Widmung

Unendlicher Dank gilt

meiner „kleinen“ Tante Hilke

und Eva-Maria!

Ohne euch wäre dieses Buch niemals entstanden!

Impressum

Texte:

© Copyright by Stephan Fölske

Danziger Straße 34

26180 Rastede

autor@stephanfoelske.de

Design & Umschlag:

© Copyright by Anja Klukas

http://anja-klukas.de

Grafiken der Überschriften:

© Copyright by Tanja Ferdinand

1. Auflage

28.01.2020

2. Auflage

31.08.2020

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7526-9340-9

Hinweis in eigener Sache:

Parallelen zu lebenden oder toten Person sind rein zufällig und nicht

beabsichtigt.

Der vorliegende Text darf nicht gescannt, kopiert, übersetzt, vervielfältigt, verbreitet oder in anderer Weise ohne Zustimmung des Autors verwendet werden, auch nicht auszugsweise: weder in gedruckter noch elektronischer Form. Jeder Verstoß verletzt das Urheberrecht und kann strafrechtlich verfolgt werden.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Müde, abgeschlagen und unendlich traurig kehrte sie an den Ort zurück, an dem sie sich erinnern konnte, das glaubte sie zumindest. Viel mehr als Erinnerung und wachsender Hass auf diese Bande, die für den Tod ihres geliebten Jens verantwortlich zu sein schien, war ihr nicht geblieben.

Sie betrat das leere Haus, ging ins Wohnzimmer, warf ihre Sachen auf das Sofa und blickte auf den Globus, der sich in der Ecke befand. Langsam schritt sie auf ihn zu und öffnete die Nordhalbkugel, die eine kleine Auswahl an Spirituosen freigab. Mit einem Seufzen griff sie zur Cognacflasche, nahm sich ein Glas und setzte sich. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie ihren Blick schweifen ließ. Alles erinnerte an ihn und an eine wundervolle Zeit der Gemeinsamkeit und Liebe, die nie wieder zurückkehren würde. Sie goss sich etwas aus der Flasche in das Glas und sagte, als proste sie einem Geist zu, „auf dein Wohl Jens! Ich werde dich rächen!“

Sie leerte das Glas in einem Zug und begann zu weinen, während sie es mit einem Schrei an die Wand warf. Nun war sie alleine, hatte alles verloren und wusste einfach nicht, was sie machen sollte. Sie rollte sich auf dem großen Sofa zusammen und schlief schluchzend und wimmernd ein.

Der Mann mit der Schutzbrille in dem weißen Kittel schaute ihn aufgeregt an, während er auf die Maschine hinter dem Sicherheitsglas zeigte, die in ein blaues Licht gehüllt war. „Es ist uns ein großer Schritt in Richtung Erfolg gelungen. Großartig, dass Sie uns weitere Pläne gebracht haben.“ Dabei rieb sich der Wissenschaftler die Hände und lachte auf.

„Aber, aber…! Bleiben Sie bitte ruhig. Erst, wenn alles funktioniert, ist es an der Zeit, sich zu freuen, nicht wahr? Und hätten Sie mir gleich gesagt, dass Pläne fehlen, hätten wir nicht so viel Zeit verloren.“

Das Lachen des Wissenschaftlers erstarrte und Angst flackerte in seinen Augen auf. „Jawohl, Sie haben Recht. Bitte entschuldigen Sie. Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Ach, Professor, ihr Akademiker seid schon eine besondere Form von Menschen. Ohne euch geht es nicht und daher habe ich mehr Geduld mit Ihresgleichen.“ Dabei blickte er böse, versuchte aber, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, was ihm nur bedingt zu gelingen schien, denn der Mann im weißen Kittel zuckte zusammen.

„Ach Professorchen, keine Sorge, es wird keine Konsequenzen haben. Ich brauche Sie doch noch und bisher, so muss ich gestehen, war ich sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit.“ Nun gelang ihm das Lächeln tatsächlich und der Mann vor ihm entspannte sich ein wenig. „Ich danke Ihnen, Herr Kommandant!“

„Ich wünsche, dass Sie mich umgehend informieren, wenn Sie weitere Fortschritte machen. Sie erreichen mich über meinen Stab. So, und nun an die Arbeit, meine Geduld ist nicht unendlich.“

„Jawoll!“, sagte der Professor und nahm dabei Haltung an.

Der Kommandant wandte sich um, griff in seine Tasche, nahm die Uhr heraus und öffnete den Deckel. „Wunderbar, ich habe sogar noch Zeit, den Erschießungen beizuwohnen.“ Er lachte böse auf, steckte die Uhr ein und schaute in einen Laborspiegel neben der Tür. Er richtete seine Mütze und lächelte sein Spiegelbild an, das einen Mann in schwarzer Uniform mittleren Alters zeigte, dessen Augen etwas wirklich Böses ausstrahlten.

„JENS!“ Sie erwachte mit einem Aufschrei des Namens und schaute sich um. Mittlerweile war es Nacht geworden und sie befand sich in fast kompletter Dunkelheit. Ihr Herz raste, aber dann folgte die Verzweiflung, als ihr bewusst wurde, dass es sich um einen Traum gehandelt haben musste. Sie war alleine und Übelkeit kroch in ihr hoch. Nur knapp schaffte sie es ins Bad, um sich zu übergeben. So schnell, wie es gekommen war, verschwand das Unwohlsein. Langsam stand sie auf, wischte sich den Mund ab und spülte. Dann stütze sie sich mit ihren Händen auf dem Waschbeckenrand ab und schaute in den Spiegel. „Es war so real, als sei er noch am Leben! Doch alles war nur ein Traum“, sagte sie zu sich selbst und schluchzte. Etwas kam ihr jedoch merkwürdig vor, als sie wieder in das Wohnzimmer ging, das Licht einschaltete und sich setzte. Dann fiel es ihr ein, denn der Mann, den sie für ihren Jens gehalten hatte, hatte zwar starke Ähnlichkeit mit ihm gehabt, jedoch hatte er ein Grübchen am Mundwinkel gehabt. Erneute überkam sie Übelkeit, als ihr klar wurde, dass die Mundpartie stark an ihre eigene erinnert hatte.

Sie versuchte, sich an jedes Detail des Erlebnisses zu erinnern, jedoch griff die Müdigkeit nach ihr und sie beschloss, sich zunächst ein wenig Schlaf zu gönnen. Sie kuschelte sich in die Kissen und sog, bevor sie einschlief, den Geruch auf, der sie an ihren geliebten Jens erinnerte.

Am nächsten Morgen erwachte sie spät, denn es war bereits hell und die durch die großen Fenster einfallenden Sonnenstrahlen kitzelten sie an der Nase. „Hatschi!“ Nun war sie wach und setzte sich auf. Schlaftrunken saß sie auf dem Sofa und überlegte, ob nicht die letzten Wochen ihres Lebens ein böser Traum gewesen waren. Doch als sie wahrnahm, dass sie sich in seinem Wohnzimmer befand, wurde sie dich der Realität bewusst und stellte mit einem Seufzen fest, dass alles wahr gewesen sein musste. Es ging ihr heute erstaunlich gut und sie machte sich zunächst einen Kaffee, kontrollierte den Inhalt des Kühlschranks und stellte fest, dass sie unbedingt etwas einkaufen musste. Das, was sie fand, reichte für ein spartanisches Frühstück und sie konnte ihren Hunger notdürftig im Zaum halten. Seit sie aus Frankreich abgereist war, hatte sie kaum etwas gegessen.

