Das Meer ist unser erstaunlichstes und geheimnisvollstes Ökosystem. Es waren mehr Menschen im Weltall als am tiefsten Grund des Ozeans. Doch hinter den Fragen, ob es Insekten im Meer gibt, wie eine Tiefseewolke aussieht und warum Haie im Dunkeln leuchten, verbergen sich nicht nur neueste Erkenntnisse über unsere Umwelt, sie erzählen uns auch etwas über uns Menschen.

 

Julia Schnetzer

 

Wenn Haie leuchten

 

Eine Reise in die geheimnisvolle Welt der Meeresforschung

 

 

Hanserblau

 

 

Für meine Eltern

 

 

Inhalt

 

Vorwort

Aqua Incognita: Ein Meer voller Rätsel

Wenn Haie leuchten

Uralte Geschöpfe

Die Sprache der Delfine

Das verlorene Plastik

Haie im Café

Tiefseewolken

Sechsbeinige Wassertänzer

Wie Fische die Welt sehen

Das Meer geht viral

Nachwort: Was da draußen noch so schlummert

Quellen

Über die Autorin

 

 

 

Vorwort

 

Das Jahr 2003 war ein Schicksalsjahr für mich, denn ich habe mich verliebt. Meine Eltern erfüllten mir zu meinem 18. Geburtstag einen Herzenswunsch: eine Reise in die Südsee. Schon seit meiner Kindheit war ich fasziniert von den Bildern und Dokumentationen von weißen, palmengesäumten Stränden, dem türkisblauen Wasser und der bunten, geheimnisvollen Unterwasserwelt. Vielleicht, weil ich jedes Wochenende meiner Kindheit auf Berge gezerrt wurde, sehnte ich mich nach dem kompletten Gegenteil.

In den Sommerferien war es dann so weit. Zusammen mit einer Gruppe junger Menschen aus ganz Deutschland reiste ich zu den Fidschi-Inseln, auf eine kleine abgeschiedene Insel, ohne Strom, ohne fließend Wasser, gebadet wurde im Meer. Wir lebten bei einer Gastfamilie in deren Holzhütte am Strand und durften an ihrem Alltag teilnehmen. Jeden Tag gab es Neues zu entdecken, und am liebsten watete ich bei Ebbe durch das Korallenriff vor unserer Haustür, um endlich die faszinierenden Tiere, die ich nur aus dem Fernsehen kannte, wahrhaftig mit eigenen Augen zu sehen.

Unser Gastvater Bai, der für mich bis heute die Personifikation von Ruhe und Gelassenheit darstellt, erfüllte mir meinen Kindheitswunsch und nahm mich mit zum Tauchen. So kam es, dass ich das erste Mal mit Sauerstoffflasche unter Wasser war – in einem der schönsten Riffe der Welt. Ich schwebte schwerelos an Riffwänden entlang. Farbenfrohe Fische huschten um mich her, Schwärme riesiger Barrakudas zogen vorbei, Schildkröten paddelten in gemütlicher Schildkrötenmanier unbeeindruckt von meiner Anwesenheit herum, und ein Riffhai zeigte sich mir in all seiner Eleganz, als er direkt auf mich zuschwamm, so nah, dass ich ihn hätte berühren können. Ich wollte nie wieder auftauchen! Ich hatte endgültig mein Herz verloren an diese wunderschöne und so andersartige Welt. An diesem Tag beschloss ich, Meeresbiologie zu studieren.

Fast 20 Jahre später hat sich nichts geändert, und ich bin genauso verliebt. Mittlerweile haben sich für mich zwar viele der Geheimnisse des Meeres gelüftet, aber da ist immer noch so viel, das ich oder auch wir alle nicht wissen. Ein paar dieser Geheimnisse möchte ich in diesem Buch gemeinsam mit euch auf den Grund gehen. Denn Liebe ist ja bekanntlich am schönsten, wenn man sie teilt.

 

 

Aqua Incognita: Ein Meer voller Rätsel

 

Meeresbiologie ist definitiv das sexy Fach unter den Naturwissenschaften. Vielleicht sogar unter all den Wissenschaften. Wenn man MeeresbiologInnen googelt, sieht man Bilder von TaucherInnen unter Wasser, Menschen mit Neoprenanzug und Tauchermaske am Strand oder auf einem Boot. Bunte Bilder von Korallen, Schildkröten und Haien. Vereinzelt findet man auch mal ein Bild von jemandem im Labor, aber da darf das Aquarium im Hintergrund natürlich nicht fehlen. Traumberuf MeeresbiologIn. Sind die Bilder echt? Ja. Sieht die Arbeit immer so aus? Eher weniger.

