Dietrich Grönemeyer

Gesundheit!

Für eine menschliche Medizin

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung: Veronika Preisler

Umschlagmotiv:© Alexander Mirsch

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80236-2

ISBN (Buch) 978-3-451-31259-5

Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung.

Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden.

(Genfer Deklaration, Auszug aus dem Eid des Hippokrates in der Fassung des Weltärzteverbandes)

Für eine würdevolle Medizin! Medizin ist ein Kulturgut!

Dietrich Grönemeyer

Inhalt

Gesundheit!

Mensch bleiben

Medizin am Scheideweg

Visionen der Medizintechnologie · Cyborgs – eine monströse Grenzüberschreitung · Menschenverträglichkeit muss das Maß sein · Würde: das zentrale Kriterium · Ein unantastbares Prinzip nicht mit Füßen treten

Unser Gesundheitswesen – ein System in der Kritik

Wehe dem, der krank wird? · Fehlsteuerungen im System – 30 Prozent mehr Operationen · »Kranke Schwestern« oder Krankenschwestern? · Die Politik ist gefordert – jetzt! · Wir brauchen die »Pflege davor« · Kommerzialisierung und die Herrschaft der Controller · Alles nur Profit? Ein Systemfehler · Verliert die Medizin ihre Seele? · Wir brauchen eine neue Zielorientierung und Gesundheitsbildung

Gesundheit und Spiritualität

Mehr als Meditation, anders als Religion · Das Wunder des Lebens · Demut und Dankbarkeit · Leben als Geschenk · Individuelles Wohlbefinden und Sinnerfahrung · Verbunden in der Situation existenzieller Not · Leben gläubige Menschen gesünder? · Arzt und Seelsorger – Hand in Hand, mit Herz und Seele

Gesundheit – Krankheit – Heilung

Der Wunsch nach Lebensqualität · Der philosophische Arzt · Hauptsache gesund? · Volkskrankheiten – was ist ihnen gemeinsam? · Hintergründe und Wirkfaktoren · Die Verantwortung des Einzelnen und der Gesellschaft · Wie auf Belastungen reagieren? · Fitnesswahnsinnig oder gesundheitsbewusst?

Arzt und Patient – die besondere Beziehung

Therapieren: behandeln – pflegen – dienen · Heilen ist mehr · Das besondere Vertrauen · Hilflose Helfer oder Verbündete der Menschlichkeit? · Der Arzt als Heiler – was ist damit gemeint? · Wer oder was heilt eigentlich? · Warum das Arzt-Patienten-Gespräch wesentlich ist · Warum der Hausarzt als Vertrauensperson so wichtig ist · Falsche Alternativen: Schulmedizin oder Naturheilkunde · Altes mit Neuem verbinden · Und das Internet?

Der Computer und der Arzt

Computer sind kein Allheilmittel · E-Health als Gesundheitsselbstmanagement? · Ein nicht ganz unproblematischer Boom

Schmerzen müssen nicht sein

Auch Indianer haben Schmerzen · Schmerzen – nein danke · Herzschmerz – Was unser fühlendes Organ braucht · Auch kundige Hände können Wunder wirken · Moderne ambulante Verfahren: Beispiel Mikrotherapie · Wenn Handauflegen nicht mehr hilft · Netzwerke für Schmerztherapie

Perspektiven gesunden Lebens

Schlafen und Wachen

Die heilende Kraft des Schlafes · Was wirkt im Schlaf? · Schlafen wieder lernen · Ein Blick ins Tierreich · Schlafstörungen durch Arbeit – Sucht auf Rezept? · Wenn der Schlaf krank macht · Schlaf in himmlischer Ruh

Luft und Umwelt

Ohne Luft kein Leben · Atmen und Bewegung · Stadtluft macht krank · Umwelt verändern und gestalten

Genuss und Ernährung

Freude am Essen und Trinken · Wissen, was man isst · Nahrung ist ein Heilmittel – auf die Dosis kommt es an · Ernährung ist wichtig, aber zum Leben gehört mehr · Das Problem mit den Diäten · Was für eine gesunde Ernährung wichtig ist · Liebe Essgewohnheiten ändern · Ist Bio Bio? · Lasst uns Tropenhäuser in den Städten bauen · Stoppt das Killen von männlichen Küken

Sport ist Medizin! Bewegen, bewegen, bewegen

Was wir von unseren Vorfahren lernen können · Bewegung: Früh übt sich · Designed to move – geschaffen, sich zu bewegen · Bewegung, ein Allheilmittel · Alltagsbewegung, Powerwalk, Gymnastik – das rechte Maß für jeden · Bewegung heilt · Kein »Müssen« – und nichts verzwecken

Musik und Tanz

Kraftstoff für die Seele · Was Musiktherapie kann · Mit Musik geht alles besser · Tanzen befreit und bringt Menschen zusammen

Humor und Gelassenheit

Ein Lächeln versetzt Berge · Widerstandsfähig durch Gelassenheit · Werdet wie die Kinder!

Heilsame Achtsamkeit

Die Rosinenübung · Welche Art von Stress? · Achten auf die Signale des eigenen Körpers · Höre auf dein eigenes Herz · Sich bewusst aufeinander einlassen

Lebenslang: Sei dein eigener Arzt – Freiheit und Verantwortung

Schwangerschaft und Geburt

Elementare Urerfahrungen · Verstoßen aus dem Paradies? · Suche nach Harmonie und Resonanz · Geburtshelferinnen

Kindheit

Energiebündel für die Zukunft · Die Realität sieht anders aus · Zu wenig Freiräume · Kinder wollen es wissen · Mehr Zeit und Verständnis für Kinder · Vorschnelle Behandlung mit Medikamenten · Wie wir Kindern helfen können · Körpererfahrung und Aufklärung · Die Funktion von Fieber bei Kindern

Adoleszenz und Pubertät

Vertrauen schaffen in schwierigen Zeiten · Schwierige Probleme, Störungen und Süchte · Positive Perspektiven

Das Erwachsenenalter

Rushhour des Daseins · Schwachstellen des Körpers · Arbeit als Gesundheitsfaktor · Arbeit für alle · Wertschätzung als Gesundheitsfaktor · Wenn die Belastung zu stark wird · Burnout – was tun? · Gesellschaftliche Einbindung