Während sie mit einem Becher dampfenden Kaffees vor der Fensterfront stand und in den Garten blickte, begannen die Wut und die Trauer erneut nach ihr zu greifen, was sie allerdings nicht gebrauchen konnte. „Simone! Reiß dich zusammen! Du musst nachdenken!“, sagte sie zu sich selbst und versuchte, mit einer Handbewegung die dunklen Gedanken zu vertreiben.

Tatsächlich gelang es ihr und sie konnte endlich klare und zusammenhängende Gedanken fassen, um ihre Zukunft zu planen, aber vor allem ihre Rache! Sie genoss die Stille und nahm einige Schlucke Kaffee, stellte dann den Becher ab, aß eine Kleinigkeit und räumte die Scherben des von ihr zuvor an die Wand geworfenen Glases weg. Ihr Blick fiel auf ihre Tasche, die sie gestern achtlos auf das Sofa geworfen hatte und sie setzte sich, öffnete sie und holte einige Gegenstände hervor, die ihr bei bloßer Betrachtung die Tränen in die Augen trieben. Doch sie zwang sich erneut, die Trauer aus ihrem Kopf zu vertreiben, als sie die Uhr, das Etui und die Schrapnellkugel ordentlich und fein säuberlich vor sich legte. „Das ist nun wohl alles, was mir von dir geblieben ist“, dachte sie, nahm die Uhr, öffnete den Deckel und schaute auf das Ziffernblatt.

Simone stellte fest, dass sie stehengeblieben war und es ihr auch nicht gelang, sie erneut zum Laufen zu bringen. „Kaputt!“, bemerkte sie, als sie die Uhr an ihr Ohr hielt, nachdem sie versucht hatte, sie aufzuziehen. „Nun werde ich auch durch diesen Zeitmesser daran erinnert, wann du gestorben bist“, fügte sich hinzu, nachdem sie das gute Stück auf den Tisch zurückgelegt hatte.

Ein Schauer durchfuhr sie und ließ sie frösteln. Unweigerlich musste sie sich schütteln, fing sich aber schnell wieder und beschloss, den Geheimraum ihres geliebten Jens zu betreten. Bevor sie jedoch den Mechanismus im Globus auslöste, griff sie nach den Sachen auf dem Tisch, da sie diese mitnehmen wollte. Das Regal schwang zur Seite und sie betrat den Ort, der sie noch stärker erinnern würde. Hier hatte sie die Hinweise gefunden, die ihr geholfen hatten, nur, um dann letztendlich doch zu spät zu kommen. Aber sie fasste den Entschluss, dass das Schicksal nun einmal ein Arschloch sei und sie das Beste daraus zu machen hatte. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch mit dem Rechner, den sie während ihres letzten Besuchs nicht hatte starten können. Simone setzte sich auf den Stuhl und betrachtete die Stapel von Akten und Unterlagen, die achtlos dorthin gelegt worden zu sein schienen. Mit einem lauten Aufschrei wischte sie mit beiden Armen alle Papiere fort, sodass diese zu Boden fielen und auch andere Dinge, die unter ihnen begraben gewesen waren, mit einem Scheppern aufschlugen.

Dann wurde es still und nur der aufgewirbelte Staub, der von den Deckenlampen beleuchtet wurde, tanzte vor ihrer Nase. Kontrollverlust würde ihr einfach nicht helfen, stellte sie fest und betrachtete die nun freie Tischplatte, auf der nur noch der Rechner nebst Maus und Tastatur standen. Plötzlich nahm sie neben dem Computer eine Vertiefung im Holz wahr, deren Umrisse sie an einen Gegenstand erinnerten, den sie vor Kurzem in der Hand gehalten hatte.

„Heureka“, entfuhr es ihr und sie eilte in das Wohnzimmer und holte die Uhr. Kaum hatte sie diese in die Vertiefung gelegt, begann der Rechner zum Leben zu erwachen.

„Der Schlüssel ist die Uhr! Deshalb hat Jens sie immer bewacht, als sei sie Saurons Ring.“ Für einen Moment waren alle Sorgen und die Trauer verschwunden, denn die Vorfreude auf das, was das kommen würde, hatte Besitz von ihr ergriffen.

Kurze Zeit später war der Rechner online und es erschienen verschiedene Symbole auf dem Desktop. Beherzt griff sie zur Maus und klickte sich durch die Ordner. Programme starten wollte sie doch nicht, weil sie Angst hatte, dass etwas passieren würde, wovon sie keine Ahnung hätte. Sie fand Unterlagen über Personen des öffentlichen Lebens, die finstere Geheimnisse zu bergen schienen. Neugierig las sie und traute ihren Augen kaum, was so dort fand.

Die Zeit verging wie im Fluge, sodass sie erst später merkte, dass sie noch immer nicht gegessen hatte. Auch der Kaffee war mittlerweile kalt. Übelkeit kroch in ihr empor und sie hatte das Gefühl, dass sie sich erneut übergeben musste. Sie sprang auf, ein wenig wackelig, und eilte, ja rannte förmlich in Richtung WC. Kaum kniete sie vor der Toilettenschüssel, erbrach sie sich und würgte noch weiter, obwohl sie nichts mehr im Magen zu haben schien. Leicht benommen und kaum noch in der Lage, aufrecht zu stehen, spülte sie sich den Mund aus und wankte in Richtung Wohnzimmer, jedoch entschied sie sich für einen Umweg über die Küche und trank gierig mehrere Gläser Wasser, bevor sie sich auf das Sofa setzte. Sie schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren und ihre Gedanken zu sammeln. Warum ging es ihr bloß so schlecht? Ob das was mit dem Labor in Frankreich zu tun hatte? Diesmal war es nicht die Übelkeit, sondern die Angst, die in ihr aufkam. „Wurde ich verstrahlt? Hat es die anderen auch erwischt? Muss ich nun sterben?“ Sie begann zu zittern, als ihre Gedanken Karussell fuhren. Einige Zeit gab sie sich ihren Ängsten und den damit verbundenen Gefühlen und Fragen hin, bis sie plötzlich laut „STOPP“ rief, um sich in die Realität zurückzuholen. „Was für ein Blödsinn! Simone, nun beruhig dich! Was würde Jens machen?“, fragte sie sich selbst und öffnete die Augen, als es an der Tür klingelte. Erschrocken schaute sie auf. „Wer kann das sein?“, sie sprang auf, als ihr Blick auf die noch geöffnete Geheimtür fiel, die sie sogleich schloss, bevor sie, gefolgt von einem erneuten Klingeln, in ihre Tasche griff und die Pistole herauszog. Ihr Herz raste und die Hand, mit der sie die Waffe hielt, zitterte. „Ruhig, ganz ruhig. Es wird harmlos sein.“ Sie atmete einmal kräftig ein und aus, hielt sich die Pistole an den Rücken und schritt dann in Richtung Haustür. Es klingelte erneut. Mit einem „Bin ja schon da!“ riss sie die Tür auf und erstarrte.

