www.tredition.de
Wolfgang Schulz
Jahrgang 1951
Besuch der Oberschule Schmölln (Oberlausitz) und der
EOS Bischofswerda
Studium an der PH „Clara Zetkin“ Leipzig
Diplomlehrer für Deutsch und Geschichte sowie nach einem Zusatzstudium in Dresden für Gemeinschaftskunde
Arbeit als Lehrer
1976 – 1979 |
Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz) |
1979 – 1992 |
Oberschule Schmölln (Oberlausitz) |
1992 – 2012 |
Städtisches Goethe-Gymnasium Bischofswerda |
e-mail: |
schulwolf@freenet.de |
Faust lebt!
Zwiebelfleisch
oder
Wie Marwin Feustel
versuchte,
die Welt zu retten
www.tredition.de
© 2014 Wolfgang Schulz
Umschlaggestaltung: Berko Schulz
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8495-7819-0
01 Maria, 23 Jahre, Verkäuferin
Manchmal geht alles schief.
Krachend warf Maria die Tür hinter sich zu und stampfte zur Straße. Eigentlich schien die Sonne. Trotzdem fühlte Maria schon am Morgen, dass ein blöder Tag bevorstand. Schon in der Nacht hatte sie schlecht geschlafen und zwischendurch von Bruno geträumt, der ihr fehlte. Bruno hatte vor einem halben Jahr (exakt vor 169 Tagen) das Haus verlassen und war seitdem nicht wieder aufgetaucht. Wie konnte man nur fies sein! Wenigstens verabschieden hätte er sich können!
Trotz ihrer Enttäuschung und ihrer Wut auf ihn fehlte er ihr. Würde er wiederkommen, würde sie ihm sicher das Erstbeste, was ihr in die Hände kam, an den Kopf werfen, aber dann doch schluchzend in seine starken Arme fallen. Ihr Traum war ein Traum geblieben und natürlich hatte sie niemand wach geküsst. Nur der Wecker hatte unbarmherzig geklingelt – allerdings eine Stunde zu spät! In 20 Minuten begann ihre Arbeit im Supermarkt! Mit einem Senkrechtstart sprang sie aus dem Bett.
Das Unheil ging weiter. Im Kühlschrank stand keine Butter mehr, das Marmeladenglas zerschellte auf dem Fußboden, schließlich war sie über die Katze gestürzt und hatte noch immer schmerzende Knie. Natürlich sprang ihr Wagen nicht an. Ihr Vater war doch erst gestern tanken gewesen! Oh Gott, womöglich hatte er sich dieses neuartige E 10 andrehen lassen! Schimpfen half nichts. Sie musste sich auf ihr Fahrrad schwingen und die 5 km bis zum Supermarkt, in dem sie den Gemüsestand betreute, darauf zurücklegen. Natürlich waren die Reifen fast platt. Da auch keine Luftpumpe zu finden war, musste es eben so gehen, was dann zu beträchtliche Dellen in ihren Felgen führte.
Im Supermarkt herrschte schon das blanke Chaos. Rudi rannte schwitzend zwischen den Regalen des Gemüsestandes herum. Just heute waren die grünfleckigen Mandarinen zum Angebot des Tages erklärt worden und alle Welt stellte plötzlich fest, ausgerechnet grünfleckige Mandarinen zu brauchen. Alles staute sich vor dem Fach, in dem sie schon tagelang unbeachtet lagen, die vorn Stehenden füllten sämtliche erreichbaren Plastikbeutel damit. Für Rudi war es nahezu unmöglich, mit dem Auffüllen nachzukommen. Zum Glück waren genug am Lager, und sollten die grünfleckigen doch knapp werden, dann waren da auch noch Unmengen gelbfleckiger, grau- und schwarzfleckiger Mandarinen. Maria begann sofort Letztere unterzumischen. Mit geübtem Schwung stieß sie die Leute beiseite, um ihren Nachschub unterzubringen. „Drängeln Sie doch nicht so!“ wurde sie angeschnauzt. „Vielleicht soll ich mich noch hinten anstellen, wenn ich für Sie Nachschub bringe!“ „ Seien Sie doch nicht so unfreundlich!“ … Und so ging der Tag weiter. Rudi war längst verschwunden und wuselte irgendwo zwischen den Keksregalen herum.
Am Nachmittag kam dann noch Marias Lieblingskundin. Sie schwenkte eine Gurke und hielt sie drohend Maria unter die Nase. „Was soll das sein?“ Maria knurrte nur: Wenn es gelb wäre, würde ich es für eine Möhre halten!“ Das war natürlich zu viel: „Was erlauben Sie sich? Für mein Geld kann ich einwandfreie Ware verlangen!“ Anklagend zeigte sie auf einen winzigen Fleck, an dem sich die Schale von der Gurke löste. Maria nahm die Gurke und drückte ihr statt dessen eine pralle Zucchini in die Hand. Die Kundin rückte ihre Brille zurecht und untersuchte das Produkt. Zu ihrem Ärger fand sie nichts auszusetzen. Sie warf sie in ihren Einkaufwagen und verkündete nun friedlich, dass sie daraus Gurkensalat bereiten wolle. „Na dann guten Appetit“ rief Maria und entfernte sich schnell. Irgendwann würde die doofe Ziege sicher merken, dass ihre Gurke gar keine Gurke war. Da wollte Maria lieber nicht in der Nähe sein. Nach unendlichen Wirren ging der Tag doch zu Ende. Die letzten Kunden kreisten noch durch die Regalreihen. Maria wollte nach hinten gehen, als sie plötzlich erstarrt stehen blieb. Was war denn das? Das konnte doch nicht sein! Auf einmal schien im Geschäft die Sonne zu scheinen.
Dort stand ein Mann! Ein Traum von einem Mann! Sie schloss ihre Augen, ganz fest, öffnete sie wieder, ein Vorgang den sie zur Sicherheit gleich noch einmal wiederholte. Es war kein Traum. Dort stand er. In voller Realität. Es war nicht etwa Bruno. Er war kleiner, lange nicht so muskulös, lange nicht so selbstsicher. Eher unbeholfen! Warum er einen Elektroschock nach dem anderen durch ihren Körper jagte, hätte Maria nie erklären können.
Unschlüssig wühlte er zwischen den Möhren herum. Alle Gefühle, die man sich denken kann, wallten durch ihren Körper, durch Kopf, Herz, Beine, Schenkel und den Fleck dazwischen.
Maria nahm all ihre Kraft zusammen und näherte sich ihm: „Darf ich Ihnen helfen?“ Er hielt ihr eine Möhre entgegen. Maria zuckte zusammen und wurde rot. Hatte er ihre Gefühle bemerkt? Er blickte verlegen. Schließlich öffnete er seinen Mund und sprach zu ihr.