Das Alter

Das Altern nicht tabuisieren · Umsteuern ist notwendig · Vom Sinn des Alters · Die besondere Situation der Hochbetagten · Gemeinsamkeit schafft Stärke · Vergiss mein nicht: Demenz · Menschlich pflegen · Palliativmedizin – Schmerzen am Lebensende verhindern · Sterbehilfe

Wege zur Veränderung im System

Vorsorge – ein Leben lang · Runde Tische schaffen · Flexible Krankenversicherung nach dem KASKO-Prinzip · Ein Netz therapeutischer Kompetenzen · Partnerschaften mit dem Arzt · Betriebliches Gesundheitsmanagement in Unternehmen · Die Gesundheitserziehung in Schulen fördern

Finale: Gesundheit und Wohlbefinden – ein Leben lang

Mein Manifest der Lebenskunst

Dank

Wichtige Adressen und Webseiten

Gesundheit!

Gesund sein ist etwas, was wir meist als selbstverständlich hinnehmen, was wir nicht spüren, worüber wir normalerweise nicht nachdenken. »Gesundheit!« wünschen wir uns zu Geburtstagen oder wenn wir niesen. Kinder beschäftigen sich nicht damit, und Erwachsene meist auch nicht – oder erst dann, wenn etwas nicht mehr so funktioniert, wenn wir krank sind oder werden. Dann wünschen wir uns den besten und freundlichsten Arzt, die fürsorglichste Krankenschwester oder Hebamme, das beste Krankenhaus, die beste und liebevollste und effektivste Medizin. Die Medizin, unser Gesundheitssystem sind aber nicht naturgegeben. Sie sind eingebettet in das gesellschaftliches System, unsere Kultur. Sie werden von Menschen gemacht und weiterentwickelt.

Der medizinische Fortschritt ist rasant. Spezialisierung und Technisierung schreiten rasch voran. Der Patient, der Mensch mit seiner konkreten Not, gerät dabei oft aus dem Blick. Unser Gesundheitswesen wird immer aufwendiger. Gespart wird auf dem Rücken der Betroffenen. Die Beziehung von Mensch zu Mensch kommt immer öfter zu kurz – zum Leidwesen auch derer, die eigentlich heilen wollen. Technisierung und Medikamentenverabreichung stehen auch für sie zunehmend mehr im Vordergrund. Statt Zuwendung eine Tablette, statt körperlicher Untersuchung eine Maschine, statt Seelsorge Sterbehilfe. Aber der Mensch ist keine Maschine, und Heilung ist etwas anderes als Reparatur. Gerade kranke und leidende Menschen haben – von der Kindheit bis ins hohe Alter – neben physischen auch soziale, spirituelle, emotionale Bedürfnisse. Und Heilung geschieht nicht nur auf der körperlichen Ebene, es ist immer auch ein Beziehungsgeschehen. Wer heilen will, muss sich auf den anderen einlassen; er muss eine Beziehung zu dem Patienten aufbauen.

In diesem Buch greife ich einige Problemfelder auf, die immer wieder auf der Tagesordnung stehen, wenn öffentlich über Gesundheit diskutiert wird: Gesundheitspolitik, Gesundheitsreform, die Entwicklung der Medizintechnik, Zivilisationskrankheiten, den gesellschaftlichen Strukturwandel, und dies in einer Betrachtungsweise, die das ganze Leben zwischen Geburt und Tod im Blick hat. Es sind Themen, die uns alle, jeden Einzelnen von uns, angehen. Meine Anregung: Bleiben Sie nicht passiv, wenn es um Ihre Gesundheit, Ihren Körper und vor allem Ihr Wohlbefinden geht. Wir alle altern vom ersten Lebenstag an. Wir alle können eine schwere Krankheit bekommen, dement werden. Je humaner wir gemeinsam die Gesellschaft gestalten, deren Teil wir sind, umso würdiger werden wir alle in schweren Zeiten miteinander umgehen können.

Was stärkt den Patienten, aber auch den Arzt oder die Krankenschwester? Informiertes Vertrauen, liebevolle Zuwendung auf Augenhöhe, gegenseitiger Respekt vor der Würde und Freiheit des Einzelnen sind Schlüssel zu einem neuen Klima und zu neuen Ansätzen im Medizinbetrieb. Was gibt innere Kraft und Lebensmut? Wie kann Gesundheit erhalten und gefördert, Heilung unterstützt und Lebensfreude intensiviert werden? Die Kernfrage, auf die wir Antworten brauchen, lautet: Was hilft, um persönlich gut und wohlbefindlich zu leben? Was ist das heilsame Elixir, um Gesellschaften und Kulturen menschlich weiterzuentwickeln? Was tun, um eine humane Humanmedizin weltweit zu etablieren, in tiefem Respekt vor der Würde des Menschen und der Schöpfung?

»Du selbst bist dein bester Arzt, die Ärzte sind nur deine Gehilfen«, so sagt Paracelsus, einer der berühmtesten Ärzte der Medizingeschichte. Ärzte sind keine »Halbgötter«. Ärzte und Patienten sind gleichwertige Menschen und Partner. Je aufgeklärter, interessierter und selbstverantwortlicher die Menschen sind, umso besser ist dies für uns Ärzte – und umso besser ist es auch für das körperliche, seelische und soziale Wohlgefühl des Einzelnen. Gesellschaften und Gesundheitssysteme profitieren davon. Körperlich und mental wohlbefindliche, wissende und selbstbewusste Menschen, selbst wenn sie chronisch erkrankt oder gehandicapt sind, schaffen die humane Zukunftsgesellschaft. Im Sinne einer solchen Perspektive habe ich dieses Buch geschrieben. Gesundheit!

