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Ulrike Schweikert

Vyrad

Die Erben der Nacht

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Die zitierten Gedichte von Lord Byron, »Als wir zwei schieden« und »Newstead Abbey«, sind folgender Ausgabe entnommen: Siegfried Schmitz (Hrsg.), »George Gordon Byron: Sämtliche Werke. In den Übertragungen von Otto Gildemeister und Alexander Neidhardt, überarbeitet ergänzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Siegfried Schmitz.« 3 Bde. Winkler Verlag München 1977–1978.


Die zitierte Passage aus Bram Stokers »Dracula« in der Übersetzung von Wulf H. Bergner ist der Heyne-Taschenbuch-Ausgabe aus dem Jahr 2001 entnommen


Originalausgabe Oktober 2011

© 2011 cbt/cbj-Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
unter Verwendung einer Illustration von Paolo Barbieri

KK · Herstellung: AnG

Satz: Buch-Werkstatt, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-07704-4
V003


www.cbt-jugendbuch.de

Karte von London

Seymour

Geräuschlos schlüpfte der Wolf durch die halb geöffnete Tür und trat in die dämmrige Hütte. Das weit heruntergezogene, von Moos bedeckte Dach ließ das kleine Haus nahezu mit dem bleichen Grün des spätsommerlichen Moores verschmelzen. Das letzte Tageslicht drang durch den Türspalt und das winzige Fenster, dennoch war es in dem einzigen Raum der Hütte so dunkel, dass menschliche Augen wohl kaum die Konturen der wenigen Möbelstücke hätten ausmachen können. Der Wolf jedoch erfasste das Innere der ärmlichen Behausung mit einem Blick: Das niedrige, hölzerne Bettgestell in der rechten Ecke, über das eine Flickendecke gebreitet war, die Weidenkörbe an der hinteren Wand, aus denen der Duft von noch feuchten Torfstücken und allerlei Kräutern emporstieg, den massiven Tisch mit den vier Stühlen in der Mitte und dann auf der linken Seite den offenen Herd, neben dem sich Kessel und Töpfe reihten. Schimmernde Lichtpunkte huschten wie Glühwürmchen über das polierte Kupfer. Sein Blick verharrte auf der Gestalt, die – ihm den Rücken zugewandt – vor dem fast erloschenen Torffeuer saß. Sie rührte sich nicht, als er lautlos näher trat.

»Nun, was gibt es, mein Sohn?«

Nein, es wunderte Seymour nicht, dass es ihm nicht gelang, Tara zu überraschen. Vermutlich hatte sie seinen Weg in ihrem Geist begleitet, seit er den Kamm überquert und den Bergrücken ins Moor hinabgestiegen war.

»Aber sicher«, beantwortete sie seinen Gedanken. »Ist das nicht ganz natürlich? Beobachtet nicht jede Mutter den Weg ihrer Kinder in Stolz und Sorge?«

Der Wolf brummte in einer Mischung aus Unmut und Belustigung, antwortete aber nicht. Stattdessen begann sein Wolfskörper sich unnatürlich zu winden. Er zuckte am ganzen Leib, dass das silbrigweiße Fell bebte. Dann schien sich jedes Haar in die Haut zurückzuziehen, die Schnauze wurde flacher, der Schädel dehnte sich aus und nahm die Züge eines menschlichen Gesichts an. Als der Werwolf sich in seiner Menschengestalt erhob, wandte sich die Druidin um. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen und ein weicher Zug trat in ihre Augen, die erstaunlich hell und wach aus dem runzeligen Gesicht einer uralten Frau blickten. Wie alt sie wirklich war, konnte keiner genau sagen, und die Druidin schwieg sich darüber aus. Seymour selbst war mehr als einhundert Jahre alt. Dabei war er kein Greis. Die Magie der Werwölfe verlangsamte das Altern seines Körpers, der vielleicht ein wenig dünn erschien, dennoch sehnig und stark. Ein Mann in seinen besten Jahren. Die Züge seines herben Gesichts waren alterslos, während das silbrige Haar von seiner langen Lebenszeit sprach.

»Setz dich, Seymour, und sage mir, was dich bedrückt.« Tara wies einladend auf einen der Stühle und machte sich daran, Torf nachzulegen und die Glut zu schüren, bis die ersten Flammen zuckten und dunkler Rauch den Abzug hinaufstieg. Sie entzündete die beiden Kerzen auf dem Tisch. Von einem Wandbord holte sie eine bauchige Flasche und zwei Tonbecher, schenkte ein und setzte sich dann zu ihrem Sohn. Seymour schnupperte ein wenig misstrauisch an dem Gebräu, das nach vergorenem Honig und Heidelbeeren roch, dann nahm er einen kleinen Schluck.

»So etwas bekommst du nicht oft zu trinken«, schmunzelte die alte Frau.

Seymour stieß einen abfälligen Laut aus.

