Anthony Ryan
Das schwarze Lied
Rabenklinge 2
Aus dem Englischen übersetzt
von Sara Riffel
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Black Song. Raven’s Blade 2« im Verlag Orbit, London 2020
© 2020 byAnthony Ryan
Für die deutsche Ausgabe
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: © Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung einer Illustration von © Federico Musetti
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von CPI –Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98218-3
E-Book ISBN 978-3-608-11670-0
Gewidmet der Erinnerung an Lloyd Alexander,
Verfasser der Chroniken von Prydain – jener wunderbaren Serie,
mit der mein lebenslanges Abenteuer als Fantasyleser
und -autor begann
•••
Selbst die größte Lüge
Wird zerschlagen
Von der schärfsten Klinge.
– Seordahnisches Gedicht, anonym –
Luralyn fragte mich einst: »Was ist es für ein Gefühl zu sterben?«
Ich spürte den Wunsch nach Trost, der hinter dieser Frage stand, deshalb sagte ich: »Man hat das Gefühl zu fallen. So als würde die Welt zu einem winzigen Lichtpunkt zusammenschrumpfen, während man selbst in einen ewigen Abgrund stürzt. Dann … ist auch der verschwunden, und um einen herum ist nichts mehr.«
Diese reichlich poetische Antwort war jedoch, wie ich gestehen muss, eine Lüge. Natürlich kann ich nur für mich selbst sprechen – für andere gleicht der Tod womöglich einem sanften Hinübergleiten in einen endlosen Schlaf. Mein Tod allerdings bot keinen solchen Trost.
Schon als ich spürte, wie Al Sornas Klinge meine Wirbelsäule traf und am Rücken wieder austrat, wusste ich, dass die Wunde tödlich war. Der Schmerz war genauso quälend, wie man ihn sich vorstellt. Doch Schmerz war mir vertraut. Immerhin war ich Obvar Nagerik, erwählter Kämpe der Dunkelklinge, und an Ruhm unter den Stahlhast nur von ihm selbst übertroffen. Zahlreich waren meine Schlachten, und ich kann ohne Prahlerei behaupten, dass ich nicht mehr wusste, wie viele Menschen ich schon getötet hatte. Ich weiß es bis heute nicht. Ein solches Leben geht nicht ohne unzählige Verletzungen einher, wobei manche sich stärker ins Gedächtnis einprägen als andere. Der Pfeil, der in der Schlacht der drei Flüsse meinen Arm bis auf den Knochen durchbohrte. Der Schwerthieb, der an dem Tag, als wir das erste große Heer des Kaufmannskönigs zerschlugen, mein Schlüsselbein traf. Doch keine Wunde schmerzte so sehr wie die, die Al Sorna mir zufügte, oder verletzte so tief meinen Stolz. Nach all den Jahren bin ich mir immer noch nicht sicher, was mehr wehtat: durch die Brust aufgespießt zu werden oder das sichere Wissen, dass ich durch die Hände dieses verfluchten Eindringlings, dieses Namensdiebes sterben würde. Seine Worte hatten mich wütend gemacht, und damals kam niemand, der meinen Zorn erregte, mit dem Leben davon.
Er ist kein Gott. Du bist kein Teil einer göttlichen Mission. All das Gemetzel, das du angerichtet hast, ist wertlos. Du bist ein Mörder im Dienst eines Lügners … Das waren seine Worte. Verhasste Worte, die mich rasend machten. Schlimmer wurden sie noch durch die Wahrheit, die in ihnen lag und die das Lied der Jadeprinzessin mir offenbart hatte, auch wenn ich sie im Herzen schon weit länger kannte.
Damals klammerte ich mich wohl nur aus blankem Zorn an mein Leben, als das Blut in meiner Kehle hochsprudelte und meinen Lungen die Luft nahm. Als mich der Schmerz von Kopf bis Fuß durchzuckte und meine Gedärme sich entleerten und mir nur allzu bewusst wurde, dass der einst mächtige Obvar bald bloß noch ein mit Exkrementen besudelter Leichnam im gleichgültigen Angesicht der Eisensteppe sein würde. Selbst da ließ ich meinen Säbel nicht los, und meine Arme besaßen noch genügend Kraft, um die Klinge aus Al Sornas Fleisch zu ziehen. Er blieb aufrecht stehen, während ich schwankend einen Schritt zurück machte und dabei irgendetwas brabbelte. Wut und Schmerz ließen mich vergessen, was genau ich damals sagte, doch ich möchte gerne glauben, dass es etwas Trotziges, vielleicht sogar Erhabenes war. An der bleichen Farbe seiner Haut erkannte ich, dass auch er sterben würde. Keine Furcht, dachte ich, als ich den Säbel hob, um ihm den letzten Hieb zu verpassen. Zumindest darin lag eine gewisse Befriedigung. Obwohl ich wohlverdient in dem Ruf stand, grausam zu sein, hatte ich nie gerne Menschen getötet, die um ihr Leben bettelten.
Der eisenbeschlagene Huf des Hengstes traf meinen Oberschenkel und brach den Knochen wie trockenes Reisig. Ich stürzte zu Boden. Mir blieb keine Zeit, mich abzurollen, selbst wenn ich die Kraft dazu besessen hätte. Die Tritte des Pferdes prasselten einem Eisenregen gleich auf mich ein, zerschmetterten Knochen und rissen mir das Fleisch auf. Ich hatte geglaubt, der Schmerz von Al Sornas Todesstoß wäre das Schlimmste, was mir je widerfahren könnte. Ein Irrtum. Ich hatte nicht das Gefühl, als würde ich fallen. Ich sah keinen schrumpfenden Lichtpunkt, der mich in wohltuende Leere hinabsandte. Stattdessen spürte ich nur das Entsetzen und die Qualen eines Mannes, der von einem wütenden Pferd zu Tode getrampelt wird. Dann zog etwas an mir, und ich empfand eine neue Art von Schmerz, tiefer, allumfassender – ein Schmerz, der nicht nur meinen Körper erfasste, sondern sich bis in mein tiefstes Innerstes brannte. Irgendwie begriff ich, dass mir die Essenz meiner Seele herausgerissen wurde, wie Fleisch, das von Knochen gekratzt wird.