Mensch bleiben

Medizin am Scheideweg

Visionen der Medizintechnologie

Stellen Sie sich vor: In einem hellen, modern eingerichteten Raum mit freundlich anmutender Atmosphäre liegt ein Patient auf dem Operationstisch. Entspannt ruht er in einem halb offenen, schalenförmigen Gerät. Es ist – was Sie ihm auf den ersten Blick gar nicht mehr ansehen – ein Computertomograph der neuesten Generation. Medizintechnik vom Feinsten, keine bedrohliche Anhäufung von Apparaten und Instrumenten. Auch der Arzt stolziert nicht mehr als Halbgott in Weiß durch den OP. In warme Farben gekleidet, beugt er sich über den Patienten, um eine hauchdünne Nadel sanft in den Kopf einzuführen. Auf mehreren Großbildschirmen können Sie den Eingriff verfolgen, farbig und dreidimensional. Wie der Arzt und der Patient nehmen Sie plastisch wahr, wie die Nadelspitze immer tiefer in das Gehirn eindringt.

Die Stimmung ist konzentriert, fast andächtig. Im Hintergrund hören Sie leise Klaviermusik. Dann scheint sich der Arzt plötzlich mit den Geräten im Raum zu unterhalten. Auf seine Anweisung hin fährt der Patiententisch in jede beliebige Position, die Monitore richten sich seinen Wünschen entsprechend aus. Auf Zuruf löst sich von der Decke eine Halterung. Ein computerähnliches System senkt sich langsam herab. Ein fadenförmiges Gebilde wird vorsichtig durch die Nadel ins Gehirn eingeführt und präzise an einer bestimmten Stelle implantiert. Das Ende des Fadens, das aus der Nadel heraushängt, wird über eine Klemme mit dem Computer verbunden.

Dann hören Sie, wie sich der Patient auf einmal angeregt mit dem Arzt unterhält. Es geht um ethische Fragen aus dem Bereich der Neurowissenschaften. Wenn man ihn bittet, die entsprechende Fachliteratur zu nennen, kann der Patient die Titel nach Erscheinungsjahren geordnet und in alphabetischer Reihenfolge aufzählen. Wenn man genauer nachfragt, zitiert er bestimmte Textpassagen. Das Wissen der ganzen Welt scheint ihm problemlos zur Verfügung zu stehen. Auf einem Monitor sehen Sie außerdem die Publikationen, über die er gerade spricht.

Was Sie sich eben vorgestellt haben, war die erste Implantation eines Biochips in das Gehirn eines Patienten – das direkte Ankoppeln des Menschen an den Computer. Diese Bausteine sind den Nervenzellen nachgebildet und arbeiten nach demselben kybernetischen Prinzip wie unsere grauen Hirnzellen, nur sehr viel schneller. So wird der Biochip in der Lage sein, hundertmillionenfach höhere Informationsmengen zu speichern, und das auch noch mit einem zehnmilliardenmal schneller arbeitenden Datentransfer als unsere heute gebräuchlichen PCs. Primär soll die Biochiptechnologie für eine Echtzeitüberwachung der Vitalparameter des Körpers und seiner Organe verwendet werden. So kann es möglich werden, Krankheiten früh zu erkennen, z.B. im Bereich der Krebstherapie, und nicht nur anhand der gewonnenen Daten zu diagnostizieren, sondern auch gezielt individuell zu therapieren. Aufgrund der persönlichen Datenlage sind spezielle, auf den einzelnen Menschen zugeschnittene Medikamente möglich. Biochips könnten in den Körper implantiert oder am Körper getragen werden: eine Perspektive, die mich zutiefst beunruhigt.

Diese Vision habe ich 1996 niedergeschrieben. Heute, bald 20 Jahre später, frage ich mich noch mehr: Wie müssen wir die Zukunft der medizintechnischen Forschung und Entwicklung gestalten? Was sind die ethischen und philosophischen Fragen in diesem Kontext? Diese Fragen erscheinen mir umso dringlicher, als wir technisch schon bald dazu imstande sein könnten, entstehendes Leben nach Belieben zu manipulieren, den Menschen dieses oder jedes Design zu verpassen. Der Biochemiker Erwin Chargaff (1905–2002) hat schon vor Jahren gemeint, dass wir in den Wissenschaft den Rubikon überschritten hätten. Als Forscher beteiligt an der Entschlüsselung der DNA, des Trägers der Erbinformationen, wusste er nur zu genau, dass alles, was einmal gedacht wurde, nicht wieder aus der Welt zu schaffen ist. So wie die technische Entwicklung uns weiter voranbringen kann, kann sie auch zum Fluch der Menschheit werden. Wir stehen an einem Scheideweg. Gerade in der Medizin dürfen wir heute nicht mehr nur über technische Möglichkeiten sprechen, sondern müssen endlich anfangen, neu darüber nachzudenken, was das Menschliche ist und was es uns bedeutet.

Cyborgs – eine monströse Grenzüberschreitung

Es ist die Würde, die den Menschen von der Maschine, dem Roboter unterscheidet. Diese Einsicht verlangt deutliche Grenzziehungen, zumal im medizinischen Bereich. Die Bioethik spielt hier eine kaum zu überschätzende Rolle. Was darf man tun? Was bedeutet uns die Menschenwürde, wenn es in der Medizin um die Schnittstelle von Mensch und Maschine geht, wenn wir über das Klonen sprechen oder über Hybridbildungen? Wie weit kann diese Phantasie etwa in medizintechnischen Großprojekten weitergesponnen werden, ohne das zu verletzen, was den Menschen im Kern ausmacht?

Seit Jahrzehnten werden bereits psycho-operative Verfahren im Gehirn mit Erfolg durchgeführt, um bestimmte Erkrankungen oder Verhaltensweisen zu verändern. So können beispielsweise die Schüttelbewegungen eines Menschen, der an Parkinson erkrankt ist, in Spezialzentren mit einem stereotaktischen, also bildgesteuerten und Computer-assistierten Eingriff beruhigt werden. Hier wie in ähnlichen Fällen wirkt der Fortschritt segensreich. Wer wollte dagegen etwas sagen? Und dennoch: Wenn man sich anschaut, über welche Möglichkeiten der Prothesenentwicklung oder der Transplantation von Organen oder Geweben die Menschheit inzwischen verfügt, von der Hüfte bis zur Hornhaut, von der Leber bis zum Gesicht – mittlerweile können schon bis zu drei Viertel des Gesichtes transplantiert werden –, und wie vielerlei elektronische Mess- und Therapiesysteme (wie Herzschrittmacher oder Insulinpumpen) es inzwischen gibt, dann kann dennoch nicht übersehen werden, dass wir uns damit – bei aller bewundernswerten medizinischen Kunst sowie bei allem Segen, der für einzelne Betroffene damit verbunden ist – in Richtung einer Entwicklung zu Cyborgs bewegen, also zu Mensch-Maschinen – und zwar sowohl im Handeln als auch im Denken. Alle Organe, alle Gewebetypen – selbst das Gehirn – könnten eines Tages ausgetauscht oder durch Technik ersetzt oder sogar manipuliert werden. Für viele Menschen ist der Organersatz ein wundervoller Segen. Für viele ist er Rettung in letzter Not, die auch jeder sicherlich in ähnlicher Situation in Anspruch nehmen würde. Deshalb muss die Spendenbereitschaft, auch im Sinne der Nächstenliebe, wieder zunehmen. Aber trotzdem ist Wachsamkeit geboten.

