapeut leitet das Kloster Gut Aich in St. Gilgen am Wolfgangsee in Österreich. Er ist ein erfolgreicher Autor und gefragter Kursleiter.

Von Pater Johannes Pausch außerdem bei Mosaik bei Goldmann

Himmlisch leben (17056)

Himmlisch leben jeden Tag (17033)

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wurden vom Autor geändert.


Abt Otto Strohmaier von St. Lambrecht
zu seinem 25-jährigen Abtjubiläum
in Dankbarkeit gewidmet

1. Auflage

Vollständige Taschenbuchausgabe November 2010

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© 2007 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

KW · Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-04918-8
V002

www.mosaik-goldmann.de

Einleitung

Wenn die Zeiten inwendiger, stiller und manchmal auch dunkler werden, ereignen sich oft die wichtigen Dinge im Leben, auch wenn die äußeren Zeichen dürftiger sind. Wenn die schreienden Lichter, die auch noch die Nächte zum Tag machen wollen, verlöschen und die dunkle Nacht vielleicht nicht nur ihre schönsten, sondern auch ihre bedrückendsten Seiten zeigt, dann ist es Zeit, die Sterne zu suchen. Wenn uns eine Zeit des Innehaltens und zum Atemholen geschenkt wird – und sei sie auch erzwungen wie im Wartesaal der Ambulanz eines Krankenhauses mit Bangen und Hoffen, mit Zweifel und Zuversicht über den Ausgang dieser oder jener Untersuchung –, wenn ich mich hineinbegeben muss in den Lauf des Schicksals eines Lebens und nicht weiß, ob ich nicht ein ganz anderer sein werde, wenn ich durch die Tür wieder hinausgehe aus diesem Raum, ob geschwächt oder gestärkt – niemand kann es sagen –, dann sind die Zeiten nicht nur wankelmütig, sie sind auch wandlungsfähig. Es sind Zeiten der Wandlung für mich und für andere.

Ich werde gezwungen, ein wenig langsamer zu gehen, weil der, den ich da begleiten soll oder begleiten muss, sich auf einen Stock stützt oder gar selbst nicht mehr zu Fuß gehen kann. Mein Idealtempo wäre so unmenschlich wie unmöglich, auch wenn es noch so gut gemeint wäre, wenn ich versuchte, den anderen zu aktivieren, damit er wieder auf Draht ist und zu Tempo kommt.

Das sind die Situationen, in denen ich die Worte, die ich denke oder sage, noch einmal und noch einmal wiederholen muss, bis hin zur Lächerlichkeit, weil diejenigen, die es hören und begreifen sollen, den Hörapparat zu Hause vergessen haben und mich nur anstrahlen oder verzweifelt sind
und mir nichts anderes übrig bleibt, als auch zu strahlen oder zu zweifeln an mir und dieser Welt. Wenn dann die Stunden kommen – bei der Arbeit oder in einer Beziehung
– und ich keinen Sinn mehr sehe, ausgelaugt und hilflos bin, nur noch davonlaufen möchte, oder wenn das nicht geht, wenigstens den Kopf in den Sand stecken möchte, um mich und andere in meiner und ihrer Ohnmacht nicht sehen zu müssen, dann muss ich in der dunklen Nacht einen Stern suchen.

Oft meine ich, dass diese Stunden, in denen ich den Sternen begegne und nicht wie ein »Hans Guckindieluft« nur einfach schaue und träume, sondern wirklich die Erfahrung eines großen Lichtes mache, diejenigen sind, die mir Leben geben. Aber ich glaube es nicht. Sternstunden nehme ich
ja nicht dann wahr, wenn ich ein Beförderungsdekret entgegennehme und Hofrat werde oder päpstlicher Besenkammernverwalter mit einer roten Schärpe und einem großen Hut. Sternstunden sind auch nicht dann zu haben, wenn ich von meinem Chef eine Belobigung bekomme für eine Umsatzsteigerung oder den Ehrenpreis der Firma für einen Rationalisierungserfolg, der hundert Menschen arbeitslos macht.

Sternstunden sind auch nicht die Zeiten, in denen ich einem anderen tief in die Augen schaue und im Ozean der Wonne versinke, obwohl auch das zu den schönsten Augenblicken des Lebens gehört.