Zwei in lange Ledermäntel gekleideten Männer fixierten sie. „Die müssen ja mindestens 2 Meter groß sein“, dachte Simone und schluckte. Ihre Hand umschloss den Griff der Pistole nun fester und sie stellte sich darauf ein, sie jederzeit hervorholen zu müssen.

Dann erhob der eine der beiden Männer seine Hand und tippte gegen seinen Hut. Sie stellte fest, dass er sogar lächelte. „Guten Tag! Mein Name ist Hartmut Weber und dies hier ist mein Kollege Franz Wagner.“ Der lächelte nun ebenfalls und tippte gegen seinen Hut. Wagner fuhr fort: „Wir sind vom BND und möchte Ihnen unser Beileid aussprechen. Gröber war einer unserer Kommandanten. Aber vielleicht dürfen wir kurz eintreten?“

Simone fiel die Kinnlade runter. Als sie den Namen ihres Freundes hörte, füllte sich ihr aufgeregtes Herz erneut mit Trauer, die sie ganz und gar nicht gebrauchen konnte. Sie stand noch immer wie versteinert an der Tür und brachte kein Wort heraus. Weber schien die Situation zu überblicken und versuchte nun noch etwas freundlicher auszusehen. Beide Männer gingen einen Schritt zurück. „Aber Simone, es ist alles in Ordnung. Dieses Haus ist sicher und wir möchten Ihnen nichts tun. Lassen Sie uns doch rein und wir besprechen alles in Ruhe. Die Waffe hinter Ihrem Rücken brauchen sie nicht.“ Er grinste freundlich und auch Wagner setzte einen besänftigenden Gesichtsausdruck auf.

Simone verstand noch immer nicht, was hier genau passierte, aber sie beschloss, die beiden Herren einzulassen. Sie nickte und trat zur Seite. Weber reichte ihr die Hand, schlug die Hacken zusammen und brachte „Mein ehrliches Beileid!“ hervor. Die Szenerie war für sie noch immer unwirklich und sie musste innerlich grinsen, als sich das Gleiche mit Wagner wiederholte. „Danke, die Herren. Aber was wollen Sie wirklich?“ stammelte sie und wusste nicht, ob sie nicht allzu ängstlich wirkte.

„Simone, wie ich bereits erwähnte, spielen wir im selben Team wie unser verstorbener Kollege! Glauben Sie mir bitte, wir wussten, dass Sie im Haus sind und haben daher auch geklingelt. Selbstverständlich verfügen wir über einen Schlüssel, denn das Haus gehört zu unserer Organisation.“ Dabei zeigte er ihr einen Schlüssel, den er einem kleinen Koffer entnahm, auf dessen Schild der Name Gröber sowie die Adresse standen.

Sie entspannte sich ein wenig und beschloss, dass von den beiden keine akute Gefahr ausging, denn wenn sie sie hätten umbringen wollen, hätten sie dies wahrscheinlich schon getan. Sie nickte und zeigte mit der Hand, welche die Waffe noch hielt, in Richtung Wohnzimmer. „Kommen Sie doch herein, dann können wir uns unterhalten.“ Sie merkte, dass ihre Selbstsicherheit zurückkehrte. „Vielleicht können mir die beiden bei meinen Racheplänen behilflich sein“, dachte sie, schloss die Haustür und folgte den beiden in das Wohnzimmer.

„Dürfen wir uns setzen?“, sagte Wagner und nahm seinen Hut ab. „Wenn das hier eh der Organisation gehört, dann machen Sie.“

Weber lächelte, legte seinen Hut auf den Tisch und knöpfte sich den Ledermantel auf. Sein Kollege tat es ihm gleich und nun saßen dort die beiden riesigen Männer und lächelten, als erwarteten sie, dass Simone etwas tun würde. „Möchten Sie vielleicht Kaffee? Ich müsste noch welchen haben.“

„Das klingt sehr gut. Vor allem lockert es die Situation ein wenig auf.“ Der eine der beiden sprang auf und wollte ihr folgen. „Danke, aber ich schaffe das alleine“, bemerkte Simone. Der Mann setzte sich darauf und zeigte abermals ein Lächeln. Nachdem sie alle mit Kaffee versorgt und sich dann ebenfalls gesetzt hatte, fiel ihr plötzlich ein, dass sie die Pistole in der Küche liegengelassen hatte. Aber sie beruhigte sich und starrte nun Weber und Wagner an. Wenn sie nun auch einen Nachnamen mit W hätte, hätten sie Internet spielen können. Nach diesem Gedanken musste sie kurz auflachen und überlegte, ob es der Anspannung oder dem geistlosen Witz geschuldet war.

Wagner räusperte sich, griff zum Becher und nahm einen Schluck. Dann holte er sichtbar Luft und begann zu erzählen. „Also Simone, nun scheint sich die Situation ein wenig entschärft zu haben und ich kann Ihnen ein paar Informationen übermitteln. Das Büro von Jens haben Sie bereits entdeckt und sein Rechner wurde heute Vormittag aktiviert.“ Er nickte in Richtung des noch geöffneten Globus und machte eine beschwichtigende Handbewegung, als Simone nervös wurde und auf ihrem Sitz hin und her rutschte. „Alles ist gut. Es ist so, wie es ist, und das ist in Ordnung. In unserer Organisation ist es so, wenn ein Mitglied ausscheidet, öffnen wir einen solchen Koffer. In diesem befinden sich meist der letzte Wille, weitere Instruktionen und das eine oder andere Relikt sowie ein Zweitschlüssel, sofern dem Mitglied ein Haus zur Verfügung gestellt wurde. In diesem Fall ist es nicht anders, vor allem, weil Kommandant Gröber zum Führungsstab gehört hat.“

Er hielt kurz inne und schaute Simone an, die nun ganz ruhig war und versuchte, jedes Wort aufzunehmen. Es war nicht leicht für sie, denn in ihrem Kopf tobte ein Sturm aus Emotionen, der stärker zu werden schien, je öfter sie den Namen ihres Geliebten hörte. Sie nahm ihren Mut zusammen und hob ihre Hand, als wolle sie den Mann unterbrechen, obwohl dieser schwieg. „Bedeutet das, dass ich liquidiert werde, weil ich etwas weiß?“ Ihre Stimme zitterte ein wenig und sie hätte sich hierfür ohrfeigen können, denn nach dem Horror in Frankreich hatte sie sich geschworen, nicht mehr die kleine und schwache Frau sein zu wollen.