Transplantiert werden heute Niere, Leber, Herz, Lunge, Pankreas und Darm. Die Implantation von Prothesen gehört mittlerweile zu den häufigsten Operationen. Allein die Hüftgelenksprothetik weist für das Jahr 2013 eine Fallzahl von über 200 000 auf, Anzahl steigend.

Hier sollten wir anfangen, genauer zu unterscheiden: Entsteht da mit der Zeit eine vom Menschen selbst gesteuerte und entwickelte Form der Existenz, die wegführt vom bisher menschlich gedachten und gefühlten evolutionären Prozess? Oder bleibt der Mensch so, wie er ist, in seiner eigenen Autonomie, und wird nur durch etwas Drittes in Form von technisch möglich gewordenen Funktionen unterstützt? Gibt es einen unveränderlichen Kern des menschlichen Wesens, oder besteht das Wesen des Menschen gerade darin, sich zu wandeln? Wo ist bei solchen Optimierungsabsichten die Grenze? Wo wird das Erleben menschlicher Würde, die Erfahrung des mit der Existenz als Mensch gegebenen eigenen Werts zerstört? Und wenn man diese technologischen Funktionen unterstützt: Welche Auswirkungen hat das auf den Menschen als vernunftbegabtes Wesen in seiner Entwicklung als denkendes Ich, das die Welt auch emotional erfasst? Was brauchen wir eigentlich, um zu fühlen? Was ist das, was auch unser Denken inspiriert?

Selbst wenn wir immer mehr Wissen »anzapfen« oder speichern könnten, heißt das nicht, dass wir dieses Wissen auch verarbeiten und kritisch damit umgehen könnten. Es würden evolutionäre Prozesse übersprungen, die es uns erlauben, von Epoche zu Epoche mehr zu erfassen und zu lernen. Die Kapazität jedes einzelnen Gehirns ist auch bisher bei Weitem noch nicht ausgenutzt.

Nach Berechnungen aus dem Jahre 2009 besteht das Gehirn eines männlichen Erwachsenen aus durchschnittlich bis zu 94 Milliarden neuronalen und ebenso vielen nicht-neuronalen Zellen. Die Funktionsweise der neuronalen Vernetzung ist jedoch noch weitgehend unerforscht.

Wegen unserer Verstehensdefizite glaube ich, dass alle, die sich bereits in eine Welt des Körper-Maschinen-Imperiums hineindenken, einen grundlegenden Fehler machen. Es ist auch jetzt schon abzusehen, dass auf dem Weg dahin die Menschenwürde und die Menschenrechte verletzt würden.

Auch für die Medizin gilt: Die Ambivalenz des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts besteht darin, dass er einerseits eine Verbesserung der Lebensqualität und der menschlichen Möglichkeiten mit sich bringt, dass aber gleichzeitig damit auch die Gefährdung steigt. Das Gefährdungspotenzial steigt mit der Hybris des Menschen, der alles können, alles ermöglichen will – am liebsten sofort – und dabei den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Die Gefahr besteht darin, dass am Baum gearbeitet wird, aber nicht – um im Bild zu bleiben – an der Ökologie des Waldes. Das Ganze des Universums Mensch wird durch diese Blickverengung missachtet. Der Mensch wird, wenn man ihn nur im Kontext von Technik und Naturwissenschaft sieht, weder in der komplexen Realität seines Körpers sowie seines individuellen Denkens und Fühlens erfasst noch in seinen wechselseitig wirksamen Bezügen, also weder in seinen Sozialbezügen noch in seinen Bezügen zur Natur, zur Um- und Mitwelt. Diese Bezüge sind aber ein wesentlicher Teil unseres Menschseins.

Wir stecken, was unsere Kenntnisse von diesen Wechselwirkungen und den komplexen Bezügen angeht, noch in den Anfängen. Nehmen wir die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts: Rund drei Milliarden Bausteine sind durch Forscher der internationalen Human Genome Organization (Hugo) identifiziert und ca. 25 000 Gene mit drei Milliarden chemischen Einzelverbindungen (Basenpaare) gespeichert worden.

Es ist jetzt also zwar bekannt, in welcher Abfolge die drei Milliarden »Buchstaben« unseres Erbgutes stehen. Was sie im Einzelnen bedeuten und was sie bewirken, wie genau das Wachstum oder die Reparaturmechanismen funktionieren, wie Gesundheit bzw. Krankheit entsteht, wie der Körper und die Psyche das Erbgut beeinflussen (oder umgekehrt), und vieles andere ist jedoch nach wie vor weitgehend unklar. Unbekannt ist auch, wie und in welcher Reihenfolge welche der Milliarden Gene zusammenwirken (müssen). Dieses »Konzert« und die Wirkung der von den Genen produzierten Bausteine ist kaum erforscht. Wir stehen erst am Anfang der Erkenntnis. Wir haben den Grundstein zum Bau eines Hauses gelegt – und nicht mehr! Die Manipulation am Erbgut erscheint vor diesem Hintergrund als wahres Vabanquespiel. Die Komplexität des Lebens über das Körperliche hinaus bis zum Geistigen und Seelischen ist so gigantisch, dass wir äußerst behutsam mit unserem neuen Wissen umgehen müssen.