Natürlich gibt es die Glücklichen, die sich tagtäglich in die Wunderwelt des Ozeans schmeißen können. Für viele MeeresbiologInnen sieht der Alltag allerdings anders aus. Meist besteht die hauptsächliche Arbeit aus Labor und Schreibtisch. Einmal im Jahr gibt es vielleicht eine Ausfahrt mit dem Schiff oder eine Expedition an die Küste, um Proben und Daten zu sammeln. Wenn man Glück hat, geht es dabei zu paradiesischen Stränden oder in die wilde Arktis. Manche verbringen gar mehrere Monate auf einem Schiff im ewigen Eis. Dort ist aber nicht Urlaub angesagt, sondern anpacken, und ein Tag kann schnell mal 20 Arbeitsstunden haben. Wenn man sich nach vier Stunden Schlaf wieder in einen immer noch nassen Neoprenanzug zwängt, sehnt man sich manchmal doch nach der gemütlichen Couch zu Hause. Ein andermal findet man sich im bitterkalten Februar im Watt wieder und wühlt mit halb erfrorenen Fingern im Schlamm herum. In aller Frühe Köder vorzubereiten und dafür Makrelen mit den Händen zu zermatschen, ist nicht unbedingt was für jeden Magen. Seekrankheit ist natürlich der Endgegner, dem sich alle MeereswissenschaftlerInnen im Leben stellen müssen, und wer denkt, er sei hart im Nehmen, der sollte mal versuchen, auf einem schaukelnden Schiff stundenlang durch ein Mikroskop zu gucken. Aber das ganze Leid ist schnell wieder vergessen, wenn eine Gruppe Wale die Fluke zum Gruß aus dem Wasser streckt und ihre Blaswolken im Morgenlicht glitzern.

Die Action kommt in diesem Beruf auch nicht zu kurz: Hechtsprünge auf Haie, die größer sind als man selbst, Schwanzflossenhiebe, die einen Sterne sehen lassen, beim Probennehmen in Feuerkorallen fassen und durch beängstigende Wellen schwimmen, um Equipment zu retten, sind nur ein paar der Abenteuer, die man erlebt. Von Seeigelstacheln fange ich lieber erst gar nicht an zu erzählen. Alles für die Daten! Hat man die gesammelt, folgt meist wochenlanges Eintippen in den Computer, das Brüten über statistischen Auswertungen oder Experimente im Labor, die einfach nicht so funktionieren, wie sie sollten. Und dann kommt der Horror: Man muss das Ganze irgendwie in einem wissenschaftlichen Artikel zusammenfassen. Rückenschmerzen dank Schreibtischarbeit ist auch bei WissenschaftlerInnen eine weitverbreitete Diagnose.