„Ich suche Zwiebeln!“ waren seine bedeutenden Worte.
Jäh riss es Maria aus ihrem Traumzustand. „D-Dass ist aber eine Möhre!“ stammelte sie. Verwirrt blickte er auf die pralle Möhre, die er ihr entgegen streckte. „Ich weiß.“ Er warf sie in den Korb und seine suchenden Blicke glitten weiter über die Gemüsemassen, ohne auch nur eine Zwiebel zu sehen. Maria reichte ihm ein Netz voller Zwiebeln. Freudig nahm er es aus ihren Händen. Als er dabei Marias erwartungsvollen Blick bemerkte, glaubte er noch etwas sagen zu müssen.
„Ich will Zwiebelfleisch machen“, erklärte er.
Maria sank in sich zusammen. Zwiebelfleisch! Ausgerechnet Zwiebelfleisch! Davon bekam man doch höchstens Blähungen! War das alles?
Sie wandte sich entrüstet wieder ihrem Gemüse zu. Ein großer Kohlkopf war ins Tomatenfach gerollt und hatte dort ein beträchtliches Blutbad angerichtet. Sie nahm die bespritzte Riesenkugel heraus, hielt sie wie Natallja Michnewicz eine Weile und warf sie dann zu Boden, direkt vor seine Füße. Erschrocken sprang er zurück und sah sie verstört an.
Maria hatte sich wieder in Gewalt: „Na dann guten Appetit!“ wünschte sie ihm freundlich.
Bei ihm würde sie sogar Zwiebelfleisch gut finden und es, wenn auch widerwillig, essen. Wenn er doch noch etwas sagen würde!
Tatsächlich öffnete er seinen Mund. Erwartungsvoll blickte Maria.
„Danke“, sagte er. Mehr fiel ihm nicht ein und er ging. Maria wollte ihn aufhalten und noch irgend etwas Nettes sagen. Natürlich fiel ihr nichts Passendes ein. Es kam selten vor, dass sie sprachlos war. Sie stand immer noch vor ihren Gemüsekisten, als er längst bezahlt und den Laden verlassen hatte. „Es ist eben doch ein Scheißtag!“ knurrte sie und wandte sich den zermatschten Tomaten zu.
Zum Glück war bald Feierabend.
02 Winfried, 26 Jahre, Informatiker
Winfried stand mit seinen erworbenen Schätzen an der Haltestelle. Einkaufen empfand er jeden Tag aufs Neue als Strafe. Die Supermärkte, Kaufhallen und wie sie alle hießen, machten sich höchstwahrscheinlich einen Spaß daraus, gerade die Waren, die er brauchte, dorthin zu räumen, wo er sie nicht fand. Suchte er Gurken, fand er Butter, suchte er dagegen die Butter, dann war sie verschwunden und es lagen dort ganze Stapel Quark. Hatte er dagegen Appetit auf Quark, geriet er meist in die Fischabteilung und kam dann mit einem Heringssalat heraus. Heute schien alles gut zu gehen. Auf Anhieb hatte er das Fleischregal gefunden und sich ein wunderschönes Stück Kammfleisch ausgewählt. Nun brauchte er noch Zwiebeln. Der Gemüsestand, der sich eigentlich gleich in der Nähe des Fleischregals befand, war zwar zunächst unauffindbar. Doch schon nach dreimaligem Umkreisen sämtlicher Auslagen stand Winfried plötzlich davor. So schnell ging es selten. Natürlich hatte man die Zwiebeln geschickt vor ihm versteckt. Sein Blick flog suchend durch sämtliche Gemüse- und Obstsorten, aber Zwiebeln waren wohl nicht vorhanden. Er sah nur grünfleckige Mandarinen und jede Menge Möhren. Ihm würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als statt Zwiebeln Möhrensalat zu seinem Fleisch zu essen. Unschlüssig nahm er eine Möhre heraus. Möhren sollen ja gut für die Augen sein – vielleicht würde er dann beim nächsten Mal die Zwiebeln finden.
Plötzlich stand nun diese Verkäuferin vor ihm und er hielt ihr unglücklich seine Möhre entgegen. Und dann ging alles ganz schnell. Sie reichte ihm die Zwiebeln, er nahm sie dankbar. Um seine Verlegenheit zu verbergen, ging er rasch zur Kasse. Beim Bezahlen fiel ihm auf, dass er noch immer die Möhre drohend wie einen Revolver in seiner Hand hielt. Also bezahlte er auch diese und verließ dann rasch das Geschäft.
Das war aber einmal eine nette Verkäuferin! Mit so einer gemeinsam müsste man sein Zwiebelfleisch essen! Danach könnte man noch … Winfrieds Gedanken schweiften in sein Wohnzimmer. Er sah sich mit dieser Frau auf seiner Couch sitzen. Sie lächelte ihm glücklich zu: „So ein gutes Zwiebelfleisch habe ich noch nie gegessen!“ Winfried träumte, wie er seinen Arm um sie legt, sie schmiegt sich an ihn, ihr Mund kommt näher, ihre Lippen berühren sich sanft …
„Stehen Sie doch nicht so im Weg herum!“ rief eine erboste Stimme. „Entweder steigen Sie ein oder gehen Sie beiseite!“ Erschrocken sprang Winfried nach links und ließ die ältere Frau vorbei. Verärgert stieg sie in den Bus und schnauzte auch dort gleich noch den Busfahrer an. Winfried verstand nicht, worüber Sie wetterte.
Er setzte sich auf die Bank und überlegte, ob er mit dem nächsten Bus fahren oder lieber die 20 Minuten nach Hause laufen sollte. Beim Überlegen fiel ihm die Verkäuferin erneut ein und er sah sie neben sich sitzen. Doch weitere zärtliche Gefühle waren erst einmal verflogen.
„Was soll’s!“ raffte er sich auf, um nun endlich heimwärts zu schreiten. Der Markt hatte unterdessen geschlossen. Die letzten Kunden waren verschwunden und es kamen nur noch erschöpfte Verkäuferinnen und Verkäufer. Ein unbestimmbares Gefühl ließ Winfried stehen bleiben. Ob er sie wohl noch einmal sehen würde? Junge, alte, lachende, zeternde, hübsche und … naja auch Frauen gingen an ihm vorüber. Wo war sie?
Plötzlich hörte er ein schepperndes Geräusch hinter sich. Er drehte sich um und erstarrte. Da stand sie mit einem Fahrrad und blickte verzweifelt um sich. Oje, die Luft war völlig aus den Reifen entwichen.
Vier junge Burschen umzingelten sie: „Wer hat dich denn so platt gemacht?“ Wütend blickte Maria sie an. „Wir können dich ja aufpumpen!“ meinte einer und griff ihr unter die Brüste. Auch die anderen drei kamen immer näher und bedrängten Maria. „Lasst mich in Ruhe!“ schrie sie und blickte Hilfe suchend um sich.