Menschenverträglichkeit muss das Maß sein

Medizinische Errungenschaften sind nicht nur wie andere technische Einrichtungen auf ihre Sozial- und Umweltverträglichkeit zu prüfen, sondern auch zu messen am Gebot der Achtung vor dem Mitmenschen. Der Konflikt zwischen dem Menschenmöglichen und dem Menschenverträglichen muss zugunsten der zweiten Option entschieden werden: also der Option für das, was dem Menschen am menschlichsten hilft und mithin ärztlich geboten ist. Nach meinem Medizinverständnis geht es um eine Gesundheit, zu der mehr gehört als das störungsarme Funktionieren des Körpers. Es geht um Lebensqualität im ganzheitlichen Sinn einer seelisch-leiblich-sozialen Geborgenheit. Sie erst lässt den Menschen wirklich Mensch sein. Er braucht in besonderer Weise die Fürsorge des anderen Menschen, sein Mitgefühl, ja seine Liebe.

Neben den Kriterien der Sozialverträglichkeit und der Umweltverträglichkeit muss also das Kriterium der Menschenverträglichkeit beachtet werden. Die ursprüngliche Einheit dieser drei Aspekte gilt es zu bewahren und wiederzuentdecken. Techniken, die dem nicht entsprechen, müssen in Zukunft abgelehnt, in der Entwicklung gestoppt oder so lange weiterentwickelt werden, bis sie diesen Kriterien genügen: Patientenzentrierung der Therapie und menschenwürdige Medizintechnik sind dabei entscheidend. Zu groß ist beim heutigen technischen Entwicklungsstand die Gefahr von irreversiblen Eingriffen mit unkontrollierbaren Folgen für die Evolution.

Wir brauchen das, was die Philosophen eine transversale Vernunft nennen, das heißt ein interdisziplinäres Netzwerk von Ärzten, Naturwissenschaftlern, Geisteswissenschaftlern, Theologen und Juristen in der täglichen Reflexion und Auseinandersetzung mit den rasant auf uns einstürmenden neuen Möglichkeiten in Medizin und Technik: fächerübergreifend an den Hochschulen – und beginnend schon in der schulischen Ausbildung. Wir brauchen nicht nur einen politisch initiierten Ethikrat, der ab und zu zusammentritt. Das genügt nicht.

Dem 2007 gegründeten Deutschen Ethikrat gehören 26 Natur- und Geisteswissenschaftler an. Sie diskutieren die gesellschaftlichen Konsequenzen, die sich insbesondere aus lebenswissenschaftlichen Forschungen und Entwicklungen ergeben, und geben vor diesem Hintergrund Empfehlungen für das politische und gesetzgeberische Handeln.

Seit Langem schon plädiere ich deshalb für den Erhalt und Ausbau der Geisteswissenschaften an den Universitäten. Auch für Ärzte muss das wieder ein selbstverständlicher Bestandteil ihre Ausbildung werden. Nur so werden wir verhindern, dass die Technisierung der Gesellschaft den Menschen zur Maschine macht.

Würde: das zentrale Kriterium

Würde ist ein Wert, an dem sich Verhalten orientiert, aber auch eine Haltung, die das Handeln ganz konkret bestimmt. Das Gegenteil einer Haltung, die den Wert der Würde des Menschen beachtet, ist Verachtung oder Demütigung. Man soll dabei jedoch nicht nur eine wirtschaftlich und technologisch getriebene inhumane Zukunftsphantasie im Blick haben. Man braucht nur an die alltägliche Würde-Verletzung, die Entwürdigung vieler Menschen zu denken: an alte Menschen, die mit Medikamenten ruhiggestellt, ans Bett geschnallt, zwangsernährt werden, weil eine qualifizierte menschliche Pflege zu teuer würde; oder an Menschen, die unter Schmerzen leiden, ohne dass eine körperliche Ursache dafür zu finden ist, und denen deshalb unterstellt wird, sie simulierten. Nicht zu reden von den Kindern, die in Armut leben, zunehmend auch in den reichen Ländern Europas. Selbst im klinischen Alltag wird die Würde der Menschen bisweilen sträflich verletzt, indem man die Kranken von oben herab behandelt, ihnen nicht zuhört (geschweige denn sie zu verstehen versucht), kaum mit ihnen redet. Dass es würdelos sei, wie mit ihnen umgegangen werde, höre ich immer wieder von Patienten, die nach einer Odyssee durch überlastete bzw. schnell abfertigende Praxen oder Krankenhäuser zu mir kommen. Menschen machen die Erfahrung der Ohnmacht, sie fühlen sich nicht respektiert, nicht ernst genommen und geachtet, in ihrer Integrität verletzt. Würde kann leicht abhanden kommen, und man muss sich immer wieder neu um sie bemühen.

Es geht dabei nicht um eine bestimmte Altersgruppe oder um die besondere Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit alter Menschen, sondern um das grundsätzliche Ernstnehmen, die Würdigung des anderen, um die Ermöglichung von Selbsterhaltung und Selbstentfaltung. Ein Arzt, der sich nicht auf diese Ebene begibt, verliert das Grundprinzip menschlicher Medizin schneller aus den Augen, als es ihm bewusst sein mag.