„Aber, aber Simone… Hätten wir das gewollt, so wären Sie nicht mehr lebend aus Frankreich zurückgekehrt. Es geht hier nicht um Auslöschung, sondern wir möchten den letzten Willen unseres Kommandanten erfüllen.“ Weber öffnete bereits den Koffer, klappte den Deckel hoch und dreht ihn zu Wagner, der einen Umschlag nahm und diesen auf den Tisch legte. Außerdem entnahm er eine Akte und schlug diese auf. Erneut räusperte er sich, als wolle er förmlich etwas verlesen, während sein Kollege den Koffer schloss und auf den Boden stellte.

„Simone. Dieser Umschlag ist für Sie. Es ist eines der von mir zuvor beschriebenen Dinge, die wir als Relikte bezeichnen. Der Inhalt ist uns unbekannt. Nun möchte ich jedoch wieder zum eigentlichen Thema kommen.“ Er schaute sie an und setzte ein Lächeln auf, nachdem er Kaffee getrunken hatte. Nun begann er fortzufahren, was Simone irritierte, denn sein Kollege hatte die Akte geöffnet auf dem Schoß.

„Simone, wir haben in der Vergangenheit mit Sorge beobachtet, wie sich Ihre Beziehung zu Jens entwickelt hat. Doch in der letzten Zeit, also vor dem, sagen wir einmal, Unglück, hat sich herausgestellt, dass Kommandant Gröber eine wirklich gute Wahl getroffen hatte. Nachdem wir Sie erneut durchleuchtet und ihre Entwicklung analysiert haben, denken wir, dass er Recht hatte und möchten Sie, so, wie es sein Wunsch ist, in die Organisation aufnehmen. Sie haben in Frankreich gute Arbeit geleistet, zumal Sie hochintelligent sind und über Potenzial verfügen. Außerdem sorgen Sie dafür, die Blutlinie unseres Kommandanten fortzuführen.“ Er lächelte nun wieder etwas mehr und zeigte auf ihren Bauch.

Sie war verwundert, ja völlig irritiert und wusste in diesem Moment gar nichts, außer, dass sie wohl schwanger war. Oder was wollte er ihr damit sagen?

„Wie, was … äh … das …“, stotterte sie, aber nun ergriff Wagner das Wort. „Wir können uns vorstellen, dass sie gerade mehr als verwirrt sind! Sie werden, sofern Sie bereit sind, in die Organisation aufgenommen und diese wird fortan für sie und Ihre Leibesfrucht sorgen. Außerdem erhalten Sie natürlich eine Ausbildung. Sie können hier in diesem Objekt wohnen und wir kümmern uns um Sie. Wenn sie dann alleine ihren Dienst leisten können, werden wir uns dezent wieder zurückziehen.“

Simone war nun noch verwirrter als vor ein paar Sekunden und Panik kroch in ihr hoch. Sie nahm ihren Mut zusammen und versuchte sich zu fangen, was ihr erstaunlich schnell gelang. „Also, verstehe ich richtig, ich bin schwanger? Ich soll in die Organisation aufgenommen werden und erhalte alle möglichen Annehmlichkeiten sowie eine Ausbildung. Wahrscheinlich alles nur, weil ich ein Kind von Jens unter dem Herzen trage?“

„Unter anderem, ja! Sie führen die Blutlinie unserer Führung weiter. Ihr Kind erwartet eine große Aufgabe!“

Simone war wütend und verzweifelt zugleich. „Soll das heißen, dass Jens mich ausgewählt hat, damit ich ein Kind für ihn austrage und vorher meinen Gencode überprüfen lassen hat, ob ich auch rein genug bin?“ Sie erhob sich halb, aber Weber machte eine beruhigende Bewegung. „Simone, ganz ruhig. Es ist nicht so, wie Sie vermuten. Es ist und bleibt die Entscheidung unserer Führung, mit wem sie zusammen sein wollen oder gar ein Kind haben möchten. Wir haben nur festgestellt, dass Sie nun einmal perfekt sind und daher können wir Ihnen eine vielversprechende Zukunft bieten. Sonst hätten wir sie liquidiert. Also, entspannen Sie sich.“

Simone erhob sich nun tatsächlich und schaute die beiden Männer wütend an. Angst, Panik und Schwäche waren verschwunden und in ihren Augen schien ein Feuer zu lodern, als sie entgegnete: „Das haben Sie sich ja fein ausgemalt. Ich glaube, dass wir das noch einmal erörtern sollten! Wenn ich für die Organisation so wichtig bin, dann erklären Sie sich doch bitte weiter. Erst auf der Grundlage werde ich eine Entscheidung treffen, wie es weitergehen wird.“ Sie erschrak fast schon angesichts dessen, mit welcher Ruhe sie diese Worte gesprochen hatte. Die beiden Männer schauten sie und dann einander an. Dann standen die beiden auf, schlugen die Hacken zusammen und nahmen Haltung an.

„Sie sind tatsächlich die Richtige! Sie werden das Kind austragen und damit die Höß‘sche Blutlinie fortführen und unser Land aus der Dunkelheit führen. Natürlich werden wir alles in Ruhe besprechen, aber wir haben bereits erkannt, welche Macht in Ihnen steckt.“ Weber fuhr fort. „Und nun werden wir Sie vorerst in Ruhe lassen, damit Sie ihren Brief lesen können. Wie erwähnt, werden wir in Ihrer Nähe sein und Ihnen zur Seite stehen, sofern dies erforderlich sein sollte.“ Er griff in seine Tasche, lächelte erneut und legte ein Smartphone auf den Tisch. Mit diesem Telefon erreichen Sie uns und sind für alle anderen unsichtbar. Dann legte er noch eine kleine Schmuckschatulle auf den Tisch. Dies hier ist Ihr Erkennungszeichen. Bitte tragen Sie es immer bei sich.“ Simone hatte sich bereits wieder gefangen und überlegte, ob sie die beiden Männer für ihre Rache einsetzen könnte. Aber es war noch nicht an der Zeit. Sie griff nach der Schatulle und öffnete diese. In dem Deckel befand sich ein kleiner Zettel, der Jens Handschrift trug. „Für meinen Stern! Dein kleiner Held! Ich liebe dich“ stand darauf und Simones Herz wurde für einen Moment schwer, doch fing sie sich und schaute auf die kleine goldene Uhr, die an einer Kette befestigt war und auf der „Cartier“ zu lesen war.