Winfried sah das als ein höheres Zeichen. Er war alles andere als ein Held und hätte bei einer tätlichen Auseinandersetzung (Polizeijargon) kaum eine Chance gegen jeden einzelnen der Jungs gehabt. Trotzdem war er mit wenigen Schritten bei ihr und fragte, ob er ihr helfen könne. Wütend starrte er dabei die vier Jungs an: „Ihr Saukerle! Haut bloß ab!“ Maria drehte sich um und erstarrte. Dulieber-Herrgottim-Himmel! Da stand er doch tatsächlich vor ihr. „Mein Retter!“ entschlüpfte es ihren Lippen. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen.
Die Jungs guckten verdutzt und wütend. „Wer bist du denn?“ Einer ballte die Fäuste.
Andere Passanten hatten Marias Schrei auch gehört und waren stehen geblieben. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Schlägerei. Der Obermotz der Jugendlichen spuckte aufs Pflaster und sagte lässig: „Ach lasst doch die Platteule! Wir finden Besseres!“
Maria hörte davon nichts. In ihrem Hirn hämmerte es ununterbrochen: „Er hat auf mich gewartet! Er hat auf mich gewartet“ Er hat auf mich gewartet!“
„Sie weist mich nicht ab! Sie weist mich nicht ab! Sie weist mich nicht ab!“ donnerten Winfrieds Gedanken durch seine sämtlichen Organe. „
„Mir ist die Luft ausgegangen!“ wollte sie klagen, doch es kam eher wie ein Freudenschrei aus ihrem Mund. Winfried merkte, dass sie von ihren Reifen sprach. Er zwang sich zur Ruhe und verkündete, dass er zu Hause noch zwei Gummis habe. Maria wurde rot. Winfried bemerkte den Unsinn, den er von sich gegeben hatte. „Na-Na-Natürlich Gu-Gu-Gummischläuche“, beeilte er sich zu sagen. Maria musste lachen und schließlich fiel auch Winfried in das Lachen ein. „Das kann ich mir vorstellen, dass ein Mann Gummis zu Hause hat!“ prustete Maria heraus.
Beide lachten darüber eine Weile. Was nun kommt, kann sich jeder denken. Maria zeigte sich erfreut, dass er ihr helfen wolle, sie war bereit, die 20 Minuten mit ihm mit zu gehen und sie schritten los. Verstohlen wanderte der Blick Marias immer wieder zu Winfried, Blicke von ihm fanden den umgekehrten Weg. Mit klopfenden Herzen bemerkten beide die verstohlenen Blicke des anderen. Keinem waren sie unangenehm und welche Phantasien dabei entstanden, mag sich der Leser selbst ausmalen. So leicht beginnen manchmal Romanzen!
Maria wartete, dass er etwas sagte, doch zunächst blieb Winfried stumm. Nichts, gar nicht fiel ihm ein.
“Ich bin Maria“, sagte sie plötzlich. „Wie schön dass du mir hilfst. Du bist mein Retter!“
O Gott, Maria. Da müsste er ja Joseph oder Jesus heißen.
„Ich heiße Winfried“, beeilte er sich zu sagen. Und weil ihm absolut nichts anderes einfiel, ergänzte er seinen Satz: „Du hast aber einen schönen Namen, ist ja richtig heilig!“
Maria errötete. Nein, heilig, das wollte sie gar nicht sein. Und schon gar nicht, wenn sie seit langem mal wieder einen netten Mann kennen lernte.
Vor Winfrieds Haus blieben sie stehen. „Wollen wir nicht vorher einen Kaffee trinken?“ fragte Winfried. Maria hatte natürlich nichts dagegen. Das Fahrrad wurde hinters Haus gestellt und sie stiegen die Treppen empor und betraten Winfrieds Wohnung.
03 Zwiebelfleisch
Was fiel ihr eigentlich ein? Sie kannte Winfried doch gar nicht! Er sah gut aus. Er war Ihr Retter. Trotzdem kannte sie ihn nicht. Ihre Gefahrenmeldestelle schrie: „Verlass sofort diesen Menschen!“ Doch ihr Bauch brummte: „Nur keine Hektik. Er sieht so toll aus. Er war dein Retter. Abhauen kannst du immer noch, falls es brenzlig wird!“
Wie ein getarnter Meuchelmörder oder Vergewaltiger sah er auch nicht aus. Beim Gedanken an einen Vergewaltiger konnte Maria in diesem Moment gar nichts Schlimmes empfinden, im Gegenteil …
Winfried öffnete die Tür. „Erschrick nicht. Informatiker sind nicht so übermäßig ordentliche Leute.“ Er ging voran, packte einige herumliegende Kleidungsstücke – auch die gestern ausgezogene Unterhose war dabei - und warf sie rasch in eine Truhe. Die auf dem Tisch liegenden Zeitungen, alten Briefe und aufdringlichen Werbeprospekte raffte er schnell zusammen und warf sie in eine Pappkiste in der Ecke, die er immer als eine Art Ablage nutzte. Den Teller und die Tasse vom Frühstück sowie das Bierglas von gestern Abend brachte er in die Küche. Jetzt bat er Maria Platz zu nehmen. Sie war noch mit ihrem inneren Gefecht zwischen Kopf und Bauch beschäftigt gewesen, so dass seine hektischen Aufräumaktionen nur in ihrem Unterbewusstsein etwas Platz gefunden hatten, wo sie sicher von ihrer Hauptsteuerung bald wieder gelöscht würde. Informatiker war er. Und er lebte wohl allein hier. Das blieb in ihren grauen Windungen haften. Sie setzte sich auf die lange Couch. Wozu brauchte ein allein stehender Informatiker eine so lange Couch?
„Ich gehe erst mal Kaffee kochen!“ Damit verließ er den Raum und ersparte ihr die nichtssagende Bemerkung, die sie wohl jetzt hätte von sich geben müssen. Als dann die Kaffeetassen auf dem Tisch standen, hielten sie beide sich diese entgegen, als ob sie sich zuprosten wollten.
„Wir bleiben doch beim ‚du’?!“
“Natürlich!“
Sie tranken den ersten Schluck des kochend-heißen Gesöffs.
„Danke nochmals, dass du mir geholfen hast!“
„Das war doch selbstverständlich!
„Trotzdem war ich froh.“
„Eigentlich hast du mir zuerst geholfen.“
Maria schaute ihn fragend an.
„Du hast mir die Zwiebeln gegeben.“
Maria musste lachen und erinnerte sich an seine hilflos-suchenden Blicke im Supermarkt.
„Und du hast mich mit einer Möhre bedroht, dass mir fast angst und bange geworden wäre.