Ein unantastbares Prinzip nicht mit Füßen treten

Wenn es um Würde und Humanität, um das Menschliche schlechthin geht, lohnt es sich nach wie vor, die Bibel zu Rate zu ziehen, ob man nun gläubig ist oder nicht. So kann man etwa bei Paulus lesen: »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›einer‹ in Christus Jesus.« Will sagen: Der andere ist nicht vor allem anders, er ist vor allem meinesgleichen. Die fundamentale Gleichheit der Menschen ist göttlich. Jeder von uns ist anders, aber im Kern sind wir alle doch gleich, eben Menschen. Im säkularen Zusammenhang entspricht dies der Formel der Aufklärung und der politischen Emanzipationsbewegungen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das heißt: Jeder Mensch hat das gleiche Recht und den gleichen Anspruch auf die Achtung seiner Würde. Wir unterscheiden uns vom Tier, weil wir vernunftbegabt sind. Natürlich können wir als Kinder nicht schon im Vollbesitz unserer Vernunftkräfte sein, und wir können im Alter demenziell erkranken. Respekt verdienen wir dennoch alle gleichermaßen. Dass da manches im Argen liegt, habe ich bereits angedeutet. Im Gesundheitswesen mag das sogar auffälliger sein als in manchen anderen Bereichen. Gesetze und Verordnungen, die Abrechnungsmodalitäten der Krankenkassen, ein zunehmend bürokratisierter Arbeitsalltag, eine mangelnde Ausbildung in Ethik und Moral – all das beeinträchtigt unser Handeln als Ärzte. Die Würde des Patienten kann da schnell einmal auf der Strecke bleiben, auch die Würde des Arztes. Denn auch er ist zuerst ein Mensch wie der Kranke, den er behandelt, Bruder oder Schwester des Patienten. Das wird häufig vergessen. Die vielfach vorgebrachte Forderung, dass Arzt und Patient sich auf Augenhöhe begegnen sollen, signalisiert einen Notstand. Sie zeigt, dass bei aller Begeisterung für den medizinischen Fortschritt und die fachärztliche Exzellenz ganz offensichtlich vieles in Vergessenheit geraten ist.

Ich habe Paracelsus schon in der Einleitung erwähnt: »Die Ärzte sind deine Gehilfen, du, Mensch, du bist der wahre Arzt.« Auch heute noch gilt: Du weißt am besten, was dich bedrückt, was dein Kreuz brechen lässt oder dir auf den Magen schlägt. Paracelsus hat uns mit seiner Einsicht ein Stück weit schon in die richtige Richtung gebracht, und unsere Sprache hat diese Orientierung in Form von Redensarten übernommen.

Medizinisches Handeln ist immer Beziehungshandeln. Der Patient muss für den Arzt, für das System »jemand« und nicht »etwas« sein! Der Patient ist eine Person, ein Ich. Er ist nicht sein krankes Organ, nicht die Niere oder die Lunge, der Krebs oder die Hüfte. Das Kind, das sein Ich erst im Verlauf seiner Entwicklung entdeckt, ist nicht erst ab dem Moment eine Person, von dem an es wirklich »ich« sagen kann. In der Medizin tendieren wir dazu, über ein Etwas zu reden, und berauben den Menschen damit seiner Seele und seines Geistes, weil wir ihn methodisch und in unserem Vorgehen tatsächlich als eine Maschine betrachten, die, wenn sie defekt ist, wieder repariert werden muss. Wir sprechen von Defektheilung, wenn man ein Hüftgelenk einbaut, und akzeptieren damit eine falsche Definition. Heilen würde ich in dem Moment, in dem ich auf einer übergeordneten Ebene bin, in einem Heilprozess. Ich muss den Patienten, den Menschen begleiten, ihm zur Seite stehen bei der Integration seiner Empfindung, seines Ich-Seins – bei seinem Schmerz genauso wie bei seinen Gebrechen und seinen körperlichen und mentalen Unzulänglichkeiten. Ein Mensch, der dement ist, besitzt genauso Menschenwürde wie ein Mensch mit nur einem Bein. Ein Mensch, der seine Sinne verliert oder dessen Sinne sich nicht entwickeln konnten, besitzt Menschenwürde. Selbst Tiere verfügen über eine gewisse Würde, die es zu achten gilt. Ich will nicht so weit gehen wie Albert Schweitzer, der keine Pflanze herausreißen und kein Tier töten wollte. Meine Haltung ist da eher die des Indianers, der sich bei dem getöteten Tier entschuldigt, ehe er dessen Fleisch verzehrt.

Wir haben ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Wir haben ein Recht, nicht misshandelt zu werden, oder ein Recht auf Selbstbestimmung, auf Glaubensfreiheit, auf Meinungsfreiheit, auf Freiheit der künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeit, auf Versammlungsfreiheit, auf Freizügigkeit, Berufsfreiheit oder Eigentumsfreiheit – alles Rechte, die mühsam und unter vielen Opfern über Jahrhunderte erkämpft wurden. Wir sind gleich vor dem Gesetz: Mann und Frau, Kind und Erwachsener sind gleichberechtigt. Wir haben erkämpft, dass wir keine Religion, keine Rasse, kein Geschlecht diskriminieren. Diese positiven Grundrechte schützen unsere Würde. Diese Würde gilt es zu erhalten – auch in unserem Gesundheitswesen. Damit steht es in einer großen humanistischen Tradition, die wir nicht aufgeben dürfen.

»Wir halten die nachfolgenden Wahrheiten für klar an sich und keines Beweises bedürfend, nämlich: dass alle Menschen gleich geboren; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind; dass zu diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehöre.« (Unabhängigkeitserklärung USA, 1776)

»Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.« (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948, Art. 1)

»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« (Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1949, Art. 1, Abs. 1)

Unser Gesundheitswesen – ein System in der Kritik

Wehe dem, der krank wird?

»Wehe dem, der krank wird!« So lautete der Titel einer Fernsehsendung, die problematische Einzelfälle aus dem klinischen Alltag vorführte und damit unser Gesundheitssystem an den Pranger stellte. Da war bei einer Operation medizinisches Besteck im Körper vergessen worden. Bei einer Frau war ein minderwertiges Siliconbrustimplantat geplatzt. Ein im Internet empfohlener Zahnarzt hatte einer Patientin unnötige und teure Implantate eingesetzt. Bei einer anderen hatte eine Infektion in der Klinik zu einem langen Leidensweg geführt, und jemand war an Krankenhauskeimen gestorben: Ärztliche Kunstfehler, Fehldiagnosen, kriminelle Beutelschneiderei, mangelnde Hygiene – jeder einzelne Fall war schlimm.

Im Krankenhausreport 2014 der AOK wird hochgerechnet, dass ca. 19 000 Menschen jährlich aufgrund von Behandlungsfehlern versterben.