Sie entnahm die Uhr und hielt sie vor ihre Augen. Dieses Exemplar war ein wenig kleiner als die von Jens, aber dennoch wunderschön. Für einen Moment dachte sie zurück an ihren Geliebten und steckte die Uhr schließlich ein. Sie lächelte die beiden Männer an und reichte ihnen die Hand. „Wunderbar, dann werde ich mal sehen, was die Zeit bringen wird. Einen schönen Tag, die Herren!“

„Sehr gut, dann werden wir, wie gesagt, in Kontakt bleiben. Ebenso einen guten Tag“, nickte ihr Wagner zu und die beiden wandten sich zum Gehen. „Da ist noch eine Kleinigkeit!“, sagte Simone leise. „Man geht wohl davon aus, dass ich bei der Explosion ums Leben gekommen bin. Wäre es nicht besser, wenn es so bleiben könnte? Offiziell, meine ich.“

„Aber natürlich, wo hatte ich nur wieder meine Gedanken!“ Weber drehte sich um, griff in seine Manteltasche und reichte ihr einen weiteren Umschlag. „Das sind Ihre neuen Ausweispapiere nebst Führerschein und Sozialversicherungsausweis. Sie sollten die alten Dokumente vernichten.“

Simone nickte Weber zu. „Sehr gut, seeeehr gut. Das wird mir sicherlich helfen. Aber nun scheint es tatsächlich an der Zeit zu sein, dass Sie gehen.“ Sie wirkte ernst und machte eine Handbewegung in Richtung Tür. „Sie wissen, wie Sie rauskommen?“

„Jawohl“, kam es wie im Chor von den beiden Männern, die sich in Bewegung setzten. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, seufzte sie einmal kurz auf und setzte sich dann. Sie überlegte, ob sie erst einen Blick auf ihre neue Identität werfen oder den Umschlag von Jens öffnen sollte. „Ach was soll‘s“, sagte sie zu sich, riss den Umschlag auf und entdeckte einen Personalausweis. „Wie jetzt, was ist das denn? Eva Bronzen? Was soll denn so ein Name?“ Sie musste tatsächlich laut auflachen und betrachtete das Foto. „Da muss ich mir nun auch noch die Haare schneiden und färben, aber ich denke, das passt schon.“

Erneut grinste sie breit, steckte den Ausweis zurück in den Umschlag und warf alles auf den Tisch. Als daraufhin ihr Magen zu knurren begann, beschloss sie, sich erst einmal eine Kleinigkeit zu machen, denn außer den paar Schlucken Kaffee hatte sie nun nichts mehr im Magen. „Nun muss ich auch noch darauf achten, mich immer gesund zu ernähren, wenn du groß und stark werden sollst!“ Sie strich sich über den Bauch und ging dann in die Küche. Nachdem sie den ersten Hunger befriedigt hatte, wartete sie noch ein wenig ab, ob erneut Übelkeit sie überkommen würde, aber es blieb alles gut. „Nun werde ich nicht nur meine Frisur ändern, sondern auch noch mein Gewicht, aber das kommt ja von ganz allein.“ Lachend setzte sie sich auf das Sofa, entspannte sich und griff nach dem Umschlag.

Tränen schossen ihr in die Augen, obwohl sie den Brief bereits drei-, nein viermal gelesen hatte. Es waren so wundervolle Worte und sie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass ihr geliebter Jens nun einfach den Raum betreten und sie in seine Arme nehmen würde. Natürlich war ihr klar, dass dies nun nie wieder passieren würde. Mit einem Mal verließ sie ihre Gedankenwelt und blickte sich um. Denn erneut befielen sie Rachegelüste und diese sollten unbedingt befriedigt werden. Das war ihr klar! Jedoch würde dies Einiges an Vorbereitung bedeuten und da wäre sie als Mitglied einer solchen Organisation doch genau an der richtigen Stelle. „Meine Rache werde ich noch ein wenig verschieben, aber keine Sorge, Melanie. Der Moment wird kommen und dann wirst du erleben, wozu ich fähig bin, wenn man mir etwas nimmt, was ich liebe. Vielleicht, nein, ganz bestimmt, werde ich dir etwas nehmen, was dir wichtig ist.“

Sie lachte auf, ihre Augen funkelten böse und sie öffnete die Geheimtür. Nun würde sie Informationen sammeln und herausfinden, wer ihr bestimmt alles helfen konnte. Denn mit den vielen Daten würde sie bestimmt ein verhängnisvolles Netz spinnen können, in dem sie wie eine schwarze Witwe sitzen und einfach nur die Fäden ziehen könnte. Welch' ein wohliger Gedanke, und so schön gemein und hinterhältig!

„Eva, du wirst ja ein richtiges Miststück, aber ich glaube, das ist der beste Weg! Die Vergangenheit ist Geschichte und ich werde meine Zukunft neu gestalten.“ Mit einem Lachen betrat sie den Geheimraum, nahm Platz und begann mit den ersten Recherchen.

Kapitel 2

Flocke schlug die Augen auf und schmatze noch etwas schlaftrunken. Da Anja noch neben ihm leise schnarchte, konnte es nicht allzu spät am Morgen sein. Er starrte an die Decke und war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, einfach noch ein Stündchen zu schlafen und dem Bedürfnis nach Kaffee. „Wenn ich eine Münze hätte, würde ich sie wohl oder übel werfen müssen, aber wie es heißt: Greif einem nackten Mann in die Tasche.“ Er lachte auf und nahm alle Energie zusammen, um sich aufzusetzen. Erneut schmatzte er, wuschelte sich durch die Haare und blickte dann verstohlen zu seiner schnarchenden Freundin.

„Wenn ich dich so sehen, könnte ich fast … ach, was soll's! Mit diesen Worten schlurfte er ins Bad und hantierte kurze Zeit später mit dem Wasserkocher. Mit dem Kaffeebecher in der Hand setzte er sich und griff nach seinem blinkenden Handy. Es handelte sich nur um eine Terminerinnerung, denn in einer guten Stunde wollten Michael und er sich im Park zum Joggen treffen. „Verdammt, warum habe ich mich bloß breitschlagen lassen? Sport ist Mord. Laufen am Morgen, Kummer und Sorgen.“ Er vermieste sich fast damit selbst die Laune, lachte aber schließlich und dachte daran, dass er das nicht nur für sich, sondern auch für Anja machen wollte. Seufzend trabte er noch einmal ins Schlafzimmer und zog sich um. Nachdem er einen Jogging-Anzug, seine mittlerweile fast zu kleinen Laufschuhe und ein Schweißband angelegt hatte, schrieb er einen Zettel für Anja und machte sich auf den Weg. „Wenigstens kann ich mit dem Auto fahren und muss nicht auch noch zum Park laufen“, dachte er.

„Wie siehst du denn aus?“ Michael lachte laut auf, als sein Freund erschien. „Hey Alter, was meinst du damit?“ Flocke schien verwirrt zu sein, aber grinste dennoch breit.

„Findest du nicht, dass Schweißbänder in Neonfarben etwas sehr Retro oder gar Vintage sind?“ kicherte Michael und griff nach seinem Handy, um ein Foto von ihm zu machen.

„Wieso? Ich dachte, das trägt man so, wenn man Kilometer laufen muss“, antwortete er und kratze sich am Kopf, musste allerdings auch lachen, nachdem Michael ihm ein Foto von ihm gezeigt hatte.

„Okay, ich glaube, der Verkäufer hat mich veräppelt.“ Mit diesen Worten zog er das Schweißband vom Kopf und steckte es in die Tasche. „Ich werde es entsorgen, wenn wir an einem Mülleimer vorbeikommen.“

„Artig, artig! Ich hatte schon Angst, dass es dir mittlerweile völlig egal ist, wie du aussiehst, weil du eine Freundin hast.“ Michael konnte fast nicht mehr vor Lachen.

