Norbert Wickbold

Wer weiß, wie wir mal werden?

Abb. 1: »Vom Schreiben zum Malen« Paula Hinze*, 89 J, 1994
Beispiel aus einer Malstunde

* Der Name wurde verändert. Dies gilt selbstverständlich für alle Namen der in diesem Buch beschriebenen Personen. Deshalb wird darauf nicht mehr extra hingewiesen.

Norbert Wickbold

Wer weiß, wie wir mal werden?

Selbstentwicklung kreativ fürs Alter nutzen

Wieviel Schönheit ist auf Erden

unscheinbar verstreut;

möcht ich immer mehr des inne werden.

Wieviel Schönheit, die den Taglärm scheut,

in bescheiden alt und jungen Herzen!

Ist es auch ein Duft von Blumen nur,

macht es holder doch der Erde Flur,

wie ein Lächeln unter vielen Schmerzen.

Christian Morgenstern

Inhalt

  

Vorwort

1.  

Wie uns das Leben hilft

1.1  

Wer weiß, wie wir mal werden?

1.2  

Lebensziel Alter?

>  

An wen sich dieses Buch wendet

1.3  

Vom Sinn des Lebens, des Sterbens und der Aufgabe des Alters

1.4  

Wie wir wurden was wir sind

1.5  

Die Schule des Lebens und die Weisheit des Alters

1.6  

Der Tod als Grenzerfahrung

1.7  

Die eigene Biografie als Gestaltungsaufgabe

1.8  

Zwischen Selbstvergessenheit und Neuerfindung

1.9  

Und was wird aus mir? – Wenn der Partner Pflege braucht

1.10  

Jetzt werde ich wirklich alt! oder – Wie das Alter gelingen kann

2.  

Wie uns die Kunst hilft

2.1  

Mit den Bildern der Seele sprechen – Alte Bilder verwandeln sich zu neuen

2.2  

Was sind innere Bilder?

2.3  

Arbeiten mit eidetischen Bildern

2.4  

Arbeiten mit Visualisierungen

2.5  

Illusion und Projektion – Täuschung und Ent-Täuschung

2.6  

Innere Bilder wahrnehmen und zum Ausdruck bringen

2.7  

Die Kunst als Orientierungsrahmen

2.8  

Die Farbe als ganzheitliches Phänomen

2.9  

Kunsttherapie und Heilung – Wie Kunst wirkt

2.10  

Auf künstlerischen Wegen dem Alter entgegen

3.  

Welche Therapie uns unterstützen kann

3.1  

Welche Therapie hat welche Ziele?

3.2  

Die Macht der Bilder – gestern und heute

3.3  

Mit Worten Bilder malen – Biografisches Schreiben

3.4  

Das Ich, die Erinnerung und die Demenz –Eine meditative Annäherung

3.5  

Alles nur Einbildung?

3.6  

Realität und Scheinrealität – Betrachtungen über die Welt der äußeren Bilder

3.7  

Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß! – Oder doch?

3.8  

Du machst mich noch ganz verrückt! – Partnerschaften bis ins Alter

3.9  

Trauma und Demenz

3.10  

Wie alles sich zum Ganzen webt

4.  

Spezielle Themen

4.1  

Von Hexen, Giftzwergen und Vampiren – und wie man mit ihnen umgeht

4.2  

Vom Leitbild zum Leidbild? – Prägung und Krankheit am Beispiel der parkinsonschen Krankheit

4.3  

Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen

4.4  

Ach wie gut, dass ich jetzt weiß

5.  

Zusammenfassung und Ausblick

A  

Danksagung

  

Literaturverzeichnis

  

Quellenverzeichnis der Abbildungen

  

Stichwortverzeichnis

  

Über den Autor

Vorwort

Durchaus Verständnis und zuweilen überschäumende Begeisterung ruft es hervor, wenn Erwachsene das Kind im Manne bzw. in der Frau zu seinem Recht verhelfen wollen. Wenn sich jedoch jemand über die Ausgelassenheit von Kindern beschwert, so entgegnet man ihm mit den Worten: „Sie waren doch selbst mal ein Kind!“

In einem lockeren Gespräch erzähle ich, dass ich Altenpfleger bin. Darauf begegnet mein Gesprächspartner spontan mit dem Satz: »Ach, das könnt‘ ich nicht!« Sogleich klärt er mich darüber auf, wie sehr solche Menschen zu bewundern sind und wie schwer und anstrengend deren Arbeit doch sei. Viele Menschen reagieren so. Doch kommt es ihnen auch in den Sinn, dass es für einen angemessenen Umgang mit alten Menschen einer echten Würdigung bedarf? Denkt mein Gegenüber vielleicht: »Arme(r) Irre(r)!« und versucht sich aus seinem Unverständnis heraus als besonders mitleidvoll zu erweisen? Ich kann ihm nicht entgegnen: »Sie waren ja auch schon mal alt.« Im weiteren Gespräch mit ihm erfahre ich schnell: Mit dem eigenen Älterwerden und der damit verbundenen Lebensperspektive möchte er sich „noch“ nicht auseinandersetzen. Die Antwort: »Das kommt schon früh genug!« klingt wie eine Warnung. Dann wird das Thema gewechselt.