Pfusch, Vertrauensmissbrauch und schwarze Schafe gibt es zwar in jeder Branche. Aber im Gesundheitswesen sind Menschenleben betroffen. Doch nicht alles lässt sich über einen Kamm scheren. Man muss unterscheiden zwischen den tragischen Einzelfällen einerseits und den strukturellen Problemen oder Systemfehlern andererseits. Ich bin überzeugt: Grundsätzlich verdient unser Gesundheitssystem Vertrauen. Nicht umsonst lassen sich Menschen, die im Ausland krank werden oder einen Unfall erleiden, so schnell wie möglich nach Hause bringen, in ein deutsches Krankenhaus. Sie vertrauen dem hiesigen Standard der Versorgung und Behandlung.

Tatsächlich haben wir ein Gesundheitswesen, um das uns viele beneiden. Der fachliche Standard der Heilberufe ist hoch, das Netz niedergelassener Ärzte dicht; selbst im ländlichen Raum gibt es erste Anzeichen dafür, dass sich dort wieder mehr Hausärzte niederlassen wollen. In der Breite gesehen haben wir die beste fachärztliche Versorgung, die es jemals gab. Die Krankenhausversorgung ist gut ausgebaut mit Akuthäusern und Spezialkliniken, die überwiegend nach den Krankenhausbedarfsplänen der Länder gefördert werden. Und wir haben den Rehabilitationsbereich. Nicht zu vergessen auch die psychosozialen Ansätze sowie die Versorgung durch Apotheker, Krankengymnasten, Logopäden, Orthopädiemechaniker, Ernährungsberater, Physiotherapeuten, Akupunkteure, Heilpraktiker etc. Insgesamt phantastische Grundvoraussetzungen für eine breite medizinische Versorgung für jedermann. Fast 90 Prozent der Menschen hierzulande sind gesetzlich krankenversichert, 10 Prozent privat. Sie haben Anspruch auf eine ambulante oder stationäre Krankenbehandlung mit allem, was dazugehört. Private Krankenkassen bieten Zusatzversicherungen. Die Kassen befinden sich untereinander in einem wettbewerblichen Verhältnis. Nicht jede zahlt alles. Manche bieten auch Hightech-Untersuchungen oder Hightech-Modalitäten in Diagnose oder Therapie an, die anderen wiederum zu teuer sind. Man kann sich für das eine oder das andere entscheiden. Alles in Ordnung also? Leider nicht.

Fehlsteuerungen im System – 30 Prozent mehr Operationen

Unser System funktioniert im Zusammenspiel von medizinischen und rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen, sachlichen und personellen Faktoren. Seine Leistungsfähigkeit hängt an der Finanzierbarkeit. Kostendämpfung ist wichtig, auch um das Ganze erhalten zu können. Nur darf dabei – und jetzt sind wir schon wieder bei der Würde, dem zentralen und entscheidenden Punkt – der humanitäre Aspekt nicht außer Acht gelassen werden. Das geschieht aber immer wieder, und meist merken wir erst hinterher, was da angerichtet wird. So haben wir in Deutschland beispielsweise einen Fehler gemacht, seitdem wir versuchen, Kosten zu sparen, indem wir die Abrechnung medizinischer Leistungen im Krankenhaus nach Fallpauschalen eingeführt haben. Im Gegensatz zu zeitraumbezogenen Vergütungsformen – etwa Tagespflegesätzen – oder einer Vergütung einzelner Leistungen erfolgt bei den Fallpauschalen die Vergütung von medizinischen Leistungen pro Behandlungsfall. Nur der konnte und durfte die Krankenhäuser fortan noch interessieren. Wo es darauf angekommen wäre, das Zusammenwirken von niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern, Rehabilitation und anderen Therapieeinrichtungen integrativ auszubauen, waren die Krankenhäuser fiskalisch gehalten, ihre Fälle sozusagen losgelöst von der jeweils besonderen Krankengeschichte abzuwickeln. Das traditionelle Netzwerk ärztlicher Behandlung drohte – und droht noch immer – zu zerreißen.

Im Krankenkassenbereich ebenso wie bei den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern gewinnt der Wettbewerb inzwischen in einer durchaus bedrohlichen Form an Bedeutung. Frei nach dem Motto »Der Bessere setzt sich durch« wird der Medizinmarkt sich selbst überlassen. Was das für den Patienten bedeutet, kann man an den steigenden Operationszahlen (laut Statistischem Bundesamt um 30 Prozent seit 2005 auf mittlerweile fast 16 Millionen chirurgische Eingriffe im Jahre 2013) ablesen und am deutlichsten im Bereich der »Pflege« erkennen, die den Namen, den sie sich gibt, oftmals nicht mehr verdient. Unter dem Druck der Einnahmenoptimierung einerseits und der Kostenoptimierung andererseits sind wir auf diesem Weg in den Pflegenotstand geraten. Seit der Einführung der Fallpauschalen im Krankenhaus 2003 ist die Zahl derer, die für die Pflege der zunehmend älteren Patienten unmittelbar zuständig sind, dramatisch gesunken. Wir haben heute fast 40 000 Krankenschwestern und Pfleger weniger als 1996.

Es gab im Jahre 1996 1 024 257 Mitarbeiter im nichtärztlichen Dienst in Krankenhäusern, im Jahre 2012 gab es 986 768 Mitarbeiter, also 37 489 weniger.

Die Entwicklung war absehbar. Denn wenn die Krankenhäuser jeden Krankheitsfall pauschal abrechnen müssen und zugleich gehalten sind, kostendeckend zu arbeiten – wo denn sonst, wenn nicht beim Personal, sollten sie sparen? Der Skandal dabei: Es handelt sich um einen Berufsstand, der dem Patienten täglich fürsorglich zur Seite steht und ihm viel näher ist als andere.

Das Problem stellt sich aber nicht bloß in den Krankenhäusern, sondern auch danach, in der häuslichen Pflege, da die Zahl der Rekonvaleszenten und der gebrechlichen Patienten, die aufgrund der Fallpauschale zu früh aus den Krankenhäusern entlassen werden, dramatisch zunimmt: Die durchschnittliche Verweildauer in Krankenhäusern ist laut dem Statistischen Bundesamt von 14 Tagen im Jahre 1991 auf 7,6 Tage im Jahre 2012 gesunken.

»Kranke Schwestern« oder Krankenschwestern?