„Mensch Alter, nun lass doch. Werde auch nicht jünger und überhaupt…“, maulte Flocke und begann sich mit seinem Freund aufzuwärmen, was den beiden bereits jetzt den Schweiß auf die Stirn trieb.

„Ich glaube, wir machen heute die kleine Runde – ist unser erster Lauf“, rief Michael schwer atmend, als sie die ersten Meter gelaufen waren. „Jaaaaa“, ächzte Flocke.

Der Morgen war herrlich und die Sonne schien. Obwohl es noch früh war, trafen sie auf viele Menschen, die scheinbar alle zu der kleinen Bühne im Zentrum der Parks unterwegs waren. „Gibt es“, schweres Atmen, „hier etwas umsonst?“, fragte Michael und schaute verschwitzt zu Flocke, der nur „… da … ein … Müll … eimer…“ herausbekam und mit zittriger Hand auf die Parkbank kurz vor ihnen zeigte. Einige Sekunden später hatten sie sich gesetzt. Sie bekamen kaum noch Luft und waren schweißüberströmt. Michaels Herz raste, als wollte es ihm aus der Brust springen und der Schweiß brannte ihm in den Augen. Sein Freund beobachtete ihn. „Siehste, hättest du ein Schweißband, dann würde dir das Zeug nicht in die Augen laufen. Ich hätte hier noch eines.“ Er griff in die Tasche, zog das neonfarbene Teil hervor und wedelte damit vor der Nase seines Freundes, der kaum die Kraft hatte, es wegzuschlagen. „Lass mal. Ich glaube, eher erblinde ich von meinem Schweiß, als dieses grelle Ding um die Stirn zu tragen.“ Langsam ging es wieder mit dem Reden.

„Wer ist eigentlich auf die Idee mit dem Laufen gekommen? Das war ja wirklich bescheuert.“

„Mensch Alter, du hattest doch gesagt, dass wir etwas in Sachen Sport machen sollten.“

„Echt jetzt? Verdammt. Ich glaube, das war …“

„… bescheuert! Das sagtest du bereits.“ Flocke grinste. „Vielleicht, sollten wir es einfach in Zukunft lassen und erstmal unsere Ernährung umstellen?“

„Gute Idee! Hätte ich selbst drauf kommen können.“ Michael schaute sich dann um. „Verdammt, es werden ja immer mehr Leute und es ist 9 Uhr und mitten in der Woche! Was haben die denn hier verloren?“

Michael blickte den Passanten neugierig nach.

„Vielleicht sollten wir unseren Lauf tatsächlich vergessen und schauen, was da los ist.“

„Gar keine schlechte Idee. Wenn wir Glück haben, gibt es dort auch etwas zu essen.“

„Mensch Alter, so viel zur Ernährungsumstellung.“ Flocke grinste breit und erhob sich.

Nach und nach wurden es immer mehr Menschen, die aus allen möglichen Richtungen in den Park und auf dessen Zentrum zuströmten. Von dort hörten sie leise Musik und Sprechproben in ein Mikrofon. „Test, eins, zwei“ begleitete sie wie ein monotoner Marschbefehl.

„Links, zwo drei vier, links“, begann Flocke und passte seinen Schritt an.

„Du musst auch wirklich überall auffallen. Mensch, die Leute gucken schon“, stupste Michael seinen Freund in die Seite.

„Okay, ich höre ja schon auf, aber ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen. Du hast recht, mir tun schon die Füße weh – da brauche ich nicht noch marschieren.“

„Recht so. Wegen unserer Kleidung fallen wir hier schon auf, da brauchen wir nicht noch dich als Clown.“ Michael schaute sich erneut um. Die Menschenmenge war bereits so groß geworden, dass ein Vorankommen nicht mehr möglich schien. „Hast du was von einer Demo im Park gehört?“

„Nö, hat vielleicht mit den kommenden Wahlen zu tun. Wenn die Partei doof ist, gehen wir einfach nach Hause. Hab echt keinen Bock auf Demo oder eine Art Parteitag.“

„Vielleicht sollten wir einfach jetzt schon gehen. Ist echt voll hier.“

Plötzlich vernahm Michael eine Stimme aus den Lautsprechern, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Freunde, Bürger! Schön, dass Sie unserem Aufruf gefolgt sind, um die nationale Einheit zu demonstrieren, die es in diesen schweren Zeiten zu verteidigen gilt …“, propagierte eine weibliche Stimme.

„Oh ja, komm, lass uns gehen, ich mag keine weiblichen Göbbels und Nazigelaber.“

„Warte mal“, fauchte Michael und hielt sich den Finger vor den Mund, weil die Umstehenden Flocke bereits böse anschauten. „Ich kenne diese Stimme. Das klingt voll nach Simone.“

„Ach Quatsch. Die ist nicht mehr und überhaupt, so blöde war die doch nun auch nicht, sich für so einen Kram herzugeben. Das klingt wahrscheinlich nur so durch das Mikro und die Lautsprecher. Da klingen alle gleich. Lass uns gehen“, flüsterte Flocke, der sich unwohl zu fühlen schien.

„Ja, komm. Ich werde mal nachher schauen, ob ich etwas herausbekomme. Wird bestimmt was im Netz zu finden sein. Aber vorerst weg hier.“ Michael drehte sich um und die beiden schoben sich durch die Menge. Weg vom Zentrum, weg von diesen Leuten und weg von diesem Gelaber.

Je weiter sie sich entfernten, desto besser wurde ihre Laune. Auf dem Parkplatz lachten sie schon wieder und machten sich über die Leute lustig, die sich sowas anhören wollten. Michael bemerkte jedoch, dass es erstaunlich viele Menschen waren, und das machte ihm ein wenig Angst. Vor allem, weil er noch immer an die ihm bekannte Stimme denken musste.

Flocke glaubte nicht, dass es Simone war. Egal, was Michael vorbrachte. Letztendlich beließen sie es einfach dabei. Er schlug seinem Freund vor, sich am Abend zu treffen und ein veganes Abendessen einzunehmen.

„Essen gehen klingt gut, aber wir sollten vielleicht unsere Frauen fragen, ob sie mitkommen möchten. Hab keine Lust auf Mecker!“ Michael grinste und ergänzte: „Wir sollte uns abstimmen, wie viele Kilometer wir heute offiziell gelaufen sind, damit wir angeben können.“

„Prima Idee. Also mit den Kilometern, meine ich. Natürlich werden wir die beiden Fragen, ob sie uns nicht begleiten möchten. Grillen fällt ja leider aus, wenn wir uns etwas gesünder ernähren wollen. Aber das Vegane hättest du mir ausreden können. Das ist doch so wie mit unserem Laufen heute Morgen. Macht keinen Spaß und Fleisch fehlt auch.“ Flocke schaute Michael an und gnickerte.