Das Leben von MeeresbiologInnen ist also nicht nur Sommer, Sonne, Strand, es kann ein harter Job sein. Aber ich glaube, so wie ich macht auch jeder andere, der diesen Beruf gewählt hat, jede dieser, teilweise absurden, Tätigkeiten mit Leidenschaft, Spaß und Hingabe. Und es lohnt sich, nicht nur für die Wissenschaft, sondern für uns alle, denn ohne die Hingabe dieser Menschen hätten wir keinen Schimmer davon, wie wichtig und unabdingbar unsere Ozeane auch für unser Leben auf dem Land sind. Die Oberfläche unseres blauen Planeten, der ja paradoxerweise »Erde« genannt wird, besteht zu mehr als 70 Prozent aus Wasser, und der überwiegende Teil dieses Wassers befindet sich in den Ozeanen. Diese verteilen sich nicht nur auf fast zwei Drittel der Erdoberfläche, sondern sind auch noch, mit im Durchschnitt 4000 Metern, extrem tief. Damit machen sie 99 Prozent des Lebensraums unserer Erde aus und bilden ihr größtes Ökosystem. Und das besteht wiederum aus vielen verschiedenen Lebensräumen. Tiefsee, offene See, Meeresboden, Küsten, flaches Wasser, klares Wasser, warmes Wasser, kaltes Wasser – jede dieser Eigenheiten des Ozeans bildet ein für sich stehendes Ökosystem, auf das sich verschiedenartigste Lebewesen wie Bakterien, Viren, Algen, Pflanzen, Fische, Vögel, Reptilien oder Säugetiere angepasst haben. All diese einzelnen Ökosysteme sind durch Strömungen miteinander verbunden. Schon die alten Griechen wussten das. Die Bezeichnung »Ozean« stammt vom altgriechischen Wort ¯okeanós und bedeutet so viel wie »der das Land umschließende Weltstrom«. Auch wir sind mit dem Meer verbunden, selbst wenn wir uns Hunderte Kilometer weit von ihm entfernt aufhalten. Das Meer, oder besser gesagt die Algen und Bakterien, die in ihm leben, sind die Hauptquelle des für uns lebensnotwendigen Sauerstoffs. Indem das Meer Wärme vom Äquator zu den Polen transportiert, reguliert es unser Wetter und Klima. Ohne den Golfstrom würden wir uns hier in Europa salopp gesagt den Arsch abfrieren. Das Meer ist der wichtigste und größte Kohlenstoffdioxidspeicher auf unserem Planeten. Auch wirtschaftlich gesehen, ist es enorm wichtig, denn es fungiert als Handelsstraße, versorgt Millionen von Menschen mit Nahrung und schafft Millionen von Jobs in vielen verschiedenen Branchen. Es gibt Schätzungen, die besagen, dass der Ozean für drei Milliarden Menschen die Lebensgrundlage bildet. Trotzdem behandeln wir ihn manchmal etwas stiefmütterlich. Denn obwohl wir es mittlerweile geschafft haben, bis zum Mars zu fliegen, wissen wir nicht mal genau, wie der Meeresgrund vor unserer eigenen Haustür aussieht. Aber wie soll man denn eigentlich wissen, wie viel man weiß, wenn man gar nicht weiß, was man alles nicht weiß?

Man hört oft den Satz, dass wir nur ungefähr fünf Prozent des Meeres erforscht haben. Diese Zahl bezieht sich eigentlich auf den Meeresboden, wird aber oft auf die gesamte Meeresforschung angewendet. Es ist zwar so, dass schon annährend der gesamte Meeresboden vermessen wurde – das nennt man übrigens Bathymetrie –, allerdings nur in einer Auflösung von ungefähr fünf Kilometern. Das kann man sich vorstellen wie bei alten Computerspielen mit detailarmer Grafik. Denn Strukturen, die kleiner sind als ein Pixel, konnten damals nicht dargestellt werden. Deswegen hatte Pac-Man nur einen schwarzen Punkt als Auge, mehr Detail ging nicht. Bei Satellitenmessungen haben die »Pixel« eben eine Seitenlänge von fünf Kilometern. Alle Strukturen, die kleiner sind, können nicht gemessen werden. Dadurch werden bei diesen Messungen nur große Unterwasserberge, -schluchten und -täler sichtbar, alles andere bleibt verborgen. Im Vergleich dazu: Der komplette Mars ist mit einer Auflösung von sechs Metern vermessen, aber eben nur ungefähr fünf Prozent des Meeresbodens ist in solch einer hohen Auflösung kartiert. Die Gründe dafür sind zum einen, dass einfach mehr Geld in Weltraumforschung gesteckt wurde als in Meeresforschung. Zum anderen ist die Vermessung des Meeresbodens schwieriger, weil das Wasser im Weg ist. Mit Satelliten können wir zwar die Wasseroberfläche, ihre Temperatur und anhand ihrer Farben sogar den Algengehalt bestimmen, viel weiter können wir aber leider nicht gucken, da elektromagnetische Strahlung wie Licht nicht tief in Wasser eindringen kann. Für die grobe Vermessung des Meeresbodens mithilfe von Satelliten werden per Radar die Höhenunterschiede der Wasseroberfläche gemessen. Bergketten, die unter Wasser liegen, haben eine höhere Erdmassendichte und damit eine gesteigerte Erdanziehungskraft. Dadurch sammelt sich über den Bergketten das Wasser, und der Meeresspiegel steigt. Über Unterwassertälern senkt er sich. Von diesen Dellen in der Wasseroberfläche kann also auf die Oberflächenstruktur des Meeresbodens geschlossen werden. Wer jetzt etwas verwundert ist: Der Meeresspiegel ist nicht überall gleich hoch, und das Meer ist übersät mit kleinen Dellen, die man nicht bemerkt, wenn man mit einem Boot darüberfährt.