Bald ging die Empfindung in ein übelkeitserregendes, zermürbendes Gefühl der Orientierungslosigkeit über. Im Gegensatz zu der Lüge, die ich Luralyn erzählte, fiel ich nicht, als ich starb, sondern geriet ins Taumeln. Ein ganzer Schwarm Bilder und Gefühle strömte auf mich ein und ließ keinen Platz mehr für zusammenhängende Gedanken. Auch wenn ich keine körperlichen Qualen empfand, war dies in vielerlei Hinsicht schlimmer, denn es brachte meine tiefsten Ängste zum Vorschein, die panische, verzweifelte Erkenntnis, dass nach dem Leben nichts als ewiges Chaos folgte. Die Panik ließ jedoch nach, als sich aus dem Wirbeln der Bilder allmählich eine klare Erinnerung herausschälte. Ich schaute mit dem Blick eines Kindes in die kalten, wütenden Augen meiner Mutter hoch. Du frisst mehr als die verfluchten Gäule, schimpfte sie und schubste mich weg, als ich nach den Haferfladen greifen wollte, die sie gebacken hatte. Andere Mütter sind mit Nachkommen von göttlichem Blut gesegnet, aber ich bringe einen Fresssack zur Welt. Sie warf eine Pfanne nach mir und jagte mich aus dem Zelt. Geh und stiehl Essen von den anderen Bälgern, wenn du so hungrig bist! Komm ja nicht vor Einbruch der Nacht wieder.
Die Erinnerung zersplitterte, ging ein weiteres Mal in Chaos über, bis erneut ein vertrautes Bild vor mir auftauchte. Luralyns Gesicht an dem Tag, als ich gegen Kehlbrand kämpfte. Diese Erinnerung kannte ich gut, weil ich so oft zu ihr zurückgekehrt war, oder ich glaubte zumindest, sie gut zu kennen. Früher hatte in meiner Erinnerung stets der Kampf im Mittelpunkt gestanden, das Gefühl, wie Fäuste auf Fleisch trafen, der Eisengeschmack meines Blutes, als Kehlbrand mir die heftigste Tracht Prügel meines gesamten Lebens verabreichte. Aber diesmal war es anders – ich sah nur Luralyns Gesicht, in hilfloser Wut verzerrt und von Tränen überströmt. Kehlbrands Schläge waren dagegen bloß Ablenkung. Dann veränderte sich ihr Gesicht, rundete sich zu dem einer erwachsenen Frau, rief die ärgerliche, aber hartnäckige Mischung aus Lust und Verlangen in mir wach.
Du bist widerlich, Obvar.
Ihre Miene war jetzt herablassend, halb von der untergehenden Sonne und dem trüben Flackern der unzähligen Feuer im Lager am Großen Felsen beleuchtet. Ich erinnere mich, wie ansprechend sich die changierenden Farben auf der glatten Rundung ihres Gesichts ausnahmen. Auf meiner Zunge lag der Geschmack von cumbraelischem Wein, auch wenn ich damals noch nicht wusste, woher er stammte, und es mich auch nicht kümmerte. Hinter ihr sah ich die großgewachsene Gestalt ihres Bruders, der sich über den Leichnam auf dem Altar beugte. Tehlvar war im Tod nackt, wie es die Tradition gebot; sein muskulöser Körper ein bleiches, schlaffes Ding, mit verkrustetem Blut beschmiert, das aus der Messerwunde in seiner Brust ausgetreten war. Der Tag, an dem der Große Priester Tehlvar die zweite Frage stellte, erkannte ich und sah, wie Luralyn zögernd einen Schluck aus dem Weinschlauch nahm, den mein jüngeres Ich ihr hinhielt. Der Tag, als alles begann.
Die Erinnerung entfaltete sich vor mir, und ich tauchte erneut in ein Wechselbad der Gefühle ein. Das Aufflammen von Wut und Lust bei Luralyns inzwischen gewohnter Ablehnung. Gefühle, die noch stärker wurden, als Kehlbrand sie zu sich rief und mich wegschickte. Was die beiden zu bereden hatten, war für meine Ohren nicht bestimmt. Und warum auch? Was hätte ich schon dazu sagen können? Ich sollte der Kämpe der Dunkelklinge werden, aber niemals sein Ratgeber. Die seither vergangenen Jahre liefern mir eine klarere Sicht darauf, wie ich an den Punkt in der Geschichte gelangte, an dem ich heute stehe. Inzwischen ist der Name Kehlbrand Reyerik fast schon ins Reich der düsteren Legenden eingegangen. Ich dachte, es hätte mit dem Moment meines Todes begonnen, aber jetzt weiß ich, es fing mit jenem ungeschlachten Hünen an, der in das dunkle Lager zurückstapfte, fest entschlossen, seiner Enttäuschung mit üblen Taten Luft zu machen. In seinem Herzen wusste der Hüne, dass er nicht mehr als ein Schoßhündchen war, stark und bösartig, aber trotzdem nur ein Hund.
Ist das der Tod?, fragte ich mich, als sich die Erinnerung erneut wandelte, der Große Felsen und das Lager vom wirbelnden Dunst fortgerissen wurden. Die Kränkungen, die einem zu Lebzeiten zugefügt wurden, ewig aufs Neue durchleben zu müssen? Und wenn ja, konnte ich dann wirklich behaupten, es nicht verdient zu haben?