Es ist auch nicht eine Zeit der großen Bilanzen oder der Geschäftsanalysen, nicht die Zeit der erfolgreichen Geschäftsabschlüsse, so positiv dies alles auch sein mag. Sternstunden sind Augenblicke tiefster Erkenntnis, oft in alltäglicher Gestalt, sie kommen uns entgegen in den Menschen unseres täglichen Lebens. Das, was ich bisher noch nicht gesehen habe, das, was mir bisher nicht auf- oder eingefallen ist, bekommt Bedeutung. Vor allem deshalb, weil ich die Dunkelheit des Lebens stärker wahrnehme als sonst, nicht in Form von Zweifeln oder Verzweiflung oder einer depressiven Phase, sondern indem ich die Wirklichkeit nüchtern einschätze, eine Wirklichkeit, die oft so brutal und hart auf mich zukommt und mir den Atem zu nehmen scheint. Der Atem stockt dann auch richtig. Das Leben oder der Lebensmut hängt an einem seidenen Faden, und dann taucht irgendwoher, ich weiß nicht woher, ein Licht auf, eine Erkenntnis, die Erinnerung an ein Ereignis. Es ist, als wenn ein Bild, ein altes Bild, wieder neu gezeichnet wird, ein Gegenstand tritt in mein Leben, eine Geschichte, eine Erfahrung – wodurch auch immer. Dieses Bild, dieses Licht lässt sich in Beziehung setzen mit meinem Leben.

So als ob ein Stern aus dunkler Nacht aufleuchtet und sich mit meinem Stern in der Dunkelheit des Himmels und der Erde verbindet, und nur einen Augenblick lang voller Gnade, unverdient, nur einfach so eine Erkenntnis im Herzen aufleuchtet, die im Raum des ewigen lichten Sternenhimmels der Nacht neues Leben schenkt, fern aller Ratio, unerklärlich, aber zutiefst berührend.

Man muss sich erinnern können. Diese Fähigkeit brauche ich. Im Inneren hat sich etwas ereignet, ich bin angerührt und bewegt. Ich weiß, dass ich das Leben in irgendeiner Form gesehen und gespürt habe. Sich erinnern können heißt, im eigenen Herzen zu lesen und das Spiegelbild des Lebens zu erahnen und als Ganzes zu sehen.

Man kann solche Sternstunden nicht neben alle anderen Stunden stellen, die sich in der Rumpelkammer unseres Lebens befinden. Sie verändern und hinterlassen einen Klang in unserer Seele, der nie vergeht, der immer wieder neu erklingen kann, wenn wir daran erinnert werden, wenn unsere Seele berührt wird oder wenn wir uns an jenes scheinbar banale und einfache Ereignis erinnern, das wir nicht sehen konnten und wollten als einen Meilenstein auf unserem Lebensweg.

Diese Sternstunden werden im Herzen gespeichert. Sie zählen zu den kostbarsten Schätzen unseres Lebens und können nur mit Menschen geteilt werden, die zumindest den Schatz einer solchen Sternstunde im Herzen haben.

Man könnte es als Zufall bezeichnen, als Glücksmoment, aber die Seele weiß, dass diese Erfahrungen gnadenhafte Geschenke Gottes sind, der sich unser annimmt und in unser Leben eintritt und immer seinen Gnadenstrom öffnet und sendet. Mein Empfänger ist oft abgeschaltet oder mit dem Empfang anderer Botschaften beschäftigt. Ich stehe im Rampenlicht von so vielen sinnvollen oder überflüssigen Ereignissen, sodass für die Sterne in solchen Augenblicken kein Platz vorhanden ist. Weiß ich es noch? Sterne leuchten auch am Tag. Aber in der Nacht kannst du sie sehen.

Die Ereignisse und Erkenntnisse, die ich in diesem Buch zusammengetragen habe, waren Sternstunden. Es waren Stunden großer Ergriffenheit. Das Herz wurde berührt und verwandelt, auch wenn äußerlich nichts zu sehen war.

Vielleicht war es so wie damals in Bethlehem, als ein Kind geboren wurde und ein Stern aufstrahlte und sich mit den Sternen von vielen Menschen verband und die Herzen der Menschen verwandelte, die Herzen der Hirten, der Weisen aus dem Morgenland, die Herzen von Maria und Josef und sogar die Herzen von Ochs und Esel, wenn es sie denn an der Krippe wirklich gegeben hat (woran ich keinen Augenblick zweifle angesichts der vielen Esel und Rindviecher dieser Welt). Dieser Stern der Gnade, der Weisheit und der Liebe leuchtet auf, vor allem in der Finsternis. Nicht nur beim Propheten Jesaja, sondern bei all denen, die mit dem Herzen Gott suchen, spürt man es und man weiß: »Die Menschen, die da wandeln im Finstern, schauen ein helles Licht. Denen, die im Reich der Schatten leben, ist lichter Tag geworden.« Das ist eine tiefe Erkenntnis und Wahrheit.