Winfried wurde etwas rot, doch dann fiel er in ihr Lachen ein.
„Vom Gummi wollen wir gar nicht erst wieder anfangen!“
Das Gespräch kam ins Stocken und weil Winfried nichts anderes einfiel, beschloss er aufs Ganze zu gehen. „Hättest du Lust …“ Er bemerkte Marias leichtes, aber nicht unwilliges Erschrecken und beendete deshalb rasch den Satz: „auf Zwiebelfleisch?“
Zwiebelfleisch war nun nicht gerade Marias Lieblingsessen und sie hasste Zwiebeln wegen der Gerüche und der Winde, die deren Genuss meist folgten. Aber konnte sie jetzt Nein sagen? Dann wäre wohl alles vorbei gewesen. Es war genau die Frage, auf die sie schon in der Kaufhalle gewartet hatte.
„Warum nicht“, hauchte sie.
Sie bemerkte, wie Winfrieds Augen erstrahlten. Er war sich überhaupt nicht sicher gewesen, ob sie auf ein so profanes Angebot eingehen würde.
„Dann mach es dir bequem. Ich werde mich um das Essen kümmern:“
„Kann ich dir helfen?“
„Nein, nein. Ich komme schon klar. Außerdem ist es in meiner Küche ziemlich eng.“ Dass dort auch noch Unmengen schmutzigen Geschirrs die Enge des Raumes verstärkten, wollte er natürlich nicht verraten.
Maria nahm einen weiteren Schluck Kaffee, lehnte sich auf der Couch zurück und harrte der Dinge, die da kommen sollten. In Gedanken entstanden Bilder, wie man sie sonst nur in französischen Filmen findet. Aber schön waren solche Träume doch. Das Zentralhirn gab zwar seine warnende Zwischenbemerkung: „Du kennst ihn doch gar nicht!“ Aber vom Bauch gingen eindeutige Schweigesignale ans Hirn. Er rumpelte eindeutig: „Appetit auf Zwiebelfleisch!“ Und schließlich war er heute ihr Retter!
In der Küche rumorte es. Bald drangen von dort betörende Düfte herein. Bratendes Fleisch, diverse Gewürze und die Zwiebeln ergaben ein viel versprechendes Aroma. Sie hörte ihn das Lied vom gut geratenen Braten summen. Ob er wohl beim Zwiebelschneiden geweint hatte? Maria mochte keine weinenden Männer, aber heute hätte sie es irgendwie romantisch gefunden.
Winfried brachte zwei Flaschen Bier und Gläser herein. „Das passt am besten zu Zwiebelfleisch.“ Dass er gar nichts anderes zu trinken im Hause hatte – außer Bier; Wasser und Kaffee -, wollte er nicht sagen. Maria war es egal. Hauptsache, er kam bald und saß wieder neben ihr. Bier trank sie recht gern und der Romantik würde es gewiss keinen Abbruch tun. Die Zeiten, wo es Wein oder noch besser Champagner sein musste, die waren längst vorbei.
Immer wieder fragte sie sich, wieso sie eigentlich hier sitzt. Sie ging doch sonst nicht so einfach mit einem fremden Mann mit. Gab es womöglich doch einen Amor, der einen Pfeil auf sie (und wahrscheinlich auch auf ihn!) geschossen hatte?
Winfried rief, dass das Zwiebelfleisch gleich fertig sei. Das Zwiebelfleisch war ihr eigentlich egal, aber Winfried, Winni, Friedi, Winfriedchen sollte endlich wieder bei ihr sein! Was dann geschehen sollte, daran dachte sie jetzt überhaupt nicht.
Er brachte eine Kerze herein, die er soeben gefunden hatte, stellte sie auf den Tisch und zündete sie an, die Kerze. Frauen lieben solche Romantik. Marias Augen glänzten.
Winfried hatte sein Werk in der Küche fast automatisch vollendet. Es brutzelte und brutzelte und nebenan saß sie. Maria war nicht seine erste Bekanntschaft, aber dass ein Mädchen, ein so tolles Mädchen, nur eine Stunde nach dem Kennenlernen auf seiner Couch saß und erwartungsvoll nach ihm (oder dem Zwiebelfleisch?) Ausschau hielt, das hatte es noch nie gegeben. Hoffentlich blieb sie nach dem Essen noch eine Weile. Maria, Mariachen, Rialein … welch ein schöner und lieber Name! Er seufzte und beförderte das Zwiebelfleisch auf die Teller. Am liebsten hätte er es noch dekoriert, mit einer Rose oder irgend etwas Schönem. Er suchte im Schrank, fand aber nichts Passendes. Lediglich eine Packung Kondome, die er zwar erfreut und sehnsüchtig anstierte, aber natürlich gleich wieder wegsteckte. Zum Dekorieren waren sie jedenfalls nicht geeignet.
Mit viel Tamtam brachte Winfried das Zwiebelfleisch herein. Es roch sehr gut, es sah gut aus. Beide ließen es sich schmecken. Es war ein köstliches Zwiebelfleisch!
Hoffentlich hat es keine Nachwirkungen! Maria wusste, dass sie von Zwiebeln manchmal höchst unangenehme Blähungen bekam, aber das war ihr egal, egal, egal.
Für Winfried war es natürlich ein Leibgericht – sonst hätte er sich ja keines besorgt -, aber so richtig auf das Essen konnte er sich nicht konzentrieren. Hauptsache es schmeckte Maria.
Als die Teller leer waren, kam es, wie es kommen musste und wie es längst von jedem erwartet wird:
– |
Maria lobte das gute Essen. |
– |
Winfried freute sich über das Kompliment. Er sah es als Annäherungsversuch und er rückte etwas näher zu Maria. |
– |
Maria blieb anfangs wenigstens zum Schein noch etwas zurückhaltend, dann schmiegte sie sich an Winfried. |
– |
Winfried legte seinen Arm um sie und überlegte, ob er sie küssen dürfe. Gewollt hätte er schon, aber getraut hat er sich noch nicht gleich. |
– |
Maria merkte Winfrieds Wollen, was ja auch ihrem Wollen entsprach. Aber in ihrem Magen regten sich erste Blähungen. |
– |
Winfried fasste allen Mut, sein Mund näherte sich dem Marias. Da sie nicht zurückwich, berührten sich ihre Lippen sanft. |
– |
Maria hätte die Welt vergessen, aber die Blähungen wurden immer stärker. |
Winfried erhöhte den Druck, doch Marias Mund schloss sich plötzlich. Eigentlich wollte sie ihr hinterstes Teil verschließen und den Mund versonnen öffnen, aber dann kam alles umgekehrt. Die Detonation war unglaublich. Die Kerze war erloschen und aus dem Ständer gefallen. Winfried stand völlig verschreckt neben ihr. Maria wäre am liebsten im Sofa versunken. Oneinoneinonein! Sie stammelte etwas wie: „Verzeih, die Zwiebeln“ oder so etwas. Winfrieds Schreck ließ nach, er sah das stotternde Häufchen Unglück und – ja irgendwie war das Ganze auch komisch. Er prustete los. Romantischer Abend mit Schuss! War heute nicht Donnerstag?