Als die Sicht wieder klarer wurde, schien sich mein Verdacht zu bestätigen. Mich erwartete ein weiterer Moment, den ich lieber vergessen hätte. Ich stand neben Kehlbrand in der Kammer unter der Grabstätte der Unsichtbaren. Die Leichen der Priester, die wir erschlagen hatten, waren inzwischen fast schon verwest. Verdorrtes Fleisch bröckelte von trockenen Knochen in dieser uralten, heißen Höhle. Der Gestank des Todes hing aber immer noch in der Luft.
Ich erinnerte mich, wie Kehlbrand mich damit überraschte, dass er nach dem Fall von Leshun-Kho zum Großen Felsen zurückkehren wollte. Eigentlich wäre nach einem großartigen Sieg wie diesem eine Nacht der feuchtfröhlichen Ausschweifungen angebracht gewesen. Der Hunger, für den meine Mutter mich als Kind gescholten hatte, plagte mich weiterhin, und mit dem Eintritt ins Mannesalter waren noch andere Gelüste hinzugekommen. Die Dunkelklinge erlaubte jedoch keine Siegesfeier. Nachdem das Schlachten vorbei war und Luralyn ihre Auswahl unter den Gefangenen getroffen hatte, übergab Kehlbrand die Stadt einem vertrauenswürdigen Skeltir mit zehntausend Kriegern, um sie vor einem Gegenschlag aus dem Süden zu schützen.
»Du willst nach Keshin-Kho marschieren?«, hatte ich gefragt. In meiner Brust mischte sich eifrige Vorfreude mit Besorgnis. Auch wenn ich stets begierig auf einen Kampf war, stellte die große Festungsstadt doch ein respekteinflößendes Ziel dar, selbst für unser ständig wachsendes Heer.
»Nein, alter Freund«, sagte er. »Wir gehen nach Hause. Es ist Zeit, sich vorzubereiten.«
»Worauf?«
Seine Augen verengten sich leicht, während er seine Schwester ansah. Seit dem Fall der Stadt hatte Luralyn eine ziemlich grimmige Miene aufgesetzt. Wahrscheinlich lag es an ihrer Zimperlichkeit, die mir für eine Stahlhast immer schon untypisch vorgekommen war. Kehlbrand hingegen hatte seiner Schwester bis jetzt stets bedingungslos vertraut. »Ich bin mir noch nicht ganz sicher«, sagte er und stieg in den Sattel, »aber ich muss dich um etwas bitten, wenn auch nur ungern.«
»Du bist der Mestra-Skeltir«, erinnerte ich ihn. Selbst damals vermied ich es schon, ihn bei seinem anderen, seinem göttlichen Namen zu nennen, was er geflissentlich überhörte. »Du kannst mich um alles bitten, und ich werde gehorchen.«
Er musterte mich ruhig, aber ausdruckslos. Als er antwortete, lag ein Hauch von Bedauern in seiner Stimme, was man sonst nur selten bei ihm hörte. »Ich nehme dich beim Wort, Sattelbruder«, sagte er.
Und so ritten wir nach Hause, gefolgt von der Horde der Stahlhast. Die Tuhla wurden nach Osten und Westen geschickt, um die Grenzgarnisonen anzugreifen, aber die Stahlhast ritten nach Norden, zurück zum Großen Felsen, wo Kehlbrand mich bat, mit ihm zur Grabstätte zu gehen und zu dem, was sich darunter befand.
»Berühre ihn.«
Die Oberfläche des Steins war glatt und schwarz und von goldenen Adern durchzogen, die im Licht von Kehlbrands Fackel zu pulsieren schienen. In der Nacht, als wir die Priester getötet hatten, war Luralyn vor dem Ding zurückgeschreckt, und wer könnte es ihr verdenken?
»Jemand ist auf dem Weg hierher«, fügte Kehlbrand hinzu. »Ein Gegner, den du nicht besiegen kannst.«
Ich schaute vom Stein hoch und grinste breit, um meine Unsicherheit in der Nähe des gefürchtetsten Gegenstands in den Legenden der Stahlhast zu überspielen, einem Gegenstand, der so heilig war, dass die Ewigen Gesetze die Todesstrafe vorsahen, sollte ihn jemand ohne Erlaubnis der Priester betrachten. Doch die Priester waren tot und die Ewigen Gesetze inzwischen nur noch ein Überbleibsel aus der Zeit vor Kehlbrands Aufstieg, über das kaum je gesprochen wurde. Wozu brauchten die Stahlhast Gesetze, wenn wir das Wort der Dunkelklinge hatten, das Wort eines Gottes?
»Es gibt keinen Mann, den ich nicht besiegen kann«, sagte ich.
»O doch, das kannst du mir glauben. Er hat meinen Namen gestohlen, und er wird schon bald kommen, um alles zunichtezumachen, was wir aufgebaut haben.« Kehlbrand griff nach meinem Unterarm. »Berühre den Stein.« Sein Blick war jetzt finster, unerbittlich in seiner Autorität und Entschlossenheit. Es war das Gesicht, das er zur Schau trug, wenn er mehr sein wollte als der Mestra-Skeltir, das Gesicht der Dunkelklinge. »Berühre ihn, und der mächtige Obvar wird noch mächtiger werden.«
Dem Befehl eines Gottes kann man sich nur schwer widersetzen, trotz meiner kaum verhohlenen Zweifel, was seine Göttlichkeit betraf. Vor diesem Moment hatte ich oft vermutet, seine Identität als Dunkelklinge sei nur eine List, eine Strategie, um die Menschen, die wir einst versklavt hatten, und diejenigen, die wir bald unterwerfen würden, für sich zu gewinnen. Wenn ja, dann hatte sich der Trick eindeutig als erfolgreich erwiesen. Doch als ich jetzt in seine Augen sah, begriff ich zum ersten Mal, dass Kehlbrand Reyerik die Rolle des Gottes nicht bloß spielte. In seiner Vorstellung war er tatsächlich die Dunkelklinge, und in diesem Augenblick glaubte ich es auch. Erst Jahre später erkannte ich, dass es solche kurzen Momente der Schwäche sind, die uns zum Verhängnis werden, die flüchtigen Gelegenheiten, wenn Vernunft und Zweifel von blindem Glauben und Liebe übermannt werden.