Um eine hochauflösende Vermessung des Meeresbodens zu erhalten, wird mit einem sogenannten Fächerecholot gearbeitet. Er sendet fächerförmig Schallwellen von einem Schiff aus, die der Meeresboden reflektiert, und anhand der Rückkehrzeit dieser Echos kann die Wassertiefe bestimmt werden. Damit erreicht man Auflösungen von ungefähr 50 Metern. Autonome Tauchroboter, die näher am Boden arbeiten, haben sogar Auflösungen im Zentimeterbereich. Solche Tauchdrohnen wurden 2014 bei der Suche nach der verschollenen Boeing 777 des Malaysia-Airlines-Flug MH370 im Indischen Ozean eingesetzt. Die Suche blieb zwar erfolglos, stattdessen wurden unbekannte erloschene Tiefseevulkane, Bergrücken und Unterwassergräben entdeckt. Die Tragödie des Flugzeugabsturzes zeigte der Öffentlichkeit auch die Lücken der Meeresforschung auf.

Eine hochauflösende Karte des Meeresbodens ist nämlich durchaus wichtig, um unseren Planeten, seine Geschichte als auch seine Zukunft zu verstehen und vorhersehen zu können. Die Formen des Meeresbodens erzählen uns von Bewegungen in der Plattentektonik und verraten, wo Vulkanismus, Hydrothermalquellen und anderen Lebensräume der Tiefsee versteckt sind. Das sind alles wichtige Informationen, wenn es darum geht, Erdbeben- und Tsunamigefahren zu bestimmen, Rohstoffvorkommen abzuschätzen und Schutzzonen zu errichten. Auch helfen sie, die generellen Eigenschaften des Ozeans besser zu verstehen, wie Strömungsverläufe, Ozeanzirkulation, Wetterphänomene, Sedimenttransport und Klimawandel. Daher hat sich das Projekt Seabed 2030 zum Ziel gesetzt, bis 2030 die komplette Oberflächenstruktur des Meeresbodens zu vermessen. Da es mehrere Hundert Jahre dauern würde, mit einem Schiff den gesamten Meeresboden zu vermessen, nutzt das Projekt die Crowdsourcing-Strategie – je mehr mitmachen, desto schneller geht es. Momentan hat Seabed 2030 weltweit 133 PartnerInnen und Mitwirkende. Im Juni 2020 wurde vermeldet, dass Seabed 2030 mittlerweile 14,5 Millionen Quadratkilometer, das entspricht ungefähr 20 Prozent der Fläche des gesamten Meeresbodens, auf modernstem Niveau kartiert hat. Die mythischen fünf Prozent sind also Geschichte. Die Chancen stehen gut, dass wir bis 2030 eine hochauflösende, frei verfügbare 3D-Karte des Meeresbodens haben.

Aber auch die Meeresoberfläche birgt noch Überraschungen. Früher brachen SeefahrerInnen auf, um neues Land oder Inseln zu kartieren. Heutzutage tragen SeefahrerInnen dazu bei, diese wieder von der Weltkarte zu streichen. Tatsächlich gibt es immer noch sogenannte Phantominseln – Inseln, die zwar auf Karten existieren, aber nicht in der Realität. Diese sind in den Zeiten der Seefahrt entstanden, als es noch nicht möglich war, den eigenen Standort mittels GPS genau zu bestimmen. Da haben sich Seeleute durchaus mal in ihrem Standort vertan, und so wurden schnell aus eigentlich schon kartierten Inseln Neuland, das man dann an falschen Positionen in den Seekarten eingetragen hat. Manchmal wurden Inseln aus Gier nach Ruhm einfach erfunden, aber auch tief hängende Wolken und Halluzinationen scheinen ab und zu vermeintliche Küsten an den Horizont gezaubert zu haben. Natürlich kann es aber durchaus auch mal passieren, dass real existierende Inseln vom Meer verschluckt werden und untergehen. Auf Karten aus dem 19. Jahrhundert sind noch um die 200 dieser Phantominseln eingetragen, und selbst bis ins 21. Jahrhundert haben sich einige hartnackig gehalten. 2012 sollte vor einem Forschungsschiff, das zwischen Australien und Neukaledonien unterwegs war, die Insel Sandy Island auftauchen. Stattdessen beobachteten die Forscher amüsiert auf dem Monitor, wie ihr Schiff die Pixel auf Google Maps, die als Sandy Island markiert waren, durchkreuzte. Tatsächlich waren sie nur von tiefem Wasser umgeben. Daraus lässt sich schließen, dass es diese Insel, die Captain Cook auf seiner zweiten Weltreise (1772 bis 1775) entdeckt hatte, wahrscheinlich nie gegeben hat. Auch die Insel Bermeja im Golf von Mexico wurde nach einer intensiven Suche 2009 als nicht existent deklariert.