„Oder wir sagen, dass wir keine 10 Meter geschafft haben und noch einmal vernünftig essen müssen, um nicht wieder so zu schwächeln.“

„Also doch Fleisch und Grillen?“

„Du magst neuerdings Insekten. Ich weiß nicht, wo es ein Restaurant für solche Spezialitäten …“ Flocke unterbrach und lachte. „BLÖDMANN! Du hast mich schon verstanden. Wir telefonieren nachher. Aber den weiblichen Göbbels und ihrer Rede sollten wir mal auf den Grund gehen, nicht, dass es hier wieder losgeht, wie vor drei Monaten.“

Michael nickte und wusste sogleich, was Flocke meinte. Es war keine drei Monate her, dass eine Demo der Rechten, die sich „Nationaler Aufschwung“ nannten, eskaliert und es fast eine Woche Ausschreitung von diesen Verwirrten gegeben hatte. Natürlich waren die Gegendemonstranten Schuld und sogar die Polizei hatte lieber diese festgenommen. Es hatte Schwerverletzte und einen Toten gegeben, was die Rechten jedoch wenig gekümmert hatte, denn es hieß, dass sie sich nur verteidigt hätten. „Ja, ich habe da ein ganz mieses Gefühl.“

Als Michael die gemeinsame Wohnung betrat, stellte er fest, dass Melanie noch nicht da war. Daher hüpfte er unter die Dusche und setzte sich dann an seinen Rechner. Der Gedanke an die ihm bekannte Stimme ließ ihn einfach nicht los und Neugier kam in ihm auf, weil er zudem wissen wollte, was für eine Veranstaltung das im Park gewesen war.

Die Lokalnachrichten hatten bereits ein paar Informationsfetzen gepostet und begierig begann er zu lesen. „Gruppierung „Der nationale Aufschwung“ veranstaltet Kundgebung im Stadtpark. Polizei zählt 5.000 Besucher. Der Veranstalter spricht von mindestens 10.000 Menschen. Die Lage ist ruhig.“

Na, das kann ja was werden, dachte er und las weiter. Doch leider gab es keine neuen Informationen. Er beschloss auf der Seite der Partei zu schauen und wurde tatsächlich fündig. Dort gab es ein mehr oder minder verwackeltes Live-Video. „Können sich nicht einmal vernünftiges Equipment leisten und wollen Deutschland retten“, sagte er kopfschüttelnd und sah sich das Video an.

„Wir müssen endlich wieder das Ruder in die Hand nehmen. Die Überfremdung und die Vermischung des Volkes sind nicht hinnehmbar.“ Applaus und Jubel. Michael drehte voller Scham die Lautstärke herunter. Es war ihm peinlich, dass er sich solch einen Blödsinn anhören musste.

Die Kamera schwenkte über die Menschen, die dort jubelten und dann fokussierte sie die Sprecherin, die hinter dem Mikrofon stand. Er traute seinen Augen kaum, war sich jedoch unsicher, ob es wirklich Simone war. Panik stieg in ihm auf, weil er Angst hatte, Melanie davon zu berichten. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er noch Interesse an der Frau hatte, die nun scheinbar als Sprecherin einer Partei tätig war. „Was machst du bloß für Sachen?“, fragte er an den Bildschirm gerichtet. Dann klickte er das Video weg, weil ihm die abgedroschenen Phrasen gegen den Strich gingen. „Einfach nicht mehr darüber nachdenken. Was soll‘s. Dann hat sie eben überlebt und treibt sich nun im braunen Sumpf herum.“ Diesen Leuten, vor allem Simone, wollte er keine Bühne in seinem Kopf bieten. Natürlich würde er Melanie, Flocke und Anja davon berichten, war sich aber nicht mehr so sicher, dass sie es wirklich gewesen war.

„Wahrscheinlich wollte ich sie nur sehen, weil die Stimme mich an sie erinnert hat. Da hat mir meine Fantasie einen Streich gespielt“, dachte er und wischte die Gedanken beiseite.

Aus seiner Sicht waren die Welt und vor allem das Land, in dem er lebte, verrückt geworden. Überall krochen diese rechten Gruppierungen aus dem Boden und übernahmen nach und nach die Parlamente. Tatsächlich war es in Deutschland noch recht verhalten, aber nachdem in Frankreich und Spanien nun auch nationalistische Kräfte an die Macht gekommen waren, schien es im eigenen Land loszugehen. Er seufzte und wurde traurig, weil alles bergab ging.

Melanie hatte davon bereits ein Lied singen können, denn beim BKA herrschte nun auch ein anderer Wind, seit die Führungsspitze gewechselt hatte. Aber sie beklagte sich nicht und machte weiterhin ihre Arbeit, ging allerdings jeglicher Diskussion aus dem Weg. Meist war sie es leid und wollte am liebsten ihren Dienst quittieren, wenn es neue Richtlinien gab, die sie auf die Palme brachten. Michael zuliebe hatte sie sich seinerzeit, nach dem Abenteuer in Frankreich, versetzen lassen, um mit ihm zusammenziehen zu können. Sie hatte ihre kleine Wohnung aufgegeben und war bei ihm eingezogen. Sie waren so glücklich und der Streit von damals war schnell vergessen gewesen. Nun kam in ihm alles wieder hoch, weil er meinte, Simone erkannt zu haben. „Vergiss es. Schlag es dir aus dem Kopf!“, befahl er sich selbst und stand auf. Seine Gedanken kreisten nun um Melanie, weil sie für ihn auch noch ihre gute Stelle in der Behörde aufgegeben hatte und nun in der kleinen Außenstelle hier arbeitete. Damit waren ihre Aufstiegsmöglichkeiten nicht besser geworden und er brachte auch nicht viel Geld durch seine Programmierarbeiten in die Gemeinschaftskasse. Michael neigte zu Depressionen und er merkte, dass sie wieder nach ihm griffen. Am vorherigen Tag hatte Melanie noch gesagt, wie sehr sie sich ein Kind wünschte und ihn damit aufgezogen, dass er sich prima um den Nachwuchs kümmern könnte, weil er ja zu Hause wäre. Sie hatte herzhaft darüber gelacht, weil er wohl wirklich erschrocken aus der Wäsche geschaut hatte.

„Aber in dieser Zeit ein Kind?“, hatte er sie dann gefragt. Ihr Lachen war verstummt und sie hatte ihn traurig angeschaut. Da hatte alles Lamentieren seinerseits nichts geholfen. Er hatte noch versucht, das Ganze zu entschärfen, was ihm nicht gelungen war. Sie hatte auf dem Sofa geschlafen und er hatte sie schluchzen gehört, als er an der Tür zum Wohnzimmer gelauscht hatte.

Am Morgen hatten sie sich noch nicht gesehen, weil sie immer gegen 6 Uhr das Haus verließ. „Michael! Reiß dich zusammen! Heute Abend wird das alles geklärt und du entschuldigst dich bei ihr. Dann gehen wir gemeinsam Essen und alles wird gut!“, beruhigte er sich, löste sich aus seiner Starre und schritt in die Küche, als sein Handy klingelte.