Schließlich wurde auch Maria angesteckt. Aus dem herzlichen Lachen wurde eine herzliche Umarmung. Marias Blähungen hatten sich entladen und dem weiteren Verlauf des romantischen Abends stand nichts mehr im Wege. Winfried brauchte tatsächlich noch seine Kondome – bloß gut, dass er die nicht erst suchen musste! – und so verlief die Nacht, wie es eben bei jungen Leuten der Fall ist. Danach schliefen sie eng aneinander geschmiegt. Als sie nachts erwachten, diesmal nicht durch einen Signalton Marias, fanden sie sich noch sympathischer als vorhin und wiederholten ihr Liebesspiel. Natürlich dachte jetzt keiner mehr an irgend eine Lümmeltüte und so entstand in dieser Nacht der Held unseres Buches, den dann später Maria und Winfried Marwin nannten. Schon der Name sollte als Symbol ihrer Zusammengehörigkeit stehen.
Natürlich entwickelte sich bei den beiden eine tiefe und innige Liebe, die sie rechtzeitig vor Marwins Geburt vor den Traualtar führte.
Winfried war im Kaufmarkt von Maria gerettet worden, er rettete Maria auf der Straße, beide waren sie von ihrer Einsamkeit erlöst oder eben gerettet worden, was ihnen immer wieder einfiel, sowohl in den nächsten neun Monaten als auch wenn sie später ins Marwins strahlendes Gesichtchen blickten. Und so war für sie Marwin das Symbol ihrer Rettung. Marwin, der Retter. Dieser ständige Gedanke sollte Marwins gesamtes Leben beeinflussen. Und Zwiebelfleisch wurde zum Lieblingsessen der Familie!
04 Krauses Nacht
Diese Nacht mochte eine besondere sein. Die sanfte Wärme des in Dunkel versunkenen Frühlingstages hatte wahrscheinlich Amor mit seinen Pfeilen angeregt und er vollbrachte in dieser Nacht Höchstleistungen.
Christfried Krause, Diplomat im höheren Dienst, weilte gerade einmal zu Hause. Er hatte die letzten Wochen in Ruanda, einem der ärmsten Länder Afrikas, verbracht und gestaunt, wie fröhlich viele Menschen trotz ihrer Armut dort waren. Es wurde viel gesungen und es fanden gesellige Feste statt. Dass so etwas auch ohne großen Konsum geht, ohne Fress- und Sauforgien, das bewiesen die wackeren Afrikaner. Räucherstäbchen (woraus auch immer) waren stets vorhanden. Trommler schlugen den Takt und bald wiegten sich alle Anwesenden tranceähnlich in einem ekstatischen Rhythmus. Mit besonderer Freude gaben sie sich dem „Schnackseln“ hin, wie es eine deutsche Gräfin einmal abwertend ausgedrückt hatte. Der Kindersegen dieses Landes war damit sehr groß, denn von Verhütung wusste man kaum etwas und wollte man auch gar nichts wissen. Kinder bedeuteten oft trotz der Armut das Glück dieser Menschen. Dass dann die Lebensmittel nicht ausreichten und Kinder sogar an Hunger starben, war die Kehrseite der Medaille. Man trauerte zwar um jedes verstorbene Kind, aber trotzdem hielt man auch das für etwas Normales.
Christfrieds Versuche, den Menschen zu helfen, wurden kaum verstanden und endeten bereits in den Ansätzen. Lebensmittel nahm man begeistert an – man konnte aber damit die Probleme nicht lösen. Ja, sie verschärften die Probleme der Menschen sogar, denn der Absatz eigener Produkte litt darunter und wurde schließlich vernachlässigt. Die vom Hunger geretteten Kinder vergrößerten die Einwohnerzahl - und die Lebensmittelprobleme wurden noch drastischer.
Aufklärungsabende boykottierte man entrüstet. Selbst das kostenlose Verteilen von Kondomen rief eher Empörung hervor und wurde als Einmischung in die Privatsphäre betrachtet. Die einzige Familie, die seine Kondompackungen freudig entgegengenommen hatte, zeigte sich genauso fruchtbar wie zuvor und jährlich hörte er das Geschrei eines neuen Babys. Auf seine Nachfrage, ob sie denn die Kondome gar nicht benutzen, wurde ihm mit ernster Miene verkündet, dass diese sehr gute Dienste leisten. Weil Christfried Krause ungläubig in die Welt blickte, ging die nicht mehr ganz junge Frau nach hinten und brachte eine mit Fleisch gefüllte Wurst. Krause traute seinen Augen nicht: Das Fleisch steckte in einem prall gespannten Kondom und war sogar geräuchert worden!
Kurz darauf wurde Krause wieder in sein Heimatland zurückbeordert. Jetzt weilte er schon drei Wochen zu Hause und harrte der Aufgaben, die nun auf ihn fallen sollten. Heute hatte es eine heftige Auseinandersetzung mit Dr. Stopheles gegeben, einem überaus eifrigen Angestellten des Außenministeriums. Dieser hatte über Christfrieds Arbeit in Afrika gelästert und sich abfällig über die Menschen dort geäußert. Es seien alles nur Primitivlinge und jede Hilfe koste nur unnütz Geld. Besser wäre es, man ließe einen Teil verhungern. Christfried Krause war empört, wie jemand so unmenschlich daherreden konnte und beschimpfte Dr. Stopheles, dass das rassistisches Gedankengut und eines Mitarbeiters eines deutschen Ministeriums unwürdig sei. Dr. Stopheles hatte nur hämisch gefeixt und ihn stehen lassen.
„Wir machen doch auch nicht ständig Kinder, obwohl wir es uns leisten könnten!“ waren seine letzten Worte. Christfried war so empört über diesen Zynismus, dass er sich den ganzen Tag nicht hatte beruhigen können und es abends empört seiner Frau erzählt.
Christfried Krauses Frau war die berühmte und allseits beliebte Schauspielerin Hella Weißbaum-Hasenbach. Zuletzt hatte sie in der rührseligen 378-teiligen Serie „Der weite Weg“ die Hauptrolle gespielt und ganze Frauenverbände und, der Presse nach, auch softige Männer zu Tränen gerührt.