Ich spreizte die Finger, während Kehlbrand grimmig und zufrieden lächelte, und schlug mit der Handfläche auf den Stein.
Es war so, als berührte ich eine Flamme, doch der Schmerz war schlimmer als bei einer einfachen Verbrennung. Er sengte sich durch meine Hand und meinen Arm tief in mein Innerstes hinein. Weißes Feuer explodierte in meinen Augen, begleitet von einem Tosen, das so laut war, dass ich meinen eigenen Schrei nicht hörte. Das Feuer erlosch so schnell, wie es aufgelodert war, und für einen winzigen Moment sah ich mich einem Augenpaar gegenüber. Schwarze Pupillen in gelb-grün gesprenkelten Augen, eingebettet in gestreiftes Fell, dessen Muster ebenso komplex wie symmetrisch war. Ein Tiger, erkannte ich gequält, während die Augen in meine Seele hineinschauten. Ich hörte keine Worte, sah nichts außer diesen Augen, aber ich spürte die Absicht ihres Besitzers deutlicher als jede Wunde davor oder danach: Hunger. Tiefer, unbändiger, unstillbarer Hunger.
Die Augen blinzelten und verschwanden, ein grauer Dunst blieb zurück und die plötzliche Abwesenheit jeglicher Empfindungen. Als sich der Dunst auflöste, lag ich auf dem Rücken und schaute in Kehlbrands besorgte Miene hoch. »Es war anders«, sagte er mit weicher, nachdenklicher Stimme, eher an sich selbst als an mich gewandt. »Warum war es anders?«
»Anders?«, fragte ich stöhnend und ergriff seine Hand, um mir hochhelfen zu lassen.
»Du bist nicht der Erste, dem ich eine Gabe verliehen habe, Bruder. Vor dir kamen schon viele andere. Meist waren sie hinterher etwas verwirrt, empfanden aber keinen Schmerz.« Unangenehm forschend musterte er mit gerunzelter Stirn meine Züge. Er wirkte bestürzt, was untypisch für ihn war. »Spürst du es? Weißt du, was es ist?«
»Es spüren?« Angesichts meines verwunderten Ausdrucks seufzte Kehlbrand enttäuscht, worauf ich hinzufügte: »Es hat wehgetan.«
»Und sonst nichts? Du spürst gar nichts?«
Ich trat zurück und holte trotz des Gestanks in der Höhle tief und zittrig Luft. In Wahrheit spürte ich nur den Nachhall eines kürzlich überstandenen Schmerzes. Meine Arme waren so stark wie eh und je, aber nicht stärker. Und ebenso meine Sehkraft – nachdem der graue Dunst sich verzogen hatte, sah ich wieder scharf, konnte jedoch außer den Umrissen der Kammer nichts weiter entdecken. »Ich bin … ganz der Alte, Bruder.«
»Nein.« Zweifelnd schüttelte er den Kopf, und in seiner Stimme lag ein Hauch Zorn. »Deine Melodie ist anders.« Er legte den Kopf schief und sprach im Flüsterton weiter. »Ich bin nicht sicher, ob es mir gefällt.«
Er blinzelte, und ich konnte ein leichtes Schaudern nicht unterdrücken, denn in diesem Moment ähnelten seine Augen so sehr denen des Tigers, dass der Schmerz erneut in mir aufflammte. Als er weitersprach, hatte seine Stirn sich geglättet, und sein Ton klang gelassen und nachdenklich. »Na gut, es wird sich schon bald zeigen.«
»Luralyn weiß es vielleicht …«, begann ich, wurde jedoch schnell zum Schweigen gebracht.
»Nein«, sagte er im Befehlston. »Und mir wäre es auch lieber, Obvar, wenn du die Gesellschaft meiner Schwester in Zukunft meidest. Sie findet dich bestenfalls anstrengend, und dein Werben um sie war ehrlich gesagt immer schon aussichtslos, wenn nicht gar unangemessen. Schließlich ist sie die engste Angehörige der Dunkelklinge. Sie ist nicht für dich bestimmt.«
Da spürte ich es – den Stich der Kränkung. Ich war also unwürdig, das Herz seiner Schwester zu gewinnen! Sein respektloser Ton war der eines Herrn, der zu einem Sklaven spricht, und er machte mich wütend. Aber ich hörte und spürte noch mehr. Es war so, als kämen die Worte aus zwei verschiedenen Mündern, einem, der in Kehlbrands beleidigendem Ton sprach, und einem zweiten, der wie eine hinterlistige Töle zischte. Die Worte waren identisch, doch der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er log, dass jede Silbe vor Falschheit triefte. Ich hörte noch einen anderen Grund heraus, warum er nicht wollte, dass ich mit Luralyn zusammen war – obwohl es natürlich stimmte, dass sie meine Avancen stets entschieden zurückgewiesen hatte. Er fürchtet, was wir uns gegenseitig erzählen könnten.