Du findest diese Erkenntnis und Weisheit, Leben, Liebe und Freude nur selten in den Theaterarenen dieser Welt. Und dort noch am ehesten hinter den Kulissen, unter den Schnürböden und unter den Souffleurkästen. Dann sind wir aber wieder gerade dort, wo das Leben geboren wird, im Dunkeln, nicht im Scheinwerferlicht.

Es ist die Geburt Gottes in dieser Welt, die sich seit jenen Tagen von Bethlehem immer wieder ereignet. Und mögen noch so kritische Exegeten mit absoluter Sicherheit beweisen wollen, dass es weder Bethlehem noch den Stall, die Hirten, Ochs und Esel noch den Stern gegeben hat. Ich jedenfalls glaube daran, weil sich diese göttliche Geburt seit dieser Zeit immer wieder unter ganz ähnlichen oder gleichen Zeichen und Umständen ereignet. Deshalb erzähle ich einige der Geschichten, einige Sternstunden und die Gedanken und die Erfahrungen um diese Geschichten herum. Sie alle sollen zeigen, dass es da einen Gott im Himmel gibt, der uns in seiner Liebe immer wieder annimmt und der uns in den kleinen und großen Zeichen des Lebens auf seine Spur hinweisen möchte, auf die Spur der Gnade, auf die Spur des Vertrauens und der Liebe.

Der erste Schritt ist die Erkenntnis der Wüste, die sich im Alltag ereignet, vor der wir flüchten, die wir meiden. Die Wüstentage und Wüstenzeiten sind Realität des Lebens. Wir brauchen nicht lange zu suchen. Wir müssen nur Augen und Ohren und unser Herz öffnen, das Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten wahrnehmen, dann wird in der Dunkelheit der Stern leuchten, und wir werden einen Weg finden durch dieses Leben hin zu dem unvergänglichen Licht, nach dem wir uns alle sehnen.

Wenn Sie nie solche Sternstunden erlebt und Wüstenerfahrungen gemacht haben, werden Sie in diesem Buch nur Alltäglichkeiten finden. Wenn Sie aber selber eine solche Sternstunde als Kostbarkeit Ihr Eigen nennen, werden Sie mich verstehen und Sie werden mir innerlich ein wenig zunicken und sagen: »Gott ist mitten unter uns gegenwärtig und Mensch geworden.«

Stern_PS.tif In deiner Stadt ist deine Wüste.

Erlebnisurlaube in der Wüste sind voll im Trend. Sie gehören zum großen Event-Geschäft unserer Gegenwart. Menschen sehnen sich danach, in einer völlig anderen Umgebung Erfahrungen zu machen, die ihnen helfen, ihr Leben besser zu bewältigen. Häufig wird dabei übersehen, dass ich mit einem gut ausgestatteten Wohnmobil, einem Handy und den Serviceleistungen eines Tourismusunternehmens niemals eine wirkliche Wüstenerfahrung machen kann. Ich bewege mich in meiner gewohnten Umwelt. Nur die Kulissen haben sich verändert. Es ist eine Illusion, echte Wüstenerfahrungen im Sandkasten machen zu wollen.

Vor einigen Jahren schrieb Carlo Caretto ein Buch mit dem Titel In deiner Stadt ist deine Wüste. Ich war damals sehr berührt von diesem Buch, denn es wurde mir klar, dass Wüstenerfahrungen nicht irgendwo im Sand der Sahara oder in den Eiswüsten der Arktis stattfinden, sondern immer dort, wo ich gerade bin und lebe. Es kann die Wüste des Lärms einer Disco sein oder das verzweifelte Warten im Flur eines Krankenhauses. Es kann sein, dass ich mitten in einem grünen Park weder Bäume noch Blumen noch Menschen sehe, sondern in mir sich eine große Wüste ausbreitet und ich nicht mehr weitergehen und nichts sehen kann.

Die Wüste ist überall. Vor allem ist sie dort zu finden, wo ich mit mir und meinem Leben konfrontiert bin und Lebenserfahrungen mache, die mich provozieren und oft an den Rand der Existenz führen.

Die Wüste ist kein Sandkasten für Kinder, sondern eine Realität des Lebens, die mich konfrontiert mit Leben und Tod. Jeder muss irgendwann einmal in seinem Leben durch eine solche Wüste hindurchgehen. Oft dauert es nur einen kurzen Augenblick, nur eine Stunde oder einen Tag. Aber die Erfahrungen, die wir dabei machen, bleiben und prägen uns.

Stern_PS.tif Die Wüste auf Erden beginnt dort, wo es keine Fenster zum Himmel gibt.