Obwohl Hella Mitglied der SPD und aktive Kämpferin für die Emanzipation der Frau war, hatte sie doch nach einer Reihe heißer Liebesnächte sich entschlossen, den gut betuchten Christfried Krause zu heiraten und mit ihm ein Eheleben zu führen. Sie störte zwar etwas sein Name und seine daraus resultierende Mitgliedschaft in der CDU. Da die beiden Parteien in einer Koalition recht gut zusammengearbeitet hatten, meinte Hella, dass auch eine Ehe funktionieren könne, denn die ist ja auch so eine Art große Koalition im Kleinen. Ein Kind war vorerst nicht geplant.
Trotzdem lauschte sie mit romantisch verklärtem Blick mehrere Tage lang seinen Erzählungen aus dem wilden Afrika. Sie vergaß dabei sogar die Pille, die sie sonst immer regelmäßig nahm, obwohl ihr Mann oft monatelang nicht zu Hause war. Was natürlich nicht heißt, dass sie in dieser Zeit gar keinen Sex hatte. Anstrengende Dreharbeiten forderten auch die nötige Entspannung!
An diesem Donnerstag hatten sie nun die 296. Folge ihrer Serie im Fernsehen angeschaut. Darin war ihr vermisster und über 37 Folgen totgeglaubter Freund plötzlich wieder aufgetaucht und es hatte heißen Wiedersehens-Sex gegeben. Danach folgte aber sein Geständnis, dass er inzwischen mit einer anderen Frau zusammen lebte. Diesen Schlag hatte sie nicht verkraftet und war davongelaufen. Unter Tränen hatte sie verkündet, dass ihr Leben nun keinen Sinn mehr habe und sie nur noch im Himmel Erlösung finden könne. Als sie gerade ins tosende Wasser springen wollte, endete die Serie mit dem beliebten „Fortsetzung folgt“ und ließ nun die in Tränen zerflossenen Zuschauer in völliger Trost- und Ratlosigkeit sitzen. Hella war selbst ganz gerührt, obwohl sie die nächsten Folgen längst abgedreht hatte und wusste, wie es zu ihrer wundersamen Errettung kommen würde.
Christfried konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, dass sie noch 81 Folgen gebraucht würde und er deshalb ihr Ableben nicht befürchtete. „Du unromantischer Rohling!“ schrie Hella erbost, aber Christfried nahm sie rasch in seine Arme.
Und jetzt begann das Besondere dieser lauwarmen Frühlingsnacht zu wirken. Hella empfand die Umarmung so schön, dass sie ihrerseits die Arme ausbreitete, dass ein Gefummel wie bei Teenagern, die es das erste Mal miteinander trieben, entstand, dass man es nicht einmal bis ins Bett schaffte, sondern gleich auf dem Teppich zur Sache kam. Er zerknüllte ihre Bluse, seine Hand rutschte immer tiefer und im Nu stand sie schön wie Eva im Paradies vor ihm. Mit theatralischer Pose riss sie seine Hose auf, presste ihn an sich und in sich. Es war phantastisch! Sie dachte keinen Moment daran, dass die Folgen dieser Nacht die Dreharbeiten für mindestens ein halbes Jahr unmöglich machen würden. Hella und Christfried sorgten in dieser Nacht dafür, dass Herrn Sarrazins Voraussage „Deutschland schafft sich ab“ doch nicht ganz stimmte und zeugten im Rausch ihrer Gefühle, gewollt oder auch ungewollt, ihren Sohn. Christfried Krause vergaß dabei auch seinen Ärger mit Dr. Stopheles und ihm fiel natürlich auch nicht das zynische Lachen auf, welches während seiner Vereinigung mit Hella irgendwo im Hause erscholl.
05 Erwartung
Wie ein Lauffeuer ging es durch die Presse: Hella Weißbaum-Ha-senbach ist schwanger! Zunächst kam es als nüchterne Meldung herüber. Dann schrieb der berühmte Kolumnist Markus Arm-Armandi in seinem Feuilleton: „Es ist schon eine großartige Sache, wenn auch unsere Künstler dafür sorgen, dass das deutsche Nachwuchsproblem gelöst wird. Vielleicht kann auf diesem Wege dieses unsägliche Machwerk „Der weite Weg“ von unseren Bildschirmen verschwinden! Aber muss es gerade jetzt sein? Schließlich gibt es Tausende, ja Millionen von Fernsehzuschauern, die wissen wollen, wie die Serie weitergeht. Mich selbst interessiert es zwar nicht, denn ich kenne diesen trivialen Quatsch gar nicht. Da es aber Zuschauer gibt, die so etwas sehen wollen, sollte man diese nicht enttäuschen. Womöglich wenden sie sich sonst anderen Fragen zu und fangen gar an über wirkliche Kunstwerke oder womöglich über politische Zusammenhänge zu diskutieren. Das würde zu noch größeren Katastrophen führen, wenn man das nicht den Experten überlässt.“
Welche Katastrophen damit angedeutet werden sollten, blieb das Geheimnis von Markus Arm-Armandi.
Die Regenbogenpresse berichtete in endlosen Bildfolgen und Exklusivinterviews, wie
Hella Weißbach-Hasenbaum von der wilden Glut ihres Mannes in der lauen Sommernacht überrascht wurde und sie sich schließlich (nachdem sie kurz – aber nur sehr kurz – an die treuen Freunde ihrer Serie gedacht hatte) ihm voll und ganz hingegeben habe, welche Gefühle sie bewegten und welche Erlösung für sie entstand, als das neue Leben in sie floss;
Hella nach heftigen inneren Kämpfen sich trotz ihrer Serie für das Kind und somit gegen eine Abtreibung entschieden hatte;
Hella das Glück einer angehenden Mutter genoss;
sich Hellas Körper veränderte und trotz des wachsenden Bauchumfangs seine Schönheit nicht verlor;
sich beide Eltern immer wieder auf das Kind freuten und wie
Fans der Serie besonders sehnsüchtig auf die Geburt des Kindes warteten, weil sie naürlich mit ihrer Lieblingsschauspielerin neugierig und sensationslüstern mitfühlten und weil sie endlich wissen wollten, wie das Schicksal ihrer Serienheldin weiterging.
Die Produktion der Fernsehserie war natürlich unterbrochen worden und den Sendeplatz füllte man mit Wiederholungen bereits gezeigter Folgen aus.
Die Zeitschrift „Frau mit Bauch“ rief einen Wettbewerb um den schönsten Vorname ins Leben. Keiner wusste zu diesem Zeitpunkt, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, aber auch das wurde natürlich ausgiebig diskutiert.
Zeigte sich Hella ein paar Tage nicht in der Öffentlichkeit, erörterte sofort die gesamte Presse, welche mögliche Krankheiten der Grund sein könnten. Natürlich folgten Schlagzeilen, die die Frage stellten, ob es zu einer Fehlgeburt gekommen wäre. Als Hella vor ihrer Haustür stolperte, litt die ganze Nation unter der Frage, ob das wohl dem zukünftigen Kind geschadet haben könne.