Nicht nur geografisch gibt es noch einiges im Meer zu entdecken. Auch die Flora und Fauna ist noch reichlich unbekannt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Riesenmaulhai (Megachasma pelagios). Der wurde, trotz seiner Größe von bis zu sieben Meter Länge, erst 1976 entdeckt. Der Name ist Programm: Mit seinem riesigen Maul filtert er, wie der Riesen- und der Walhai, Kleinstlebwesen aus dem Wasser, aber statt Plankton ist Krill seine Leibspeise. Viel mehr als das wissen wir bis heute nicht über diese Haiart, da man ihr sehr selten begegnet. Von 1976 bis 2018 gab es nur 117 Sichtungen, das sind nicht einmal drei pro Jahr. Sie scheinen sich gerne in tropischen und gemäßigten Gewässern aufzuhalten, die besten Chancen, einen Riesenmaulhai zu treffen, habt ihr wahrscheinlich im Pazifik bei Japan, den Philippinen und Taiwan. Keine Sorge, sie beißen nicht!

 

 

Der Riesenmaulhai, der bis zu sieben Meter lang werden kann, hält sich tagsüber in tieferen Gewässern auf und kommt nur nachts an die Oberfläche. Das könnte ein Grund dafür sein, dass er so selten gesichtet wird.

 

Richtig bekannt wurde der Riesenkalmar (Architeuthis dux) durch Jules Vernes Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. Dass er existiert und nicht nur einem Seemannsgarn entsprungen ist, wussten wir schon seit einiger Zeit durch tote Exemplare, die an die Küste gespült wurden oder in Schleppnetze geraten sind. Aber in den Genuss, einen lebenden Riesenkalmar in seiner natürlichen Umgebung in der Tiefsee zu sehen, kamen wir erst 2012. Vor den japanischen Ogasawara-Inseln war es in 700 Meter Tiefe endlich geglückt, das langarmige Tier vor eine Kamera zu bekommen. Die atemberaubenden Aufnahmen zeigen einen um die vier Meter langen Riesenkalmar, dessen Haut im Schein der Lampe majestätisch silber- und rotgoldfarben glänzt. Diese Aufnahmen waren nur dank dem ausgeklügelten Kamerasystem Medusa möglich, welches an einem Seil in die Tiefe hinabgelassen wird. Es nutzt also keine Motoren zur Fortbewegung und produziert somit keinerlei Geräusche, welche die Tiere stören könnten. Anstatt weißem Licht, das normalerweise für die Scheinwerfer von Tiefseebooten benutzt wird, wurde hier rotes Licht eingesetzt, das für die meisten Tiefseelebewesen nicht sichtbar ist und sie deshalb nicht verscheucht. Als Köder diente eine sogenannte elektrische Qualle. Das sind kleine, im Kreis angeordnete LED-Lichter, die immer wieder nacheinander aufleuchten und so einen Lichtkreis kreieren, der den Abwehrmechanismus von Tiefseequallen imitiert. Die Quallen leuchten auf, wenn sie angegriffen werden, um größere Jäger wie beispielsweise den Riesenkalmar anzulocken. So werden die Quallen-Jäger selbst zu Gejagten. Mit dieser Strategie hatte ein anderes Team auch 2019 Erfolg, dem im Golf von Mexiko ein weiterer dieser Giganten vor die Kameralinse schwamm, als er versuchte, die vermeintliche Qualle und ihr Kameraanhängsel mit seinen Tentakeln zu erkunden.

 

 

Riesenkalmare sind weltweit verbreitet und leben wahrscheinlich in Tiefen zwischen 500 und 1000 Metern. Ihre durchschnittliche Größe liegt bei fünf Metern Länge, gemessen vom Kopf bis zum längsten Tentakel. Berichte über Längen von bis zu zwölf Metern liegen an den dehnfähigen Tentakeln: Werden diese für die Messung gestreckt und gezogen, ist das Tier schnell doppelt so lang.