Melanie teilte ihm mit, dass es wirklich leid tue, sie aber erst am nächsten Abend wieder nach Hause könne. Ihr sei eine Sonderschicht reingedrückt worden. Damit waren seine Pläne für den Abend geplatzt und Tränen füllten seine Augen, die er jedoch schnell wegwischte. „Es wird alles gut! Alles wird gut! Es ist doch nichts passiert und immerhin redet sich noch mit mir. Dann eben morgen!“ Mit diesen Worten setzte er sich und surfte mit seinem Handy im Netz. So richtig konzentrieren konnte er sich allerdings nicht und setzte sich kurze Zeit später an seinen Rechner und arbeitete ein wenig. Das Projekt musste fertig werden und er hatte schon zwei Mal verlängert. Nun musste er einfach ran.

Erschöpft und abgeschlagen schloss sie die Tür hinter sich. Ihre Schlüssel warf sie auf die Kommode, entledigte sich des Mantels und setzte sich auf das Sofa. „Was für ein Tag!“, seufzte sie, streichelte sich über ihren Bauch und machte sich Musik an.

Ihr waren Veranstaltungen wie jene heute im Park absolut zuwider. Leider gehörten derlei Aktivitäten zu ihrer Ausbildung, denn sie sollte lernen, vor Menschen zu sprechen und diese mit gefilterten Fakten zu füttern. Dies gelang ihr mittlerweile ganz gut und im Endeffekt war es für die Organisation sinnvoll. So konnten sie Macht erlangen, und das ohne großen Aufwand. Die Führung hatte beschlossen, die kleine aufstrebende Partei am rechten Rand tatkräftig zu unterstützen und sie mittlerweile in fast jeden Landtag gebracht. Dabei wurde natürlich peinlich genau darauf geachtet, dass an wichtigen Positionen jeweils jemand von der Organisation die Fäden in der Hand hielt.

Die Parteiführung war seinerzeit dankbar und kompromisslos auf das Angebot zur Unterstützung eingegangen und man hatte es scheinbar noch nicht bereut. „Diese armen Wichser!“, dachte sie, „wenn wir erst einmal an der Macht sind, werden sie hoffentlich schnellstmöglich beseitigt.“ Eva prustete verächtlich und holte sich ein Glas Wasser, nahm ihr Mobiltelefon zur Hand und prüfte ihre Nachrichten. Sie hatte ein persönliches Problem mit diesen Parolen und sinnfreien Äußerungen, die sie verwendete, um die Zuhörer in ihren Bann zu ziehen. Selbst ihre Schwangerschaft nutzte sie zu politischen Zwecken, indem sie immer wieder mit weinerlicher Stimme auf ihren Bauch zeigte und dann lautstark sagte „Was soll ich meinem Kind denn sagen, wenn es nur noch von undeutschen Gestalten umgeben ist?“

Was für ein absoluter Blödsinn! Doch wenn alles klappen würde, könnte sie ebenfalls bald in Führungsstab sitzen und über einen großen Brocken der Macht verfügen. Nun verdrängte sie allerdings diese Gedanken, dachte an ihren Jens, der nicht mehr bei ihr war und ließ sich von der Musik beschallen. Für die nächsten Tage gab es keine weiteren Aktionen, sodass sie sich ausruhen und an ihrem eigenen Plan arbeiten konnte. Sie erhöhte die Lautstärke der Musik und gab sich ihr hin.

Schüsse waren zu hören und die Getroffenen sackten in sich zusammen. Er lächelte und rieb sich die Hände. „Wieder ein paar Freigeister weniger, die uns hätten gefährlich werden können. Sehr gut!“ Währenddessen luden die Uniformierten nach und ein Offizier bellte Befehle. Die Leichen wurden weggeschafft und neue Todeskandidaten herangetrieben. „Heute werden die Gewehre erst spät schweigen“, murmelte er und verabschiedete sich mit einem Nicken von dem Offizier, der die Hacken zusammenschlug und militärisch grüßte. Alles lief derzeit wie am Schnürchen, und wenn es so weiterginge, würden sie bald jeglichen Widerstand zum Erlahmen gebracht haben. Jedoch hatte er noch einen persönlichen Auftrag, eine Art Familienangelegenheit, der er unbedingt nachgehen musste. Er schritt aus und gönnte sich einen Spaziergang, während ihn das regelmäßige Gewehrfeuer begleitete.

Als er an seinem Wagen ankam, sprang der Fahrer aus dem Fahrzeug, nahm Haltung an und grüßte. „Alles zu Ihrer Zufriedenheit gelaufen, Herr Kommandant?“ Er winkte ab, lächelte dann jedoch und sagte: „Rühren, sind hier doch nicht auf dem Kasernenhof und, ja, alles wunderbar. Ich möchte, dass Sie mich zur Kanzlei bringen“, dabei griff er in die Tasche, öffnete die Uhr und musste feststellen, dass er etwas zu spät dran war. „Aber flott, bin in Eile.“ Der Fahrer hatte derweil den Wagen umrundet und die Tür geöffnet. „Sehr wohl, Herr Kommandant. Soll ich die Eskorte verständigen, damit sie uns den Weg freimacht?“

„Das wird nicht nötig sein, Sie werden das sicherlich auch so hinbekommen, nicht wahr?“ Der Fahrer blickte nunmehr ängstlich, fing sich dann jedoch und sagte: „Natürlich, Herr Kommandant, natürlich!“

Eva erwachte und musste feststellen, dass es bereits dunkel geworden war. Sie erhob sich, weil ihr Magen knurrte und nahm eine Kleinigkeit zu sich. „Das war ja interessant. Was du wohl vorhast…“ Erneut streichelte sie sich über ihren Bauch. Sie war bereits im vierten Monat und man sah ihr die Schwangerschaft nunmehr gut an. Sorgen brauchte sie sich nicht machen, denn immerhin wusste sie durch ihre Träume, dass ihr Sohn gesund auf die Welt kommen würde.

Es fiel ihr noch immer schwer, sich an ihren neuen Namen zu gewöhnen. Dennoch brachte ihr neues Alter Ego viele Vorteile, denn um ein Einkommen oder andere Annehmlichkeiten brauchte sie sich keine Gedanken mehr machen. Natürlich vermisste sie die Arbeit in der Bibliothek ein wenig und ihren mittellangen, blonden Haaren trauerte sie ebenfalls noch hinterher. Aber der Blick in die Zukunft war prachtvoll und ihre Rachegelüste konnte sie ebenfalls in aller Ruhe befriedigen.

Ihr war es bereits gelungen, sicherzustellen, dass Mitglieder der Organstation an wichtigen Stellen die Fäden in der Hand hatten. Kurz, nachdem sie ihre neue Tätigkeit aufgenommen hatte, hatte Eva dafür, dass das BKA endgültig unterwandert worden war, und vor allem hatte sie neue Kollegen in Melanies Nähe eingesetzt, um einen Blick auf sie zu haben und Informationen zu sammeln. Die anderen drei Spinner konnte sie noch vernachlässigen, denn sobald sie Melanie hatte, hätte sie die anderen ebenfalls im Sack! „Melanie, du wirst die Erste sein und Michael wird dir in den Untergang folgen“, sagte sie böse und ihr Blick wanderte auf das Ölgemälde von Jens, welches sie hatte anfertigen lassen. Nun hing er in einer heldenhaften Pose über dem Globus mit dem Zugang zu ihrem Geheimbüro.