Mein Blick glitt zum Stein zurück – bis auf die goldenen Adern, die jetzt noch stärker pulsierten, ein unscheinbarer schwarzer Sockel. Das ist seine Gabe, begriff ich. Lügen.
»Sei mir nicht böse«, sagte Kehlbrand und klopfte mir lächelnd auf die Schulter. »In deinem Herzen wusstest du, dass es immer so sein würde.« Sein Griff wurde vor lauter Mitleid fester. »Wenn wir erst die Südlande eingenommen haben, wird es jede Menge Frauen geben. König Lian Sha hat, wie ich hörte, einen ganzen Palastflügel voller hübscher Konkubinen.«
Du bist nur ein Hund, sagte mir der spöttische Ton der Töle. Den die Dunkelklinge bei Tisch mit Resten abspeist.
Der Instinkt eines Kriegers ist wertvoll und ähnelt dem eines Feiglings darin, dass er stets in Momenten großer Gefahr Alarm schlägt. Als Kehlbrand lachte und mir mit brüderlicher Zuneigung die Schulter drückte, wusste ich, dass er mich ohne Zögern töten würde, sollten meine nächsten Worte nicht dem entsprechen, was er von seinem treuesten Hund erwartete.
»Wie es die Dunkelklinge befiehlt«, sagte ich und neigte den Kopf.
Danach folgten noch weitere Erinnerungen. Wie zerfetzte Laken in einem Sturm wirbelten sie durcheinander. Der große Sieg über das Heer des Kaufmannskönigs, dessen Reihen unter dem Angriff von Luralyns Begabten auseinanderbrachen. Der Rausch des Schlachtens danach. Die Rückkehr zum Großen Felsen und die Ankunft der Jadeprinzessin, in Begleitung der Heilerin und des Namensdiebes, den Kehlbrand so lange schon erwartet hatte. Ich war es gewohnt, potenzielle Gegner auf die Gefahr hin einzuschätzen, die von ihnen ausging, und fand diesen hier zu meiner Beunruhigung schwer zu durchschauen. Groß und stark war er, aber nicht so wie ich. Klug und raffiniert ebenfalls, doch sein Scharfsinn schüchterte mich nicht ein. Ich empfand keine Furcht vor ihm. Vielleicht wurde mir das zum Verhängnis, denn wäre es anders gewesen, hätte ich ihn womöglich besiegen können.
Als Nächstes folgte das Lied der Jadeprinzessin. Die Wahrheit darin war ebenso schrecklich unausweichlich wie zuvor. Der Stein hatte mir die Fähigkeit verliehen, Lügen zu erkennen, was mir beim Glücksspiel zu einigem Reichtum verhalf. Allerdings verriet mir die Gabe nicht, wie sehr ich mich selbst belog. Über meinen verletzten Stolz wegen Kehlbrands Kränkungen tröstete ich mich hinweg, indem ich meine Stellung an seiner Seite weidlich ausnutzte. Die Stahlhast schätzen Reichtum nicht so sehr wie die Südländer. Gold und Edelsteine sind uns zwar nicht gleichgültig, wahrer Reichtum liegt für uns jedoch in dem Ruf, den jemand genießt. Und inzwischen wurde meine Legende nur noch von der der Dunkelklinge und seiner göttlich gesegneten Schwester übertroffen. Mein Ruhm wurde zu einem Schild gegen meine Zweifel – ein warmer Pelz, in den ich mich hüllen konnte, wenn die Stimme der Töle mich verhöhnte. Gegen das Lied der Jadeprinzessin half jedoch kein Schild.
Alles Lüge. Das begriff ich jetzt, als das Lied mühelos meine Abwehr überwand und in meine Seele eindrang. Seine Melodie klang schön und schrecklich zugleich. Kehlbrands Anerkennung, all seine Geschenke, die vorgetäuschte Brüderlichkeit seit frühester Kindheit. Alles Lüge. Das Lied zwang mich, ihn mit anderen Augen zu sehen, das Künstliche in jedem Gesichtsausdruck zu erkennen, die Berechnung, die hinter jedem Wort steckte. In alldem sah ich nur zwei Wahrheiten: seine Liebe zu Luralyn und seinen Glauben an die eigene Göttlichkeit. Ein Gott, der Lügen verbreitete, aber sich selbst wahrhaftig für eine lebende Gottheit hielt.
Die Erinnerung brach jäh ab, als Kehlbrand die Jadeprinzessin erschlug, und das Spektakel meines Duells mit Al Sorna blieb mir erspart. Irgendwie hatte ich das Gefühl, erstarrt zu sein, gefangen. Eine scheinbare Ewigkeit lang sah ich nichts, hörte nichts und spürte nichts außer dem Gefühl, eingesperrt zu sein. Ich glaubte, das wilde Pochen meines Herzens zu hören, aber bald wurde mir klar, dass es lediglich die Erinnerung an einen Puls war. Ich besaß kein Herz mehr und auch keinen Körper. Trotz anderslautender Behauptungen habe auch ich im Leben Furcht verspürt – nicht seltener als andere Männer, die dem Tod ständig ins Auge sehen. Allerdings hatte ich diese Angst zu beherrschen gelernt, um sie in Wut umzuwandeln, wenn die Schlacht begann. Hier gab es keine Schlacht, nur das Wissen, gefangen zu sein, wie eine Fliege in einem Spinnennetz. Furcht wurde rasch zu Entsetzen – einem Entsetzen, das einen ganz ausfüllt und zum Schreien bringt. Ich jedoch hatte keinen Mund mehr zum Schreien.
Ich hörte ein kurzes Brüllen, wütend und voller Ungeduld. Worte konnte ich keine ausmachen, begriff aber den Befehl, der darin lag: RUHE!