 

Auch heute noch tummeln sich viele unbekannte Arten in den Tiefen des Ozeans. Schätzungen zufolge gibt es im Meer etwa eine Million verschiedene Tier- und Pflanzenarten, und etwa zwei Drittel davon warten noch darauf, von uns entdeckt zu werden. Das Projekt Census of Marine Life (Volkszählung der Meereslebewesen) hatte sich in einem Zehnjahreszeitraum von 2000 bis 2010 zum Ziel gesetzt, eine Übersicht über die Diversität, also die Vielfalt der Arten, ihre Verteilung und die Häufigkeit ihres Vorkommens im Ozean zu schaffen. Der Aufwand war enorm: 27.000 WissenschaftlerInnen aus mehr als 80 verschiedenen Ländern waren involviert. Neben unzähligen Stunden Arbeit entlang an Stränden und Küsten wurden 540 Expeditionen mit Schiffen durchgeführt. Dieses Engagement hat sich auf jeden Fall gelohnt, es wurden 1200 neue Arten beschrieben und 5000 weitere potenzielle neue Arten entdeckt. Es zeigte sich, dass ein Liter Meerwasser schon so vielfältig sein kann, dass sich in ihm bis zu 38.000 verschiedene Bakterienarten finden lassen. Auch besondere Überraschungen gab es, wie das Auftauchen einer Art von hummerartigen Zehnfußkrebsen Neoglyphea neocaledonica, von der zuvor angenommen wurde, sie sei seit 50 Millionen Jahren ausgestorben. Der Zensus zeigte mit seinen massenhaften Entdeckungen an neuen Arten und Lebensräumen, wie wenig wir immer noch über die Ozeane wissen. Aber mit Ende des Projekts ist die Volkszählung noch lange nicht vorüber, auch heute noch werden jedes Jahr weitere neue marine Arten beschrieben. Bei einer Tiefseeexpedition im April 2020 wurden 30 neue Arten entdeckt und dazu noch ein Rekord gebrochen: Der Blauwal wurde von seinem Thron als längstes Tier gestoßen, und zwar von einer 46 Meter langen neuen Art der Perlenketten-Quallen (Apolemia, s. Illustration). Zugegeben, das ist nicht ganz fair dem Blauwal gegenüber, denn die Qualle gehört zu den freischwimmenden Siphonophorae und ist kein richtiges Individuum, sondern eine Kolonie, die sich aus Tausenden einzelnen Klonen zusammensetzt, aber, genauso wie Korallenkolonien, als eine Einheit funktioniert. Die Klone hängen wie an einer Perlenkette aufgefädelt aneinander und bilden so eine lange Schnur, die im Wasser schwebt und darauf wartet, dass ihr Beute in die Tentakel schwimmt.

 

 

 

Wir sind also noch lange nicht am Ende mit dem Entdecken. Und die Forschung, besonders in den Tiefen des Ozeans, ist immer noch eine ziemliche Herausforderung. Wasser ist für uns als Geschöpfe des Landes ein fremdes Element. Wir können unter Wasser nicht atmen, deswegen können wir selbst mit modernster Technik nur für kurze Zeit selbst in diese Welt eintauchen. Licht dringt nur in die obersten 200 Meter der Wassersäule ein, darunter herrscht Finsternis. Mit jedem Meter Tiefe steigt der Druck um 0,1 bar, am tiefsten Punkt des Ozeans, im Marianengraben, der ungefähr 11.000 Meter tief ist, sind wir bei einem Druck von 1100 bar angelangt. Das ist vergleichbar mit dem Druck, den zwei ausgewachsene Elefanten verursachen würden, wenn sie zusammen auf deinem kleinen Zeh stehen. Ohne hochtechnische Ausrüstung macht einen die Tiefsee also sprichwörtlich platt. Stürme und riesige Wellen lassen auch für große Schiffe die Fahrten auf offener See zum reinsten Abenteuer werden. All diese Gegebenheiten machen die Forschung aufwendig und teuer. Dennoch passiert viel in den Meereswissenschaften. In den folgenden Kapiteln möchte ich euch zeigen, wie faszinierend und vielfältig nicht nur das Leben im Meer, sondern auch die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, sein kann, wie diese auf den ersten Blick vielleicht etwas abwegigen Geschichten Bezug zu unserem alltäglichen Leben haben und wie viel – und wie wenig – wir eigentlich über dieses uns so fremde Ökosystem wissen. Hiermit möchte ich euch einladen auf eine Expedition durch unsere sieben Weltmeere und zu einigen der vielen Geheimnisse, die immer noch in ihnen schlummern.