So bleibt bei vielen Menschen die Altersvorsorge beschränkt auf die Absicherung der finanziellen Folgen des Alters. Natürlich kann ich all diesen Menschen entgegnen: »Auch Sie werden einmal alt!«, doch hat das keine überzeugende Wirkung. Zu groß ist die Angst vor dem eigenen Alter und – in letzter Konsequenz – dem eigenen Tod. Wir wissen um unsere Vergänglichkeit, aber wir wollen möglichst nicht daran erinnert werden. Die Überzeugung vom »Verrückt-werden im Alter« ist offenbar in allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen tief verwurzelt.

…denn im Alter scheint alles, was im »normalen Leben« Sinn macht, (und jetzt weiß ich auch, warum man heute vom Sinn machen und nicht mehr vom sinnvollen Sein spricht) seinen Wert und seine Bedeutung zu verlieren. Mir scheint, im Alter liegt der Sinn nicht mehr in dem, was wir haben oder machen, sondern in dem, was wir sind – und zwar gegenwärtig.

Zwar sind Menschen, die selbst einen älteren Menschen pflegen oder gepflegt haben, eher dazu bereit, sich mit den Schwierigkeiten im Umgang mit älteren Menschen oder mit den in die Jahre gekommenen Eltern auseinander zu setzen, aber dem eigenen Älterwerden und der damit einhergehenden persönlichen Entwicklung, sehen auch sie oft skeptisch entgegen. »Dann lieber gar nicht erst alt werden!«, ist eine Äußerung, die ich viele Male von jung und alt gehört habe. Viele Menschen wünschen sich, dass sie plötzlich umfallen und dann sofort tot sind, um so der Auseinandersetzung mit Alter und Tod mühelos zu entgehen.

Gerade den Menschen, denen das Alter in erster Linie als eine Bedrohung erscheint, möchte ich mit diesem Buch Mut machen genauer hinzuschauen und sie dazu ermuntern, dem Alter und somit auch dem eigenem Älterwerden, also dem eigenen Werden im Alter, zuversichtlich entgegen zu gehen.

Wie sehr Altenpflegerinnen und Altenpfleger auch gelobt werden, wer etwas über »das Alter« erfahren will, befragt lieber Professoren, Chefärzte von Großkliniken, Politiker oder Leiter von Altenpflegeheimketten. Als Experten gelten ebenfalls Chefökonomen und – sollten sie es in ihrem Leben zu Ruhm und Ehre gebracht haben, sodass sie zu den prominenten Persönlichkeit zählen – auch ein paar ausgewählte Alte, wie Schauspieler, Schriftsteller oder Adlige. Doch wem kommt es in den Sinn, dass die vielen Tausend Pflegekräfte, AltenpflegerInnen und Krankenschwestern irgendetwas beachtenswertes zum Thema Alter zu sagen haben? Und wenn sich tatsächlich mal jemand aus diesem Personenkreis zu Wort meldet, dann wirkt das so – wie es einmal in einem Hörspiel beschrieben wurde – als würde einem beim Waldspaziergang von ihrem Ameisenhaufen aus eine Ameise eine weiße Fahne entgegenschwenken und ausrufen: „Hier bin ich!“ Selbst wenn so etwas tatsächlich geschähe, würde man es einfach nicht glauben, weil man schließlich weiß, dass Intelligenz, Wissen und Erfahrung einer Ameise dazu überhaupt nicht ausreichen. Somit ginge man kopfschüttelnd vorbei und würde niemanden davon erzählen, um nicht noch selbst als verrückt oder eben »alt« zu gelten. Im tiefsten Grunde gibt es nur einen Expeten für ihr Leben und Altwerden: Sie selbst! Zwar werden gerne Schauspieler, Musiker und Künstler als »Vorbildliche« Alte präsentiert, dennoch ist es den Entscheidern nicht möglich, zu erkennen, was sie in der Altenpflege mit jemanden anfangen sollen, der Klavier spielen kann. Auch künstlerisch Begabte oder Schauspieler sucht man bei den in der Pflege Tätigen vergebens. Und ist es nicht seltsam, dass die künstlerisch Tätigen, also diejenigen, die gerade nicht im »richtigen« Leben stehen, soviel vom Leben verstehen, dass ihnen viel eher, als den »Normalen« ihr Alt-Werden gelingt? Johannes Heesters setzte sich mit 104 Jahren schauspielerisch mit dem Tod auseinander.