Ich wurde in dem Netz durchgeschüttelt, ein leises, neugieriges Knurren ertönte. In der Dunkelheit erschienen zwei vertraute Augen und musterten mich eindringlich. Er wird mich fressen! Der Gedanke stieg in mir auf, löste sich aus dem tosenden Strom der Furcht. Ich spürte den Hunger des Geschöpfs, genauso bodenlos wie zuvor. Meine Seele schien dem Tiger jedoch nicht zuzusagen, denn sein Maul blieb geschlossen. Die Erleichterung, die mich durchfuhr, schwand rasch dahin, als die kalten, starren Augen noch näher kamen. Er brüllte erneut, lauter und länger, und wieder war der Befehl klar: ICH LASSE DICH ZURÜCKKEHREN! UND DU WIRST MICH FÜTTERN!
Sein Wille umgab mich wie eine gigantische Faust, die sich um eine Mücke schließt und fest zudrückt. Dann hatte ich wieder das Gefühl, durchgeschüttelt zu werden, aus dem Netz befreit und weggeschleudert – ein Staubkörnchen, das durch endlose Leere stürzt, bis ich aufs Neue irgendwo hängen blieb, in einem anderen Netz, das diesmal aus Schmerz bestand. Er durchflutete mich, bildete feurige Kugeln, die sich in die Länge dehnten und in Gliedmaßen verwandelten. Gleich darauf kam noch mehr Schmerz hinzu, flammte grell in einem Herzen auf, das mühsam zu schlagen begann, während sich neu geschaffene Rippen darum schlossen. Aus Schmerzranken wurden Adern, und ein Vorhang aus Feuer legte sich über die nackten Muskeln eines neuen, anderen Körpers und wurde zu Haut. Der Schmerz ließ etwas nach, während sich der Körper um meine Seele herum verfestigte. Die Pein verschwand jedoch nicht ganz, sie loderte weiter wie eine heiße, wütende Flamme in meinen Eingeweiden.
Vor Freude und Qualen schrie ich auf, entzückt über die Tatsache, dass ich nun wieder eine Stimme hatte. Außerdem besaß ich Haut, mit der ich die harten Steine unter meinem Körper und einen kühlen Lufthauch spürte. Meine Freude schwand jedoch, als ich merkte, wie der Schmerz in meinem Bauch zunahm und sich rasend schnell ausbreitete. Er würde mich schon bald umbringen. Daran bestand gar kein Zweifel.
»Das Gegenmittel«, befahl eine barsche, vertraute Stimme. »Schnell!«
Ein scharfer Geschmack auf meiner Zunge. Ich würgte krampfartig, während er meine Kehle hinabwanderte. Wieder flammte kurz Schmerz in meinen Eingeweiden auf, dann war er verschwunden, gestillt von dem widerlichen Gebräu, das ich geschluckt hatte.
»Mach die Augen auf«, sagte dieselbe Stimme, und ich spürte kräftige Finger, die mein Kinn packten. Tränen flossen aus meinen Augen, als ich blinzelte. Das grelle Licht einer brennenden Fackel dicht vor meinem Gesicht ließ mich aufkeuchen. Er ragte über mir auf und schaute mir fest und forschend in die Augen.
»Hast du eine Botschaft für mich?«, fragte er in der Sprache der Südländer und blinzelte überrascht, als ich in der der Stahlhast antwortete. Die barschen Worte schienen nicht zu dem Mund zu passen, der sie hervorbrachte.
»Kehlbrand …«, krächzte ich. »Bruder?«
Er ließ mein Gesicht los und richtete sich zu voller Größe auf. Sein forschender Ausdruck verwandelte sich in ein warmherziges Lächeln. Was immer ich soeben durchgemacht hatte, die Gabe des Steins war irgendwie mit meiner Seele verbunden geblieben, denn ich hörte die Unwahrheit in seinen Worten, so klar wie eine läutende Glocke. »Schön, dass du wieder da bist, Obvar.« Mein Hund wurde mir zurückgegeben, übersetzte die spöttische Töle. Vielleicht wird er sich nun endlich als nützlich erweisen.
• • •
Die große Festungsstadt Keshin-Kho lag unter einem aschgrauen Dunst, den nicht einmal der steife Nordwind, der von der Eisensteppe heranwehte, vertreiben konnte. Die Straßen waren menschenleer, bis auf die Banden aus Stahlhast und Tuhla oder Erlösten, die überall umherstreiften und nach Beute suchten. Hier und da lagen noch ein paar Leichen herum, die meisten waren jedoch in den zwei Tagen seit dem Fall der Stadt weggeschafft worden. Die vielen schwarzen Ruinen, von denen Rauch zu der Dunstglocke am Himmel aufstieg, zeugten von der erbitterten Schlacht, die hier stattgefunden hatte.
»Dreißigtausend oder mehr«, sagte Kehlbrand, der meine Gedanken wie immer mühelos erriet. »So viel hat es mich gekostet, die Stadt einzunehmen, Obvar. Ich muss sagen, es war ein ziemliches Spektakel. Ich habe bereits einigen Gelehrten den Auftrag erteilt, einen Bericht darüber zu verfassen. Ein weiteres Kapitel im Epos der Dunkelklinge, nach gründlicher Überarbeitung natürlich.«
Er klopfte mir auf den Rücken und führte mich an der Festungsmauer entlang. Er hatte mich zur innersten und höchsten Mauer der Stadt gebracht und mir dabei von seinen Erfolgen seit meinem Tod berichtet, während mein verwirrter Geist die Details zu behalten versuchte. Ich hatte einiges verpasst – die Einnahme von Keshin-Kho war die größte Lücke. Generationen von Stahlhast hatten danach getrachtet, die Stadt zu erobern, und trotz meines orientierungslosen Zustands ärgerte es mich, am Fall der Stadt keinen Anteil gehabt zu haben.