Die „Finanz-Zeit“ und das politische Blatt „Die Wahrheit heute“ brachten auch Interviews mit Christfried Krause als angehenden stolzen Vater, aber das interessierte die Nation weniger. Seine Kollegen beglückwünschten ihn zum bevorstehenden freudigen Ereignis. Selbst Dr. Stopheles schüttelte ihm die Hand, konnte sich aber sein widerliches Kichern nicht verkneifen.
Alma Blauer, berühmte Vertreterin der emanzipierten Frauenbewegung, brachte ihre Enttäuschung zum Ausdruck, dass sich Hella Weißbaum-Hasenbach einem Mann unterworfen habe und ihre wertvolle Zeit, in der sie ihre schauspielerischen Talente hätte weiter pflegen und entwickeln können, nun mit dem Wickeln eines Kindes vertrödeln würde.
Markus Arm-Armandi widersprach ihr auf das heftigste, denn schließlich gehöre ein Kind zu dem Schönsten, was es im Leben gibt, ausgenommen das Kindermachen selbst. Er hielt das für eine sehr geistvolle Bemerkung. Alma Blauer rückte daraufhin mit einer Schar bebrillter Emanzen in der Redaktion an und forderte seine Entlassung oder Hinrichtung. Erst nachdem der Chefredakteur den aufgebrachten Kampf- maschinen versprochen hatte, in der nächsten Ausgabe einen flammenden Aufruf gegen sexistische Bemerkungen zu veröffentlichen sowie die Rolle der emanzipierten Frau in einem dreispaltigen Artikel zu würdigen, zogen diese in Gewissheit ihres Sieges über das altmodisch-herrschsüchtige Männergeschmeiß hoch erhobenen Hauptes aus der Redaktion.
Bei all diesen Ereignissen verging die Zeit wie im Fluge. Natürlich sollte die Geburt im berühmten Kreißsaal von Professor Neuleben, in dessen Privatklinik erfolgen. Die Wehen setzten aber so plötzlich ein, dass sie der Notdienst nur noch bis ins Städtische Krankenhaus bringen konnte. Die dort tätigen Ärzte wurden von den Ereignissen völlig überrollt. Plötzlich war die berühmte Hella Weißbaum-Hasenbach da und Scharen von Journalisten brachten das vollendete Chaos ins Haus. In aller Eile wurde der völlig neu ausgestattete Kreißsaal I für sie geräumt, in dem sich gerade eine Verkäuferin anschickte, ihr Kind zur Welt zu bringen. Für so eine kleine Verkäuferin reichte auch der alte und ziemlich enge Kreißsaal II!
Man brauchte den Sicherheitsdienst des Krankenhauses, um die Journalisten am Betreten des Kreißsaales zu hindern. Allerdings nicht lange. Denn schon nach wenigen Minuten konnte der staunenden und freudig erregten Welt verkündet werden, dass Hella Weißbaum-Hasenbach stolze Mutter eines Jungen geworden ist und dass sich die ganze Nation darüber freut.
Alma Blauer war enttäuscht, dass es kein Mädchen ist.
Markus Arm-Armandi kommentierte:
„Nun ist also dieses Kind geboren. Es ist ein Junge. Nach all dem Rummel, der in den vergangenen Wochen um ihn herum brauste, sollte es ein besonderer Junge sein!
Ich habe da so meine Zweifel. Womöglich hat er von dem vielen Geschrei der Umwelt schon im Mutterleib Schaden davongetragen! Vielleicht wird er aber doch ein kluges Kind. Vielleicht wird er Schauspieler wie seine Mutter oder Politiker wie sein Vater. Er kann natürlich auch auf anderen Gebieten Schaden anrichten oder sogar Nutzen bringen. Vielleicht schreibt er einmal ein gutes Buch.
Ein Thomas Mann wird er nicht werden, das ist gar nicht möglich. Aber warum nicht ein Günter Walser oder ein Martin Grass oder ein Heinz G. Konsalik. Vielleicht tut er überhaupt etwas Nützliches, um unsere Welt zu retten. Man möge es ihm und uns wünschen!“
06 Marwins Geburt
Weder Markus Arm-Armandi noch Alma Blauer, die Vertreterin der Frauenbewegung, interessierten sich für die junge Frau, die bis vor kurzem im Kreißsaal I lag und um die Geburt ihres Kindes kämpfte. Gerade Frau Blauer hätte die Diskriminierung der schwer um die Geburt ringenden Frau gegenüber der plötzlich daherkommenden Schauspielerin auffallen können. Aber Frauen, die sich dem Mann unterwerfen und Kinder machen lassen, sind ja selbst schuld und deshalb gelten die Frauenrechte, die diese Frauenrechtlerin vertritt, nur sehr bedingt.
Diese Verkäuferin war niemand anderes als Maria. Sie hatte eine turbulente Zeit hinter sich. Würde man sie danach fragen, dann wäre ihr auf Anhieb nur eins eingefallen: Winfried.
Nach ihrem ersten donnernden Zusammentreffen folgten fast täglich weitere Begegnungen, die immer in einer stürmischen Liebesnacht endeten. Um die Sache zu vereinfachen, beschloss man, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Das rief den Protest der recht konservativ denkenden Eltern von Maria hervor. Winfrieds Eltern wohnten in Wismar und erfuhren zunächst gar nichts von dem ganzen Geschehen.
Als Winfried und Maria gerade beim Verzehr einer frischen Portion Zwiebelfleisch waren, das in beiden gerade wieder romantische Gefühle auslöste, klingelte es plötzlich und Marias Eltern standen vor der Tür. Sie sagten nichts, aber ihr Blick signalisierte eindeutige Entrüstung: Hier treibst du dich also herum! In dieser wüsten nach Zwiebelfleisch stinkenden Bude! Mit einem Computerspieler! Was kann denn der? Was hat denn der? Hat der überhaupt Arbeit? Nee, nee, du kommst sofort mit nach Hause!
„Wo kommt ihr denn her?“ waren Marias erste Worte.
„Wir haben erfahren, dass du hier bist“, sagte die Mutter und zog ihre Mundwinkel nach unten.
„Und warum sollte ich nicht hier sein?“
„Wir machen uns Sorgen“, sagte die Mutter.
„Na hört mal, ich bin 23!“
„Trotzdem bleibst du unser Kind!“ sagte die Mutter.
„Das bleibe ich auch, wenn ich hier bin!“
Schweigen. Abwertende Blicke.
„Was ist das überhaupt hier für ein Loch?“ fragte die Mutter.
Maria musste lachen, weil sie den Reinlichkeitswahn ihrer Mutter kannte: „So lebt halt ein Junggeselle. Wird Zeit, dass mal jemand für Ordnung sorgt!“ Und als ihre Mutter zum Widersprechen ansetzte, ergänzte sie: „Ich schaffe das schon.“
Die Mutter schwieg und der Vater hatte eh noch nichts gesagt.