»Das ist wahr. Das Wasser aus den Bergen ist der Wein der Wölfe. Aber ich bin nicht gekommen, um dein Gebräu zu probieren. Doch das weißt du ja bereits«, fügte er mit bitterem Ton hinzu. »Wozu soll ich die Fragen aussprechen, die du längst in meinem Geist gelesen hast?«

Ein wenig entschuldigend hob Tara die Schultern. »Das sollte dich nicht kränken. Es ist mir zur Gewohnheit geworden, den Gedanken derer zu lauschen, die mir am Herzen liegen. Ich freue mich dennoch, dass du den weiten Weg zu mir gekommen bist, um mit mir zu sprechen.«

Der Wolf schwieg. Tara wartete geduldig. Seymour kämpfte noch eine Weile gegen den Unmut, den er empfand, ehe er damit herausplatzte, was ihn seit Wochen mit Sorge erfüllte.

»Ich kann sie kaum mehr erreichen! Ich habe das Gefühl, das Band, das uns so eng verbunden hat, wird stetig dünner. Bald wird es ganz zerreißen!« Furcht und Schmerz standen in seinen bernsteinfarbenen Augen.

Tara nickte bedächtig. Sie musste ihn nicht um Erklärung bitten, um seine Worte zu verstehen.

»Ich weiß, Seymour. Das ist für euch beide keine leichte Zeit.«

»Ihr habt mich fortgeschickt«, brummte er missmutig. »Wochenlang habe ich weder sie noch dich zu Gesicht bekommen.«

»Jeder hat seine Aufgabe zu erfüllen«, sagte die Druidin sanft. »Der Friede in Irland ist brüchig. Deine Aufgabe ist es, das Band zu deinen Brüdern, den Werwölfen, zu festigen und dafür zu sorgen, dass sie den Vertrag einhalten und sich nicht wieder gegen Vampire und Druiden rüsten.«

»Der heilige Stein ist in den Tiefen des Lough Corrib versunken. Der Zankapfel ist allen Händen entrissen. Worum sollten sie noch kämpfen?«

»Die Rassen und Völker haben von jeher Gründe gefunden, sich zu bekriegen«, gab die Druidin zu bedenken, doch Seymour beachtete den Einwurf nicht.

»Meine Aufgabe ist es, meine Schwester zu begleiten und zu beschützen! Ich sollte keinen Moment von ihrer Seite weichen.«

Tara nickte. »Ja, so lauteten meine Worte. Ich kann mich durchaus erinnern. Das war deine Aufgabe in den vergangenen Jahren, als du mit Ivy nach Rom gereist bist, nach Hamburg, Paris und Wien. Doch die Zeiten ändern sich, und nicht immer verläuft der Fluss der Geschichte in dem Bett, welches ich ihm zugedacht habe.«

»Du willst doch nicht etwa sagen, dass sich die große Druidin Tara geirrt hat?«

»Dein Sarkasmus verrät deine Bitterkeit. Ja, auch ich kann die Zukunft nicht immer klar erkennen und manches Mal nehmen die Ereignisse eine überraschende Wendung.«

»Ach, du konntest nicht vorhersehen, dass Dracula Ivy entführen würde, um mit ihrem Blut eine neue, stärkere Rasse von Vampiren zu zeugen?«

»Nein, das war mein Fehler. Ich dachte, der Schutz des Connemaramarmors würde für die Zeit in Wien noch ausreichen, Dracula von ihr fernzuhalten.« Sorgenvoll runzelte die Druidin die Stirn. »Es hätte nicht so weit kommen dürfen. Wir müssen dem gnädigen Schicksal danken, dass Dracula mit seinem Plan gescheitert und Ivy unversehrt in den Schoß ihrer Heimat zurückgekehrt ist. Der cloch adhair ist für uns zwar verloren, aber es gibt mehr als die Magie des Steins, um Ivy zu schützen. Hier in Irland kann ihr nichts geschehen. Ich habe die vergangenen Wochen hart mit ihr daran gearbeitet, ihre Kräfte zu stärken und sie für jeden möglichen Angriff bereit zu machen. Deshalb haben wir uns in die Einsamkeit des Moores zurückgezogen.«

»Ihr hättet mich mitnehmen können. Ich hätte über euch gewacht.«

Die Druidin lächelte milde. »Ach Seymour, ich weiß, dass du deine Schwester über alles liebst und dass du dich daran gewöhnt hast, ihr nicht von der Seite zu weichen. Doch vielleicht brechen nun andere Zeiten an.«

Seymour ließ die Worte in sich nachklingen. »Sie wird also nicht nach London gehen, um mit den anderen jungen Vampiren die Akademie zu besuchen?«, sagte er nach einer Weile. »Trotz eurer einsamen Wochen des Lernens und des Übens und all deiner alten Magie wirst du nicht zulassen, dass sie die Insel verlässt, weil du sie dort draußen nicht beschützen kannst!«

Herausfordernd sah er die Druidin an.