»Keine Sorge, alter Freund«, sagte Kehlbrand. »Wenn wir weiter nach Süden vorrücken, wirst du dir noch mehr als genug Ruhm erkämpfen können. Auch wenn du es leider unter neuem Namen tun musst.«
Als ich zu ihm hochschaute, wurde mir die Merkwürdigkeit der Umstände einmal mehr bewusst. Kehlbrand war ein großgewachsener Mann, aber ich hatte ihn stets überragt, und der neue Unterschied in der Statur missfiel mir.
»Du musst dich deswegen nicht grämen«, versicherte Kehlbrand mir mit einem Lächeln, das unangenehm belustigt wirkte. »Wenn ich es richtig verstehe, ist dies nur deine erste Hülle. Vielleicht ist die nächste ja mehr nach deinem Geschmack.«
»Wo …?«, begann ich, verstummte jedoch, als mich eine neue Welle der Orientierungslosigkeit überkam. Nie gesehene Bilder schossen mir durch den Kopf und dazu unbekannte Gefühle. Eine Hülle, erinnerte ich mich. Dies ist nur eine Hülle, gestohlen von einem Mann, der durch Gift an den Rand des Todes gebracht worden war.
»Ich musste ihn zuerst zwingen, den Stein zu berühren«, hatte Kehlbrand mir kurz nach dem Erwachen gesagt, als ich benommen durchs Zimmer geirrt war. »Sonst hättest du dich in diesem Körper nicht halten können. Offenbar hat er dabei die Fähigkeit gewonnen, ungewöhnlich schnell zu rechnen. Eine eher unbedeutende Gabe, die uns aber bestimmt noch von Nutzen sein wird.«
Ich biss die Zähne zusammen und drängte den Strom fremder Erinnerungen zurück, um mich auf meine Frage zu konzentrieren. »Wo ist Luralyn?«
Kehlbrand blieb abrupt stehen, und alle Fröhlichkeit schwand aus seinen Zügen. Die Hand auf meinem Rücken ballte sich zur Faust, bevor er sie seufzend zurückzog. »Fort, alter Freund. Sie hat den Weg des Verrats gewählt.«
»Luralyn … hat dich verraten?« Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme war unverkennbar und ebenso seine Trauer. Ich geriet erneut ins Schwanken und wäre wohl gestolpert, hätte er mich nicht im letzten Moment festgehalten.
»Du wirst schon noch alles begreifen. Jetzt«, Kehlbrand nickte zu den Straßen der Oberstadt, »musst du für mich erst einmal die Rolle spielen, über die wir gesprochen haben.«
Am Rand der Festungsmauer blieben wir stehen und schauten auf die breite Anlage aus Kaserne, Tempel und Hof unter uns. In der Mitte des Hofes war eine gewaltige Schar Männer versammelt, die unter dem wachsamen Blick eines Kontingents Stahlhast-Krieger mit gesenkten Köpfen dasaßen. Auf der Mauer darüber patrouillierten mindestens einhundert Bogenschützen, bereit, einen Pfeilhagel zu entfesseln, sollte es nötig sein. Meiner Schätzung nach waren es vielleicht sechstausend Gefangene – das war alles, was von der mehrere zehntausend Mann starken Garnison übrig geblieben war.
»Bevor wir Keshin-Kho ganz umstellt hatten, gelang es dem General noch, sämtliche Bewohner, bis auf die Soldaten, aus der Stadt zu schaffen«, sagte Kehlbrand mit widerwilligem Respekt. »Der schlaue Mistkerl. Wahrscheinlich glaubte er, seine Landsleute damit vor uns Barbaren zu schützen. Stattdessen blieb ihnen dadurch die Liebe der Dunkelklinge verwehrt, und ich muss mich mit diesem Haufen hier begnügen.« Er deutete auf die Gefangenen. »Feiglinge, die zu verweichlicht sind, um im Kampf zu sterben. Ich hatte auf mehr gehofft, aber es ist immerhin ein Anfang. Komm«, sagte er und ging zur Treppe. »Es wird Zeit, dass du deine Armee in Augenschein nimmst, General.«
Die Gefangenen regten sich, als wir uns ihnen über den Hof näherten. Die grimmige Teilnahmslosigkeit von Besiegten, die auf den Tod warten, wandelte sich beim Anblick der Dunkelklinge in Beunruhigung. Ein unbehagliches Murmeln ging durch die bunt gemischten Reihen, aus Furcht vor den Stahlhast blieben sie jedoch sitzen. Ihre Unruhe schlug in Verwirrung um, als sie mein Gesicht sahen. Einige stießen alarmierte Schreie aus, während andere, vermutlich die Veteranen unter ihnen, sofort aufsprangen und Haltung annahmen.
»Halt!«, rief Kehlbrand den Stahlhast zu, die mit ihren Säbeln auf die stehenden Männer losgehen wollten. »Ein guter Soldat zollt seinem General Respekt.«
Die Gruppe der Gefangenen nahm das eindeutig als Zeichen aufzustehen; ehemalige Feldwebel und Korporale zischten Befehle und brachten die Männer in einigermaßen ordentliche Reihen. Auch wenn sie Habachtstellung eingenommen hatten, waren alle Augen auf mein Gesicht gerichtet. Manche konnten ein argwöhnisches Stirnrunzeln nicht unterdrücken, andere starrten mich in der verzweifelten Hoffnung an, meine Gegenwart hier könnte ihre Rettung bedeuten. Während ich die Gesichter betrachtete, verspürte ich ein seltsames Wiedererkennen, bei manchen kamen mir sogar die Namen in den Sinn. Ich kenne diese Männer. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um die Verwirrung loszuwerden. Nein. Er kannte diese Männer.