„Wer ist denn da?“ rief Winfried aus dem Wohnzimmer.
„Meine Eltern!“
Winfried erschrak denn doch etwas, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war. Immerhin zog er rasch Hose und Hemd an, die er lässig über den Sessel geworfen hatte, und kam heraus.
„Herzlich willkommen. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.“
Die Mutter schwieg. Der Vater murmelte ein „Guten Tag“ und schwieg auch wieder.
„Darf ich Sie in meine bescheidene Stube bitten?“
Die Mutter wollte sofort abweisen, aber dann siegte doch ihre Neugier. Naserümpfend betrat sie die Stube. Der Vater folgte ihr.
„Möchten Sie ein Bier?“ fragte Winfried.
Bevor der Vater sein „Gerne“ sagen konnte, verkündete die Mutter: „Wir trinken keinen Alkohol!“ Der Vater blickte traurig, sagte aber wieder nichts.
„Vater trinkt gern Bier“, sagte Maria. In den Augen von Vater und Tochter entstand ein geheimes Einverständnis.
„Wir wollen uns nicht aufhalten. Wir wollten nur sehen, wo du eigentlich steckst“, sagte die Mutter.
„Ach bleiben Sie doch etwas, wenn Sie einmal da sind.“ Winfried zeigte allen Charme, zu dem er in dieser Situation fähig war. Was er wirklich dachte, das sollten die beiden lieber nicht erfahren. Er hatte Lust auf Maria und da war die Anwesenheit ihrer Eltern nicht gerade förderlich.
„Also“, sagte Maria. „Ich möchte euch hiermit offiziell Winfried vorstellen. Winfried Feustel. 26 Jahre. Informatiker. Und außerdem: Vater meines zukünftigen Kindes!“
„Angenehm“, murmelte der Vater, leise hoffend, doch noch zu seinem Bier zu kommen.
Die Mutter schwieg. Ihre Gesichtsfarbe wechselte allerdings zu einem tiefen Rot. Ihr Atem ging immer schneller. Sie schnappte regelrecht nach Luft. Winfried wurde unruhig und überlegte, wie eigentlich die Notrufnummer lautete. Doch Maria drückte seinen Arm und lächelte. Sie kannte ihre Mutter. Diese raffte sich schließlich auf: „Waaas hast du gesagt? Du bist schwanger?“
Wenn Blicke die Kraft hätten, die Esotheriker ihnen nachsagen, wäre Winfried jetzt in Tausend Stücke zerborsten oder wenigstens kastriert zu Boden gesunken.
Maria war die Ruhe selbst. „Nun setzt euch erst einmal hin. So ein Wunder ist das nun auch wieder nicht, wenn ein 23jähriges Mädchen schwanger wird.“
„A-aber ihr seid doch gar nicht verheiratet!“
Und jetzt erwies sich Winfried als Genie. Statt über diesen für viele altbackenen Vorwurf zu lachen, sagte er ganz ruhig: „A-aber das geht doch schnell zu ändern. Wir wussten nur nicht, ob Ihnen das recht ist!“
Jetzt nahm Verwirrung die Mutter gänzlich ein. Was erlaubte sich der Kerl? Dieser Niemand! Dieser Verführer! Dieser Nicht-einmalein-Kind-Verhinderer!
Aber so unsympathisch war er nun auch wieder nicht. Und dieser letzte Satz brachte das Negativkonto in Mutters Kopf mit einer beträchtliche Anzahl von Pluspunkten durcheinander.
„Nein … ja …. Nein … eigentlich nicht … ja … doch … na ja … wenn es nun mal passiert ist … na ja …“ So stammelte jetzt die Mutter, bis sie entrüstet ausrief: „Wir kennen Sie doch gar nicht!“
„Aber ich kenne ihn!“ rief Maria. „Und er ist ganz lieb!“
Der Mutter blieben die Worte weg und Vater hätte ohnehin lieber das angekündigte Bier getrunken.
Winfried erzählte kurz über seine Herkunft, über seinen Beruf und über seinen doch recht ansehnlichen Verdienst.
Die Mutter blieb für ihre Verhältnisse schweigsam. Seine Worte gefielen ihr. Allmählich änderte sich ihr Blick und Winfrieds Kastration wurde wieder rückgängig gemacht. (Wenn es doch im wirklichen Leben auch so einfach wäre!)
Maria hatte unterdessen die Flasche „Valtenberg-Kräuter“ geholt, die sie kürzlich mitgebracht hatte, weil das der absolute Verkaufsrenner im Schnapsbereich ihrer Kaufhalle war. Sie goss ein und auch die Mutter griff nach ihrem Gläschen.
„Na dann auf unser Kennenlernen!“ sagte Winfried.
„Auf den Schreck!“ sagte die Mutter. Es klang gar nicht mehr ablehnend.
„Prost!“ sagte der Vater.
Man trank.
„Ich wusste gar nicht, dass du so nette Eltern hast“, kokettierte Winfried zu Maria.
Nach dem zweiten Glas wurde die Stimmung lockerer und der Vater fragte, ob er denn nun das Bier haben könne, welches ihm Maria sofort holte. Die Mutter begann Winfried genauer unter die Lupe zu nehmen und ihn auszuhorchen. Seine Antworten fielen zu ihrer Zufriedenheit aus.
Nach einer Stunde sagten schon alle „du“ zueinander und fanden sich sympathisch. Man ging dazu über, die Hochzeitsformalitäten zu besprechen.
„Es war ein überraschender, aber schöner Abend“, sagte die Mutter, als sie sich verabschiedeten. Der Vater nickte. Er hatte noch ein zweites Bier bekommen. Die Welt war für ihn in Ordnung.
Die Hochzeit wurde zum Ereignis. Zahlreiche Freunde erschienen und jubelten mit.
Winfrieds Eltern, einfache, unkomplizierte Leute, waren sehr schnell überzeugt, dass ihr Sohn die richtige Frau gefunden hatte, und hatten sie nach wenigen Tagen in ihr Herz geschlossen. Maria konnte man das bevorstehende noch freudigere Ereignis schon sehr deutlich ansehen.
Die ewigen Schmerzen waren vergessen und sie fühlte sich wie vom Tode errettet und glücklich. Ihr Kind war geboren! Maria und Winfried hatten ein Kind! Sie wusste, es würde ein ganz besonderes Kind sein. Aber das denkt wohl jede Mutter in diesem Moment.
Es gab keine Kommentare von berühmten Leuten. Alle interessierten sich nur für das Kind aus dem Kreißsaal I. Maria lag im altersschwarzen Kreißsaal II, ihr Kind in den Armen und war glücklich.