Auf den T-Shirts der Demonstranten vor einer großen Uniklinik sah man den Slogan »Kranke Schwester«. Ein sprechendes Bild! Die Statistiken zeigen: Die Pflegenden gehören zu den Berufsgruppen mit den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen wegen psychischer Erkrankungen. Und das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, was beispielsweise von den Krankenschwestern erwartet wird. Zwei Drittel von ihnen müssen schwerer heben als ein Bauarbeiter, drei Viertel stehen im Schichtdienst, die meisten arbeiten regelmäßig auch an Sonn- und Feiertagen. Viele haben ein Überstundenkonto, das sie infolge des akuten Personalmangels gar nicht mehr abbauen können – ganz zu schweigen von der hohen psychischen und physischen Belastung auf Dauer.

Wer je mit den Menschen zu tun hatte, die in der Pflege arbeiten, weiß, wie belastend der Alltag unter den Vorgaben der sogenannten »Minutenpflege« ist: schnell waschen, schnell anziehen, unter Zeitdruck zur Toilette bringen, die Gabe der Tabletten überwachen, wenige Worte wechseln … und bei all dem wartet schon der nächste Patient. Das ist nicht nur ein Problem der oft fehlenden Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beteiligten: Angehörigen, Pflegekräften, Ärzten. Es ist schlicht auch ein Problem des Personalmangels.

Der als würdelos empfundene Umgang mit Patienten im Krankenhaus findet seine Ursache auch in der ökonomisch bedingten Überlastung des Pflegepersonals. Beim Personalschlüssel in der Krankenpflege liegt Deutschland zusammen mit Spanien europaweit an letzter Stelle. In Norwegen teilen sich vier Patienten eine Pflegekraft, in Deutschland sind es zehn. Abhängig Beschäftigte sind im Schnitt zwölf Tage im Jahr krank, beim Pflegepersonal sind es 19 Tage. Altenpflegerinnen fallen sogar durchschnittlich für mehr als 25 Tage aus – so der Gesundheitsreport 2012 der Techniker Krankenkasse. Auch die Fluktuation ist in diesem Beruf überdurchschnittlich hoch. Die Pflegeberufe erscheinen als unattraktiv. Man kann allgemein sagen, dass der drohende oder bereits vorhandene Mangel an Pflegefachpersonal die pflegerische Versorgung gefährdet.

Die Pflegekräfte gehörten 2007 zu den Berufsgruppen mit den meisten Krankheitstagen wegen psychischer Erkrankungen. Das Pflegethermometer 2009 des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung e.V. zeigt das folgende Bild: Aus Hochrechnungen ergibt sich für die Gesamtzahl der in Deutschland beschäftigten Gesundheits- und Krankenpflegekräfte, dass in Krankenhäusern für rund 15 000 fehlende Pflegekräfte in Vollzeit Überstunden geleistet worden sind.

Wer heute vom drohenden Pflegenotstand spricht, muss sich nicht mehr vorwerfen lassen, den Teufel an die Wand zu malen. Ab 2025 werden die ersten Babyboomer in Rente gehen. Wir werden dann noch viel mehr Personal für die Pflege brauchen. Kamen die Deutschen 2007 noch mit ca. 580 000 Pflegekräften aus, wird schon für 2030 ein Bedarf von 700 000–900 000 erwartet. Es müssen also 120 000, wenn nicht gar 320 000 Pflegekräfte dazukommen. Das will vorausschauend geplant und schließlich auch finanziert sein.

Die Politik ist gefordert – jetzt!

Die Politik muss Geldmittel umverteilen, um den Personalschlüssel im Interesse der Menschen zu verbessern. Problematisch würde es freilich, wenn die Mehrkosten dann wieder allein durch eine Erhöhung der Beiträge zur Pflege- und Krankenversicherung gedeckt werden sollten. Das würde am Ende wenig, schlimmstenfalls gar nichts ändern. Nach Kurzem stünden wir wieder vor den gleichen Problemen. Wie bisher liefen uns die Kosten davon. Denn jeder weiß: Der Anteil der älteren Pflegebedürftigen wird steigen; und jeder Einzelne hat es nicht nur verdient, umfassend behandelt, sondern auch menschenwürdig und liebevoll betreut zu werden.

Der Staat hat, das ist seine Aufgabe, an der Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung von Gesundheit als oberstem Ziel festzuhalten. Optimale Vorsorge, Gesunderhaltung und auch optimale Nachsorge, das sollte die oberste Priorität des Gesundheitsministeriums sein. Allerdings fängt die Schwierigkeit bereits bei der Begriffsbestimmung an: Was ist gesund, was ist krank? Wir werden auf diese grundsätzliche Frage noch kommen. Die Definitionsfrage führt mitten in praktische Probleme. Gefragt wird nach der körperlichen, der mentalen, der psychosozialen Gesundheit. Aber steht dabei das Herz mehr im Vordergrund oder der Rücken? Jeder Mensch wird da seine ganz eigenen Vorstellungen haben, je nach persönlicher Erfahrung. Die Frage, was Gesundheit ist, lässt sich so pauschal nicht beantworten. Die Politik aber ist es gewohnt, Prioritäten zu setzen, zumal wenn es um Sparmaßnahmen geht. Die Konsequenzen müssen die Patienten tragen; sie sind das schwächste Glied in der Kette.

Unser Gesundheitswesen ist in genau geregelte Verwaltungsabläufe eingebettet: Sachbearbeiter entscheiden nach strengen Vorgaben, was bezahlt wird und was nicht. Kontrolle muss sein, keine Frage. Aber ich höre immer wieder auch Berichte von Menschen, die über Schwierigkeiten mit der Bürokratie der Krankenkassen klagen. Da werden Bandagen oder Kompressionsstrümpfe nicht genehmigt, da wird der Antrag auf ein Hörgerät oder eine Reha-Maßnahme erst nach langer Zeit bewilligt. Unzählige Telefonate und »Papierkrieg« sind oft nötig, immer wieder, um Kleinigkeiten zu regeln, die aber zum Wohl eines Kranken wichtig wären – wie beispielsweise die Lieferung eines Rollstuhls. Natürlich muss eine Kasse genau prüfen, was nötige und was unnötige Ausgaben sind. Aber manchmal geht dabei der Blick auf den leidenden Patienten verloren.