Wüstentage konfrontieren mich mit meiner Realität. Es sind Zeiten, in denen mich die Hitze der Tagesgeschäfte verschmachten lässt oder die Kälte der dunklen Nacht vor Angst erzittern lässt. Sie fordern mich heraus, einen neuen Weg, eine neue Perspektive und einen neuen Sinn in meinem Leben zu finden.

Zuerst einmal bedeutet Wüste die strahlende, gleißende Helligkeit, die mich blendet oder fast blind macht. Oder sie konfrontiert mich mit der Dunkelheit des Weges, auf dem ich gehen muss. Es gibt da keine Perspektive mehr, kein Licht mehr und auch keinen Stern. Ich habe für mich erfahren, dass diese Wüstentage dann umso aussichtsloser werden, je weniger ich mich orientieren kann. In diesen Zeiten brauche ich, braucht meine Seele ein Fenster zum Himmel. Wenn ich mich in meinem Innern nicht öffne für eine neue Perspektive, für ein neues Wissen, für eine neue Bewegung, dann verzweifle ich.

Das Fenster zum Himmel ist der Glaube, dass es außerhalb meines Denkens, Fühlens und Handelns noch eine andere Wirklichkeit und einen anderen Raum, eine andere Perspektive gibt, die mich leben lässt.

Stern_PS.tif Jeder hat seine eigene Wüste und seine eigenen Sterne.

Für den einen kann die Wüste die Stille sein, die er nicht ertragen kann. Für den anderen ist sie der Lärm der Autobahn oder einer Fußgängerzone. Für den einen ist die Wüste die Sprachlosigkeit und für einen anderen die vielen Worte. Jedenfalls konfrontieren mich Wüstentage mit mir selber, und ich darf mir kein Urteil darüber anmaßen, was ein anderer als Wüstenerfahrung erlebt. Niemand kann das.

Dasselbe gilt für die Sterne. Die Sterne sind die Wegweiser in den Wüstentagen. Manche erleben die Sterne wie Sternschnuppen, die über den dunklen Himmel eilen. Manche brauchen ein wirklich großes Licht, um wenigstens ein bisschen zu sehen. Für die einen ist es ein guter Gedanke, der Hoffnung macht, für den anderen ist es die Erinnerung an eine Erfahrung und die Neuinterpretation dessen, was er erlebt hat.

Immer aber wollen die Sterne, die mir den Weg weisen, an meine früheren Erfahrungen anknüpfen, mich mit meiner jetzigen Situation und dem Weg, den ich gehen muss oder will, versöhnen und in Verbindung bringen.

So wie es unbegreiflich ist, dass mir ein winziger Stern am Himmel in der Dunkelheit der Wüste einen Weg, eine sichere Richtung zeigen kann, so unglaublich sind die Erfahrungen der Menschen, die aus den winzigen Kleinigkeiten ihres Lebens, wenn sie diese nur mit großer Wachheit beachten, Lebensperspektive finden können. Deshalb ist es gut, sich die Wüsten anzuschauen. Sicher begegnen sie einem Menschen nicht alle gleichzeitig. Sie vermischen sich miteinander, und manchmal gibt es einzelne Erfahrungen, die wahrscheinlich sehr präzise zutreffen. Es geht darum, ein Gefühl für die Wüstenerfahrungen zu bekommen, damit es möglich wird, auch die Sternstunden zu erfahren.

Eisblumen

In Stunden der Not oder auch der Traurigkeit, in Stunden der Ruhe und der Stille kommen Erinnerungen in uns hoch. Sie werden wach und zeigen uns ein Stück weit Leben, oder wie wir leben gelernt haben. Es sind oft prägende Erfahrungen aus unserer Kindheit, die sich in unserem Seelenschatz angesammelt haben und aus denen wir unser Leben gestalten können.