»Selbst wenn ich sie aus Irland fortlassen würde, du vergisst, ihr Geheimnis wurde in Wien gelüftet. Glaubst du, die Vyrad würden eine Unreine zur Akademie laden?«

Seymour schwieg verblüfft. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Über Ivys Entführung nach Transsilvanien und all seine Ängste bis zu ihrer Rettung hatte er ganz vergessen, dass Ivys Maskerade aufgeflogen war. Ja, nun wussten alle, dass die Lycana die anderen Clans getäuscht hatte, als sie Ivy als eine Erbin reinen Blutes ausgegeben hatten. Die Wogen der Entrüstung hatten sich zwar geglättet, dennoch lag Tara sicher richtig. Es war nicht zu erwarten, dass Ivy zur Akademie geladen würde. In diesem Herbst würde Mervyn der einzige Lycana sein, der nach London reiste, um mit den Erben der anderen Clans von den speziellen magischen Fähigkeiten der Vyrad zu lernen. Ivy wusste das. Es musste ihr schon vor Monaten klar geworden sein. Seymour begann zu ahnen, wie sehr Ivy der Gedanke quälte, ihre Freunde nicht wiederzusehen. Wie gut es ihr gelungen war, den Schmerz vor ihm zu verbergen! Seymour konnte es nicht fassen und es kränkte ihn, dass sie nicht seinen Trost gesucht hatte.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass auch er die anderen jungen Vampire nicht mehr treffen würde. Überrascht bemerkte er, wie sich ein Gefühl von Verlust und Leere in ihm ausbreitete und tiefe Traurigkeit ihn zu erfüllen begann. Ja, er würde die Vampire der anderen Clans vermissen, die ihm in den vergangenen Jahren ans Herz gewachsen waren: die kluge und wissbegierige Alisa von den Vamalia in Hamburg, Luciano de Nosferas aus Rom, der sich von einem dicken, tollpatschigen Jungen zu einem gut aussehenden, geschickten Vampir gemausert hatte, ja, selbst den schönen, arroganten Franz Leopold de Dracas aus Wien, der Ivy in ihrem Jahr in Irland erst den Kopf verdreht und sie dann hatte fallen lassen. Damals war Seymour so wütend gewesen, dass er ihn hätte zerfetzen mögen, doch seit der Dracas sich bei Ivys Befreiung so entschlossen und mutig gezeigt hatte, war er mit ihm versöhnt.

Dann der vorlaute Tammo de Vamalia, der Jüngste im Bunde, die stets schmuddeligen Pyras und all die anderen. Er vermisste sie alle und er verstand, was Ivy empfinden musste, vielleicht besser als sie es ahnte. Warum nur ließ sie sich nicht von ihm trösten? Warum wies sie ihn von sich? Sie hatte sich verändert. Früher hatte sie stets seine Nähe und seinen Rat gesucht. Was war nur geschehen?

Er spürte Taras mitfühlenden Blick auf sich ruhen. Seymour war klar, dass sie jedem seiner Gedanken gefolgt war. Er seufzte. Es gab nichts mehr dazu zu sagen.

»Wo ist Ivy? Ist das Stärken ihrer Kräfte jetzt beendet?«

Tara ignorierte die Bitterkeit und den Spott in seiner Stimme. Sie nickte nur. »Ja, mehr kann ich für ihre Sicherheit nicht tun. Nun ist es an Ivy, klug zu handeln.«

»Wo ist sie?«, wiederholte der Werwolf.

»Du wirst sie in Dunluce finden. Sie ist gestern aufgebrochen.«

Seymour erhob sich. »Ich bilde mir nicht ein, sie einholen zu können«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Ich vermute, sie hat sich nicht in ihrer menschlichen Gestalt auf den Weg gemacht?«

Tara schüttelte den Kopf. »Sie flog mit meinem Falken als Begleiter.«

Wieder fühlte er einen Stich der Eifersucht. Es wäre an ihm gewesen, an ihrer Seite zu bleiben und sie sicher in den Norden der Insel zu geleiten, wo die Lycana auf Dunluce Castle hoch über den Klippen ihre Zuflucht gefunden hatten.

»Ich wünsche dir eine sichere Reise, mein Sohn.«

Seymour wandte sich noch einmal um. »Willst du mich nicht begleiten?«

Die Druidin schüttelte den Kopf. »Mein Platz ist hier, nicht bei den Vampiren von Dunluce. Wir Druiden haben stets die Einsamkeit gewählt.«

»Und wo ist mein Platz?«, murmelte Seymour.

»Du wirst ihn eines Tages finden. Lass dir Zeit«, antwortete die Mutter leise. Es schwang eine solch tiefe Traurigkeit in ihrer Stimme, dass Seymour ein eisiger Schauder über den Rücken rann. Sie sah wieder einmal etwas, das noch halb in den Schleiern der Zukunft verborgen lag, doch er scheute sich, sie danach zu fragen. Nein, vielleicht war es besser, wenn er nichts von dem wusste, was als böse Ahnung im Geist der Druidin aufgeblitzt war.