»Hast du deinen Soldaten nichts zu sagen?«, fragte Kehlbrand sanft, aber auffordernd.
Ich richtete mich auf und räusperte mich. Chu-Shin beherrschte ich nur rudimentär und erwartete deshalb, dass mir die Worte stockend über die Lippen kommen und mit den weichen Vokalen der Steppe akzentuiert sein würden. Stattdessen sprach ich fließend und ohne zu zögern, und niemand im Publikum schien den geringsten Zweifel daran zu haben, dass der Mann zu ihnen sprach, dem dieses Gesicht einmal gehört hatte.
»Ihr kennt mich«, sagte ich zu ihnen. »Ihr habt voller Loyalität und Vertrauen mit mir gemeinsam gekämpft. Mutig und tapfer habt ihr unter meinem Banner gedient, selbst an den schlimmsten Tagen, und euer Dienst ehrt mich. Heute bitte ich euch erneut um euer Vertrauen. Es wird Zeit, dass ihr die Wahrheit erfahrt, über die schändliche Art, wie wir verraten wurden. Wir haben für diese Stadt gekämpft, haben tagelang unser Blut vergossen und die Brüder an unserer Seite sterben sehen, weil uns der Kaufmannskönig Rettung versprach. Aber diese Rettung kam nicht. Jetzt weiß ich, dass damit gar nicht zu rechnen war. Der Kaufmannskönig hat nie Verstärkung losgeschickt. Wir wurden im Stich gelassen, damit er weiter in seinem Palast sitzen und seinen Reichtum genießen kann. So war es schon immer; der Wohlstand der Kaufmannskönige wurde stets mit dem Blut ihrer Soldaten erkauft.«
Die meisten starrten mich weiter in verwirrter Faszination an, manche runzelten jedoch wütend oder angewidert die Stirn. War ihr Anführer jetzt zum Überläufer geworden?
»Wisset, dass meine Worte wahr sind, denn die Dunkelklinge spricht nichts als die Wahrheit.« Mit steifem Arm deutete ich auf Kehlbrand, der jetzt gekonnt Wut und Bedauern mimte – das Abbild eines Mannes, der vom Leid eines Freundes hörte. »Er sprach zu mir, und ich erfuhr, wie wahr seine Worte sind und wie groß seine Barmherzigkeit. Er verspricht, uns am Leben zu lassen und uns von den Fesseln des Kaufmannskönigs zu befreien. Wir werden nicht länger die Sklaven der Gier eines alten Mannes sein. Unsere Frauen und Kinder werden nicht mehr in Knechtschaft leben. Das Ehrwürdige Königreich ist nichts als ein krankes Ungeheuer, das getötet werden muss. Ich, Sho Tsai, einst euer General, einst ein Narr, der sich vor einem unwürdigen Geizhals verneigte, stelle mein Schwert in den Dienst der Dunkelklinge.« Ich schwenkte den Arm zu den Soldaten herum und streckte einladend die Hand aus. »Schließt euch mir an. Zusammen werden wir die Korruption und den Schmutz der Kaufmannskönige fortkehren. Schließt euch mir an!«
Ein wütendes Murmeln lief durch die Reihen der Männer, und sie tauschten verzweifelte und verwunderte Blicke aus. Sho Tsai, der Kommandant der Roten Späher und Verteidiger von Keshin-Kho, der treueste Diener, den es am Hof des Kaufmannskönigs Lian Sha je gab, rief zum Verrat auf. Das Murmeln wurde lauter, die Worte »verrückt« und »Treubruch« waren deutlich zu vernehmen. Die ordentlichen Reihen lösten sich auf, Schreie ertönten, und einige Männer nahmen, trotz ihrer prekären Lage, Kampfhaltung ein. Ich rechnete fest damit, dass sie gleich in einem Pfeilhagel oder durch Säbelhiebe sterben würden, da sie in den Worten ihres Generals nur die Lügen eines Verräters gehört hatten.
Dann trat Kehlbrand vor.
Als er die Arme ausbreitete, verstummten die Gefangenen sofort. Die wütenden Gesichter wurden zu den ausdruckslosen Masken eines faszinierten Publikums. Ich spürte etwas, während er in die Menge hineinging, die sich vor ihm teilte – einen Machtimpuls, den ich als Einziger wahrzunehmen vermochte. Ich hatte schon länger gewusst, dass Kehlbrand durch die Berührung des Steins eine machtvolle Gabe gewonnen hatte, aber jetzt wurde mir klar, dass es mehr als eine war. Während er zwischen den Männern umherging, redete er auf sie ein, wobei sein Gesicht und seine Stimme von einer sanften, aber gebieterischen Aufrichtigkeit erfüllt waren. »Hört auf die Worte eures Generals«, sagte er und ging mit gefalteten Händen durch die Menge. »Hört, wie wahr sie sind.« Aber ich konnte sehen, dass es nicht seine Worte waren, die die Männer in seinen Bann zogen, sondern er selbst; seine bloße Gegenwart ließ Veteranen und unreife Grünschnäbel gleichermaßen auf die Knie sinken und ihn mit feuchten Augen bewundernd anstarren. Aber nicht alle – manche blieben stehen, ein paar Dutzend, die in offensichtlicher Abscheu vor ihm zurückwichen. An der geübten Schnelligkeit, mit der die Stahlhast-Wachen die wenigen Nichtbekehrten wegzerrten, ohne dass es ihren knienden Kameraden etwas ausmachte, erkannte ich, dass sich eine derartige Szene schon öfter abgespielt hatte. So hatte Kehlbrand seine Armee aus Erlösten rekrutiert. So demonstrierte die Dunkelklinge seine Überlegenheit gegenüber allen anderen Göttern.