Ich erinnere mich an eine Erfahrung mit einem wunderbaren Blumenstock. Der Setzling für diesen Blumenstock, den ich gepflanzt hatte, stammte von einer Nachbarin. Er war wirklich ein Herzstock. Die Blätter waren wunderbar gefärbt. In der Mitte waren sie gelb-bunt, dann gingen die Blätter in Rosa und Rot über, dann kamen grüne Herzstreifen, und nach außen wurden die Blätter wieder dunkelrot. Es war so ein wunderschöner Blumenstock, denn er gebar buchstäblich jede Woche ein neues Blatt. Ich konnte mich daran nicht sattsehen, wenn ich bei der Nachbarin war, und bat sie um einen Ableger. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und ging gerade in die Volksschule. Es war ein wunderbares Geschenk für mich, denn dieser Ableger wuchs und war mir dankbar für alle Liebe, die ich ihm schenkte. Ich pflegte ihn wie meinen Augapfel, musste mich immer wieder bremsen, um ihn nicht zu viel zu gießen. Aber ich konnte ihn wachsen sehen, Woche für Woche setzte er ein neues Blatt an. Ich pflegte ihn mit großer Aufmerksamkeit, ich streichelte ihm über die rauhaarigen Blätter und redete mit ihm wie mit einem Bruder. Ich versorgte ihn. Es war wirkliche ehrliche Sorge und Liebe. Herzensarbeit war es. Mit Freude war ich bei der Sache. Im Spätherbst war er fast einen halben Meter hoch gewachsen. Und dann kam der Winter. Es war ein kalter Winter, auch in dem Zimmer, in dem ich schlief, war es kalt, und dort stand der Blumenstock auf der Fensterbank.

Ich weiß noch, dass ich mir Ziegelsteine in den Ofen legte, um sie anzuwärmen. Ich wickelte sie in Tücher ein und legte sie ins Bett, damit das Bett aufgewärmt und wenigstens in der ersten Hälfte der Nacht noch einigermaßen warm war.

Eines Morgens, als ich aufwachte und zur Fensterbank schaute, war er erfroren. Seine Blätter hingen wie nasse Lumpen über dem Topf. Er war tot. Das war eine große Erschütterung für mich. Trauer erfüllte mich. Ich weinte und war verzweifelt. Es war klar, ich hatte nur an mich gedacht mit meinen Ziegelsteinen – auch weil ich es einfach nicht gewusst und nicht mit bedacht hatte –, und ich hatte meinen Blumenstock vergessen. In der Familie haben sie mich zwar nicht ausgelacht, aber keiner hat mich verstanden. Mein Schmerz war tief, es war ja mein eigenes Herzblut, das da erfroren war. Es waren ja auch nicht viele schöne Dinge, die ich hatte. Zwar litten wir keine Not mehr in diesen Jahren, aber das Schöne, das Lebendige war eben doch noch sehr rar.

Und so weinte ich. Die Großmutter nahm mich auf ihren Schoß, als ich so weinte, und tröstete mich. Sie wärmte mich an ihrem Herzen.

In dieser Situation fiel unser Blick auf das Fenster, vor dem der Blumenstock erfroren war, und ich sah wieder, wie durch ein Wunder, eine Blume, eine Eisblume am Fenster. Und ich sagte, und es war eine große Hoffnung in diesem Erkennen und Suchen: »Vielleicht ist das seine Seele, die Gott an das Fenster gemalt hat.« Eine Zeit lang drückte mich die Großmutter noch an ihre Brust, und dann streichelte sie mir über den Kopf und sagte: »Ja, ganz bestimmt. Die Seele stirbt nie.«

Niemand kommt im Leben um die Auseinandersetzung mit Leid und Sterben und Abschied herum. Irgendwann einmal muss ich es lernen. Und wenn es mir nicht gelingt mit dem Herzen zu lernen, wird es nicht möglich sein zu leben.

Es ist eine Arbeit des Herzens, die da gefordert ist. Und es sind Sternstunden, wenn jemand da ist, der uns versteht, der uns annimmt und aufnimmt.

Da ist ein Kind, das sich für das Leben engagiert. Es ist nicht nur etwas Äußerliches gewesen, sondern eine tiefe innere Beziehung. Wenn diese Identifikationsfähigkeit zerbricht, wird jede Aufgabe, jede Arbeit, jede Sache, jeder Vorgang, jede Beziehung zu einer Gefährdung, weil mein Herzblut umsonst geflossen ist und ich mich nicht mehr einlassen will auf eine solche Begegnung. Es ist notwendig in einer solchen Situation, vor allem Kinder an das eigene Herz zu drücken und ihnen zu sagen, dass es auch dann, wenn wir von den Lebenserfahrungen enttäuscht werden, wenn wir entmutigt und verletzt sind und resignieren und aufgeben wollen, eine Perspektive im Leben gibt.

Da mag einer sagen, was er will, etwa: »Die Eisblumen werden vergehen.« Das weiß ich auch, daran habe ich auch keinen Zweifel. Aber der gemeinsame Blick mit meiner Großmutter über die erfrorenen Blätter meines Lieblingsblumenstockes hinweg in die Eisblumen hat mir einfach Hoffnung und Zuversicht gegeben. Es war eine Sternstunde für mich, weil ich gelernt habe, mit einer großen Enttäuschung umzugehen.