Wer etwas wissen will über »Das Alter« der sieht sich unweigerlich auch konfrontiert mit »dem Alten«, also mit alten Gewohnheiten, Vorurteilen und Meinungen. Und das ist nicht nur ein persönliches, sondern gerade auch ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Lange wurde die Pflege alter Menschen als reine Frauensache angesehen, sodass es für Männer eine Zumutung wäre, so etwas tun zu müssen. Doch wenn es eine Zumutung ist, warum kann man das Frauen ohne weiteres zumuten? Und wenn die Alten als Zumutung gesehen werden, wie sollen sie dann würdevoll leben? Sollte man den Jungen wie den Alten nicht endlich durch eine würdigende Wertschätzung ihre Würde zurückgeben? Wie soll es uns gelingen, im Alter ein Leben in Würde zu führen, wenn wir das Alter selbst, also die letzte Phase des Lebens nicht wirklich wertschätzen und würden? Das Alter als Lebensabschnitt würdigen können wir, indem wir ihm die Bedeutung geben, die es für unsere gesamte Entwicklung hat. Mir scheint, dass es dazu erforderlich ist, all das Verdrängte, Befürchtete und Misslungene in unserem Leben frühzeitig anzunehmen und aus seiner Verbannung zu erlösen.

Aus den persönlichen Erfahrungen und Gedanken aus 19 Jahren Arbeit in der Altenpflege und der Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Sinn des Lebens, des Alters und des Sterbens ist dieses Buch gewachsen. Ich möchte nicht stehenbleiben bei weitverbreiteten und verzerrenden Vorstellungen und Vorurteilen über »die Alten«, sondern nach den inneren Motivationen dieser Menschen fragen. Dazu bedarf es vielleicht auch einiger ungewöhnlicher Betrachtungsweisen. Zur Klärung erscheint es mir wichtig, die individuelle Entwicklungsaufgabe zu betrachten. In der Bewältigung der persönlichen Entwicklungsaufgabe und der Auflösung der damit verbundenen Verwicklungen sehe ich einen wesentlichen Beitrag, den jeder selbst leisten kann, um zur Verhütung von Verwirrtheit und Demenz beizutragen. Ich halte den Ausspruch, den selbst die in der Pflege Arbeitenden machen: »Wer weiß, wie wir mal werden?« für gefährlich. Gefährlich, weil er uns vortäuscht, wir könnten nicht jetzt schon an unserem Werden im Alter arbeiten, denn dadurch könnten wir es versäumen – wie viele der derzeit alten Menschen es möglicherweise versäumt haben – die eigene Entwicklungsaufgabe frühzeitig in Angriff zu nehmen. Dann freilich, wenn wir die Chancen, die sich für uns durch die Auseinandersetzung mit den in uns wirkenden Gedanken, Gefühlen und Bildern nicht nutzen, gehen auch wir möglicherweise einem Schicksal entgegen, das auch uns in Verwirrung oder Verzweiflung führen kann. Ich glaube nicht, dass es als ein Segen anzusehen ist, wenn wir mit einem Schlag und unvorbereitet aus dem Leben scheiden ohne zuvor in unserem Leben zu dem gereift zu sein, zu dem wir von unserem Wesen her angelegt sind, denn das braucht gewöhnlich ein ganzes Leben, um sich zu entfalten. Kann es sein, dass gerades das Nicht-Ergreifen unserer Entwicklungsaufgabe uns zu dem macht, was wir – im Alter – befürchten? Jean Gebser sagt: „Alles, was uns zustößt, geht von uns aus.“ (GEBSER, 1986, S. 279) Wenn das so ist, dann liegt darin für uns auch die große Chance, unser Alter selbst zu gestalten! Das Leben selbst, die gemachten Erfahrungen, die Kunst und viele therapeutische Formen können uns auf unserem Weg zu uns selbst unterstützen. Ein Weg, der trotz aller Schwierigkeiten doch spannend und lohnenswert bleibt – bis zur letzten Stunde!

Die im Buch verwendeten Wörter Phantasie und Phantasien habe ich aufgrund vieler Zitate in der alten Schreibweise belassen.

Dezember 2013    Norbert Wickbold